Samstag, 10. Juni 2017

Rebecca

„Alles, was man anfassen kann, ist nicht von Dauer.“ (Tiger & Dragon)
Vor einigen Wochen war ich auf der Jahreshauptversammlung der Eigentümer unseres Hauses. Sie findet traditionell in einem Landgasthof im Schwarzwald statt, weil die Mehrheit der Eigentümer aus Baden-Württemberg ist. Wir treffen uns zur Sitzung um 18 Uhr, arbeiten die Tagesordnung ab und sitzen dann beim Abendessen zusammen. Nach dem Essen machen wir jedes Mal, auf Anregung einer Psychoanalytikerin, die zwei Wohnungen im ersten Stock besitzt, ein Spiel. Wir sollen reihum erzählen, welche Person wir gerne aus der Eigentümergemeinschaft bzw. aus dem Haus entfernen möchten. Wer soll gehen, warum und vor allem wie? Zu vorgerückter Stunde und nach ein paar Gläsern badischem Wein neigen einige der Anwesenden zu drastischen Scherzen und empfehlen nicht nur Umzüge, sondern schildern tödliche Unfälle. Es ist natürlich alles nur ein Spaß.
Ich habe mir bei dieser Gelegenheit erlaubt, die Ermordung von Otto Laienbäcker zu beschreiben, der als Staatssekretär im Innenministerium arbeitet und mein Nachbar im dritten Stock ist. Er muss sterben, weil er aufgrund seiner Kontakte zu den Nachrichtendiensten zu viel weiß. Wir haben sehr gelacht, Herr Laienbäcker kennt meine Arbeit als Schriftsteller und meine Phantasie als Autor zahlreicher Kriminalromane und Kurzgeschichten.
Am nächsten Morgen fuhren wir alle wieder nach Hause. Die Berliner Fraktion, darunter auch der Staatssekretär und ich, fuhr in die Hauptstadt zurück. Am gleichen Tag habe ich meine mündliche Erzählung vom Vorabend notiert und kurz darauf in meinem Blog veröffentlicht.
Ich schicke diese kurze Erzählung vorweg, um die nachfolgende Szene zu erklären. Denn offensichtlich hatte mein alter Freund T. von diesem Ritual erfahren und meine Geschichte gelesen. Da er beruflich eine sehr delikate Position bekleidet, die äußerste Diskretion erfordert, war sein Anruf kurz und kryptisch.
„Rebecca“, sagte er nur und legte wieder auf.
Das Spiel kannte ich. Ich sah mir das Kinoprogramm an und tatsächlich lief am Abend im Moviemento in Kreuzberg der Hitchcock-Film von 1940 in der Spätvorstellung.
Mit der U7 fuhr ich bis zum Hermannplatz und lief an diesem milden Juniabend die letzten Meter bis zum Kino auf dem Kotti. Laut Eigenwerbung ist es das älteste Kino Deutschlands, die rüstige Dame sollte man also mit allen gebotenen Mitteln unterstützen. Ich kaufte zwei Beck’s.
Wie erwartet war das Kino fast leer. Ein Dreiergrüppchen saß in der Mitte, etwas abseits zwei monolithische Cineasten. Ich setzte mich in die letzte Reihe. So hatte ich alles im Blick und noch nicht einmal der Filmvorführer konnte mich sehen.
Das Licht ging aus, die Werbung begann. Gelangweilt leerte ich mein erstes Bier.
Als das Orchester die Eröffnungsmelodie schmetterte, kam T. In dem schwarzen AC/DC-Shirt und den zerrissenen Jeans hätte ich ihn fast nicht erkannt. In seiner Gehaltsstufe legt man hohen Wert auf Maßanzüge und italienische Lederschuhe.
Er setzte sich neben mich und wir nickten uns kurz zu.
„Guter Text“, flüsterte er und beugte sich leicht zu mir hinüber.
Das Weiß seiner Augen hatte die Farbe von altem Elfenbein und war mit winzigen roten Schlangen durchzogen.
„Über Otto?“ flüsterte ich zurück.
„Ja. Ich brauche einen Text über unseren Innenminister.“
„Mitten im Wahlkampf?“
„Das ist doch nur Schattenboxen für die nächste KroKo“, sagte er leise und kicherte.
„Inhalt, Länge und Ziel?“
„Zwei Seiten Nachruf. Großer Verlust, unvergessener Kämpfer für die Sicherheit und so weiter.“ Sein Flüstern war kaum hörbar, niemand drehte sich nach uns um.
„Aber er ist doch noch gar nicht gestorben.“
„Das ist unwichtig. Wir treffen uns übermorgen Abend wieder hier. Du schreibst per Hand. Keine Spuren, keine Dateien. Verstanden?“
„Okay.“
Dann sahen wir uns in Ruhe den Film an. T. verließ vor mir den Kinosaal, ich wartete das Ende des Abspanns ab.
Drei Tage später war der Minister tot. Angeblich Herzinfarkt. Mein Nachruf wurde am selben Tag veröffentlicht.
Kurz darauf fand ich einen unbeschrifteten weißen Umschlag mit zweitausend Euro in meinem Briefkasten.
Visage – Look What They’ve Done. https://www.youtube.com/watch?v=hFc-gDjZGmY

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