Sonntag, 15. Januar 2017

Wie Bonetti zu seiner Biographie kam

„Würden wir wissen, würden wir nicht schreiben (…), alles, was geschrieben wurde, wurde aus Unwissenheit geschrieben, aus der Qual des Unwissens, alle Bibliotheken der Welt sind die Summe des Unwissens der Menschheit, und je besser ein Buch ist, umso mehr ist es aus der Qual des Nichtwissens geschrieben worden, denn nur (…) die Idioten meinen, sie wüssten. Je heller ein Geist brennt, umso mehr verdunkelt sich um ihn die Welt.“ (Karlheinz Deschner: Die Nacht steht um mein Haus)
Kennen Sie Reinhard Aschenbrenner? Große Persönlichkeit, legendärer Verleger. Hat sein Handwerk beim alten Aschenbrenner gelernt und dem konnte man bekanntlich nichts vormachen.
Zu Beginn der folgenden Szene betritt der junge Bonetti, ein völlig unbekannter Lokalredakteur Anfang zwanzig, das gigantische, fußballfeldgroße Büro von Herrn Aschenbrenner. Ein Ventilator surrt, möglicherweise auch eine lästige Mücke am Fenster. Aschenbrenner scheint ihn gar nicht zu hören. Er ist über ein Manuskript vertieft, murmelt Flüche, streicht wild mit einem Rotstift auf einer Seite herum und schreibt Anmerkungen.
***
Vorsichtig, langsam einen Fuß vor den anderen setzend, näherte sich Bonetti dem mächtigen Mahagonibollwerk des Verlegers.
Aschenbrenner nahm ihn gar nicht war, eine Zigarre glomm in seinem Mundwinkel. Schließlich stand Bonetti vor ihm und wartete geduldig.
Nichts passierte.
Bonetti setzte sich auf den winzigen und harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch des Verlegers.
„Habe ich Ihnen erlaubt, sich zu setzen?“ donnerte die Stimme Aschenbrenners durch den Flugzeughangar von Büro.
Bonetti sprang – wie von der berühmten Tarantel gestochen, die wir aus zahlreichen Redewendungen der Gebrauchsliteratur kennen – vom Stuhl hoch. „Äh … nein … ich fürchte, Sie haben …“.
„Ruhe!“ brüllte der Verleger und las ungerührt weiter.
Nach einer Viertelstunde, die Bonetti wesentlich länger vorkam, legte Aschenbrenner das Manuskript zur Seite und sah den jungen Mann vor ihm verständnislos an.
„Wer hat Sie überhaupt hereingelassen und warum?“
„Ja, das war so … äh … ich habe gedacht …“
„Sie haben gedacht. Da haben wir ja schon mal die Fehlerquelle“, sagte Aschenbrenner und lachte dröhnend. „Sie sind Bonetti und haben bei mir eine Kurzgeschichte eingereicht.“
Bonetti lächelte schüchtern. „Das ist richtig. Haben Sie denn schon einmal reingeschaut?“
Der Verleger schob das Manuskript über den Tisch und nickte. „Ich habe schon beschissenere Sachen gelesen, wesentlich beschissenere. Sie liefern mir innerhalb von drei Monaten ein Romanmanuskript auf der Basis dieser Geschichte ab. Geben Sie den Figuren einen Hintergrund, geben Sie ihnen Tiefe, bauen Sie ein paar Nebenhandlungen ein. Wir haben uns verstanden?!“
„Sehr wohl, Herr Aschenbrenner.“ Bonetti nahm das Manuskript und wollte den weiten Weg zum Ausgang auf sich nehmen.
„Da wäre noch was“, brummte der Bass des Verlegers durch den Raum. „Um ein Buch verkaufen zu können, brauchen wir eine Biographie.“
„Na ja“, bekannte Bonetti, „ich bin noch sehr jung. Ich war auf der Schule und habe mir gerade meine erste eigene Wohnung genommen.“
„Das kriegen wir schon hin. Wo sind Sie geboren?“
„In Bad Nauheim. Das ist in Nordhessen.“
„Sie sind also auf einem Biobauernhof aufgewachsen und haben früh Ihre Liebe zur Natur erkannt“, konstatierte Aschenbrenner ungerührt.
„Eigentlich war mein Vater Finanzbeamter und meine Mutter Musiklehrerin.“
„Großartig. Also haben Sie eine musische Begabung, die schon in Ihrer Familie liegt.“
„Ich weiß nicht, Herr Aschenbrenner.“
Der Verleger machte sich bereits Notizen. „Haben Sie Bad Nauheim denn schon einmal verlassen?“
„Ich habe mit meinen Eltern früher immer Urlaub auf Mallorca gemacht. Und die Klassenfahrt mit der Oberstufe ging nach Lübeck.“
„Ausgezeichnet, Bonetti. Es gibt also einen starken Einfluss der iberischen Literatur und von Thomas Mann. Was haben wir noch?“
„Wenn Sie so fragen, Herr Aschenbrenner. Ich gehe gerne mit meinen Freunden ins Lokal ‚Waldfrieden‘ am Minigolfplatz.“
„Also haben Sie auch Autoren wie Charles Bukowski und Malcolm Lowry maßgeblich beeinflusst. Sie treiben außerdem regelmäßig Sport. Das reicht mir, den Rest erfinde ich dazu.“
Und so endete Bonettis erstes Gespräch mit seinem Verleger und haargenau so ist auch seine Biographie entstanden – oder der Blitz möge mich treffen.
The Allman Brothers Band – Pegasus. https://www.youtube.com/watch?v=gOKzSGa-u3Y
P.S.: Stellen Sie sich zu dieser Szene eine Fotografie von Andy Bonetti vor, auf der er nachdenklich und geheimnisvoll aus dem Fenster blickt. Für die Inspiration zu diesem Text bedanke ich mich bei Carlos Ruiz Zafón, Heinz Ohff und meinem treuen Leser Harri.

4 Kommentare:

  1. Karlheinz Deschner, hm........
    Habe natürlich keine Ahnung.
    Ein Blick in's Wiki zeigt erstaunliches. Noch 1945 Fallschirmjäger.
    Was war das für ein harter Hund ? Gar verzweifelt, Todessehnsucht ?
    Heutzutage macht man dann Basejump oder nimmt Cristal Meth, gut, das ham die so gekriegt, damals.
    Was ich sagen wollte, der Typ interessiert mich, welches Werk ist der beste Einstieg ?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. "Kitsch, Konvention und Kunst" - das ist das Einstiegswerk. Hat sich endlos verkauft und war noch in meiner Jugend Standardwerk für Literaturfans. Er rechnet mit Schnarchnasen wie Hesse ab und vergöttert die geilen Typen wie Kafka und Musil.

      Löschen