Sonntag, 19. Oktober 2025

Die Schläferzelle


Sarah Stein lebte in einem winzigen Apartment in Moabit. Ein Sofa vor einer Kommode mit ihren Klamotten, auf dem ein Fernseher stand – zugleich ihr Schlafplatz. Daneben ein Kühlschrank, auf den sie eine Mikrowelle gestellt hatte. Gegenüber stand ein schmales Regal mit Papptellern, Plastikbesteck, ein paar Kriminalromanen und einem Radio. Am Ende des Raums eine Toilette ohne Trennwand und ein Waschbecken. Ein Fenster mit Blick auf eine Backsteinwand. Acht Quadratmeter für 600 Euro im Monat. Sie hatte Glück gehabt. Jeden Abend, wenn sie von ihrem Job als Kellnerin in einer Kneipe zurückkam, stieg sie im Treppenhaus über schlafende Junkies und Obdachlose, während sie selbst wegen des Lärms aus dem Club im Erdgeschoss kein Auge zumachte.

Carmen La Biel lebte in einem Loft mit Blick auf die Spree. Der Hauptraum, den man durch eine Stahltür betrat, war etwa zweihundert Quadratmeter groß. Man hätte von einem Möbelstück zum nächsten auch einen E-Roller nehmen können. Sie saß auf einem sinnlos teuren Designersofa aus gegerbtem Zebraleder und blickte auf einen vier Quadratmeter großen Bildschirm, auf dem gerade eine Reality-Soap lief. Sie hatte keine Ahnung, wie hoch die Miete für das Loft war. Goldman Sachs bezahlte alles. Sie arbeitete als Fondmanagerin und in der Tiefgarage stand ihr Maserati, den sie nur einmal im Monat benutzte, um ihre Mutter im Altersheim am Stadtrand zu besuchen. Auf ihrem Notebook klickte sie sich durch die neuesten Handtaschenkreationen von Hermès, alle im Wert eines Kleinwagens.

Beide Frauen verband eine Tatsache. Sie hatten B gesehen, einen russischen Medienoligarchen. Eine der vielen tausend Kameras in der Stadt hatte sie aufgenommen, als sie gemeinsam an einer Ampel standen und sich unterhielten. B wurde von zwei kahlgeschorenen Gorillas begleitet, die vom BND eindeutig als Heinz & Holgi identifiziert wurden. B war von Moskau über Istanbul eingereist und wurde seit der Landung auf dem BER beschattet.

Die beiden Frauen wurden anhand der Bilder sofort überprüft. Sie hatten gültige Personalausweise, aber die Daten zu ihren Geburtsorten und Geburtstagen stimmten nicht mit den örtlichen Melderegistern überein. Offenbar waren es Tarnidentitäten. Auch die Tatsache, dass beide kein Handy bei sich trugen, das geortet werden konnte, machte sie verdächtig. Also beschloss der Geheimdienst, sie zu beschatten. Sie gingen zusammen zum Loft der elegant gekleideten Frau. Kurze Zeit später fuhren sie mit dem Maserati davon.

Sie fuhren nach Jüterbog, einer AfD-Hochburg im Berliner Umland. Sie betraten die Geschäftsstelle, die vom Verfassungsschutz verwanzt war. Die Agenten riefen beim Bundesamt an, landeten aber in der Warteschleife. „The Girl From Ipanema“ in der Fahrstuhlversion. Eine halbe Stunde später kamen sie wieder heraus. Ein junger Mann mit Bürstenhaarschnitt trug einen großen Karton und lud ihn ins Auto. Dann fuhren die Frauen zurück nach Berlin. Ein paar andere Agenten hatten sich inzwischen Zutritt zu ihren Wohnungen verschafft, aber nichts Verdächtiges gefunden. Auch die Kontakte auf ihren Handys ergaben keine Spur. Weder B, noch eine andere Moskauer Nummer. Auch kein AfD-Mitglied war kontaktiert worden.    

Die Drohne startete von Carmen La Biels Wohnung, flog durch das offene Fenster und dann auf das nur einen Kilometer entfernte Kanzleramt zu. Dort prallte sie gegen die gepanzerte Scheibe des Kanzlerbüros, stürzte ab, explodierte und setzte einen Rhododendron in Brand.

Berlin hatte sein 9/11.

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