Donnerstag, 5. Dezember 2019

Sucht nach uns


Am Anfang war das Missverständnis.
Man muss das Wort mit einem langen U lesen, nicht mit einem kurzen. Es geht um die Suche, nicht um die Sucht.
Aber dann habe ich nachgedacht. Vielleicht war mein erster Eindruck ja richtig? Wir sind süchtig nach uns selbst. Wir drehen uns liebend gerne den ganzen Tag um unser Ego. Und für den Deutschen ist das Gedenken an den industrialisierten Massenmord im Zweiten Weltkrieg, für den sich der Begriff Holocaust eingebürgert hat, Teil dieser Selbstbeschäftigung. Für die permanente Aufarbeitung der Nazi-Zeit von 1933 bis 1945 sind wir inzwischen weltberühmt. Niemand gedenkt der Opfer gründlicher als der Deutsche. Da lassen wir uns von niemandem übertreffen.
Jetzt hat das „Zentrum für politische Schönheit“ ein Mahnmal für die ermordeten Juden im Berliner Regierungsviertel errichtet. Eine hochpolitische Aktion. Wenige hundert Meter vom riesigen Holocaust-Mahnmal entfernt. Möglicherweise mit der Asche der Toten. Das lassen die Aktionäre des Zentrums offen. Die offiziellen Vertreter der jüdischen Community sind dagegen, die Reaktion der Presse ist zwiespältig. Rein juristisch könnte es sich um Störung der Totenruhe handeln. Ein Dilemma. Jeder Deutsche, der nicht zur jüdischen Gemeinde gehört, begibt sich auf dünnes Eis, wenn er sich zum Thema äußert. Es ist wie mit Israel. Man hält besser die Klappe.
Aber es ist eine Sucht geworden, dieses Minenfeld zu betreten. Hitler ist immer noch der bekannteste deutsche Politiker, er taucht täglich in den Medien auf. Davon können selbst aktuelle Bundesminister nur träumen. Längst ist das Gedenken ins Streberhafte abgeglitten. Wer berichtet über die Juden, die Nachkommen der Opfer, wenn sie ihrer Toten gedenken? Aber wenn die Nachkommen der Täter der Ermordeten gedenken, suhlt sich die deutsche Presse in pflichtschuldiger Berichterstattung. Nie wieder Auschwitz, heißt es dann. Und der Zeitungsleser berichtet seinem Arbeitskollegen stolz, er habe in der Vorwoche in einem jüdischen Restaurant koscher gegessen.
Wir haben den Juden längst den Holocaust abgenommen. Wir benutzen die Toten für die Tagespolitik. Auch das gehört zur Sucht nach uns. Nach uns Deutschen. Wir instrumentalisieren die Opfer im Kampf gegen die neuen Täter. Wir halten den neuen Faschisten von der AfD, der NPD, der Identitären Bewegung und Pegida, von den Nazi-Bruderschaften wie Blood and Honour und wie sie alle heißen, die Taten der alten Faschisten vor. Dafür brauchen wir eure Toten, liebe Juden. Wir können uns nicht anders helfen. Mit eurer Asche düngen wir unseren Antifaschismus. Wir schreiben die Namen eurer Toten auf „Stolpersteine“, über die wir auf dem Bürgersteig gehen. Keine Angst, wir stolpern nicht. Wir wissen, was wir tun.

7 Kommentare:

  1. Das Ego loszulassen

    Das Ego loszulassen bedeutet alles so zu akzeptieren wie eine Rolle im Theater.
    Du entfaltest dich selbst innerhalb der Rolle, die dir zugewiesen ist.
    Du wirst einfach eins mit der Rolle, ohne Präferenzen und Illusionen.
    Der Abt ist eins mit dem Abt, der kleine Mönch eins mit dem kleinen Mönch.
    Das bedeutet vertraut mit sich selbst zu werden.

    Kodo Sawaki

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  2. Dann sollte man schreiben "sucht uns".
    Wäre verständlicher.
    Habe das nämlich auch nicht gleich geblickt.

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  3. Was ist eigentlich mit "Störung der Totenruhe" bei Von Hagens Leichenschau? Darf der, was nicht sein darf?

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  4. Es ist wie mit Geschenken, auch die haben immer ihren Preis.

    Wie man's macht, macht man's falsch.

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  5. Wann hat je die SU (RF) über die 24 Mill (24.00000)dieser Zeit so ein Gebrüll gemacht.Diese Frage stelle ich mir immer wieder!!!

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  6. Meinen Opa hat ne Treibmine zerrissen. Kurz nach dem Krieg, im Hafen auf seinem Fischerboot. Wo ist sein Denkmal, die Unterstützung durch irgendwelche Trittbrettfahrer und die Zahlungen an uns "Wirtschaftsflüchtlinge" in der dritten Generation weil Boot und Ernährer weg waren?

    Gott schuf die Welt und der Teufel die Religionen. Wem Kritik an Mord, Vertreibung und Landnahme seine religiösen Gefühle bestätigt das nur.

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  7. Ich bin der kleine Nikolaus (das Engelchen),
    steh leider nicht vor deinem Haus.
    Drum schick ich dir aus der Ferne
    eine Handvoll Zaubersterne. ♥

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