Donnerstag, 3. Juni 2010
Schreiend aufwachen
Ich weiß nicht, wann sie angefangen haben, auf mich zu schießen. Aber wahrscheinlich wird früher oder später auf jeden geschossen, der nicht ganz dem Durchschnitt entspricht. Ich muß aufgefallen sein, sie haben mich entdeckt, wahrscheinlich eine Weile beobachtet und dann, als ihnen etwas an mir mißfallen hat, haben sie angefangen, auf mich zu schießen. Bevor alles anfing, hatte ich Freunde. Ich würde gerne wissen, ob sie noch leben. Ob auch auf sie geschossen wird? Ich bin so allein. Aber wie könnte ich die Wohnung verlassen? Draußen warten sie, und wenn ich hinaus komme, werden sie wieder auf mich schießen. Ich weiß noch nicht einmal, wie sie aussehen. Nur ihre Kugeln schlagen hier und da ein. Sie schießen einfach, auch wenn sie mich gar nicht im Visier haben. Sie wissen ja, daß ich da bin. Wo sollte ich denn auch sonst hin? Auf allen Vieren krieche ich durch die Wohnung, immer unterhalb der zerschossenen Fenster. Als ich damals in die Wohnung eingezogen bin, habe ich noch über das winzige Badezimmerfenster geschimpft. Heute atme ich auf, wenn ich das Badezimmer erreicht habe. Gierig trinke ich das Wasser aus der Toilettenschüssel. Oft bleibe ich dann stundenlang in der leeren Badewanne liegen und träume. Im Winter ist es schön warm am Heizkörper. Ich habe dort einen Berg von alten Kleidern zusammen getragen, in den ich gerne hinein krieche. Oben pfeift der eisige Wind hinein und ich luge nur mit der Nasenspitze heraus. Mit lautem Knall platzt der Putz der gegenüber liegenden Wand heraus. Sie haben wieder geschossen. Sie schießen immer. Vielleicht wollen sie mich auch gar nicht treffen. Wahrscheinlich wollen sie mich nur zermürben, mich soweit bringen, daß ich mich ihnen ausliefere oder mich selbst töte. Aber ich kann warten. Ich lese viel, zuerst habe ich die unteren Reihen meines Bücherschranks durchgeforstet und nach und nach alles gelesen, was ich gefunden habe. Später habe ich dann mit einem aufgeklappten Zollstock, den ich in der Küche unter der Spüle gefunden habe, die oberen Reihen abgeräumt. Die guten Sachen standen natürlich ganz oben. Inzwischen habe ich gelernt, um die Einschußlöcher herum zu lesen. Ich ergänze einfach die Sätze, Zeit zum Nachdenken habe ich ja genug. Eigentlich höre ich die Schüsse kaum noch. Würden sie eine Nacht lang nicht auf mich schießen, nur eine Nacht, ich würde womöglich schreiend aufwachen. Ich habe mich eingerichtet in diesem Leben, aber ich wüßte dennoch gerne, warum denn überhaupt auf mich geschossen wird. Darüber denke ich oft nach.
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