Dienstag, 6. Juli 2021

Andy Bonetti in „Posttraumatische Belastungsstörung“


Hitze. Lärm. Erschöpfung. Bonetti arbeitete so schnell er konnte. Er trug die Pakete von der Palette in seinen Lieferwagen. Natürlich musste er die Reihenfolge der Auslieferung im Kopf haben. Sonst würde er seine Tour nicht schaffen. Die meisten Kollegen waren schon fertig. Er hörte, wie sie mit heulendem Motor und quietschenden Reifen die Halle verließen. Schließlich waren nur noch zwei Lieferwagen übrig: der Neue und er.

„BONETTI“, dröhnte eine Stimme. Wo kam sie her? Er konnte niemanden sehen. Es schien, als ob der Ruf aus allen Richtungen käme. Oder war er nur in seinem Kopf?

„BONETTI. Schneller! Du schaffst es nicht.“   

Das letzte Paket. Seine Arme taten ihm weh. Sein Mund war trocken. Mein Gott, was war in diesem Paket? Granit? Er versuchte, es anzuheben. Aber es war zu schwer.

„BOOONEEETTIII.“

Schweißgebadet wachte er auf. Er hatte wieder von einem seiner früheren Jobs geträumt. Er öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. Erschöpft legte er sich wieder ins Bett.

„Wo waren Sie gestern, Bonetti?“

Sein Chef. Er stand vor seinem Schreibtisch. Der Chef sah wütend aus. Er spielte mit seinem Bleistift, er spielte mit seinen Angestellten.

„Gestern? Da war Sonntag, Herr Hinkel. Mein freier Tag.“

„Sie haben hier nur einen Zeitvertrag, vergessen Sie das nicht. Die fünfteilige Artikelserie über den Einfluss der Quantenfeldtheorie auf die thermonukleare Reaktion in einem Kernfusionsreaktor sollte gestern fertig sein. Ich erwarte den gesamten Text bis17 Uhr.“

Bonetti sah auf die Uhr. Viertel nach vier und er musste dringend auf Toilette.

Wieder erwachte er. Zu Tode erschöpft. Sein Therapeut hatte es ihm erklärt. Posttraumatische Belastungsstörung. Die alten Jobs verfolgten in seinen Träumen.

Aber auch tagsüber ging es ihm nicht besser. Bei jedem Einkauf spürte er den bleiernen Druck und die wütenden Blicke der anderen Kunden, weil er die Waren nicht so schnell in den Wagen packen konnte, wie die Kassiererin sie einscannte. Obwohl er längst nicht mehr arbeitete, schlang er seine Mikrowellengerichte so schnell herunter, wie er nur konnte.

BOOONEEETTIII. Diese Stimmen. Es würde niemals aufhören. Oder sollte er sich eine Pumpgun besorgen?

P.S.: Den Begriff „posttraumatic stress disorder“ (PTSD) hörte ich zum ersten Mal 1991 in einem Seminar am OSI in Berlin, das von meinem späteren Doktorvater Ekkehart Krippendorff und einem Drehbuchautor veranstaltet wurde, der schon mal an einem Hollywoodfilm mitgearbeitet hatte. Bei allen Sitzungen dieser Lehrveranstaltung mit dem Titel „Krieg im Film“ sahen wir zuerst einen Film, dann gab es ein kurzes Referat von einem Studenten und anschließend diskutierten wir. Natürlich war „Apocalypse Now“ dabei und „Die durch die Hölle gehen“. Ich hatte „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ von Stanley Kubrick ausgewählt. Aber „Rambo“ mit Stallone passte nicht in die Reihe. Er spielt gar nicht im Krieg. Der Student erklärte es uns. Rambo hat PTSD und hat den Krieg in seinem Kopf mit nach Hause genommen. Dennoch wurde der Film in der Diskussion zerrissen. Stallone hatte mit seiner Rocky-Reihe längst alle Cineasten enttäuscht – und mit Rambo II (Vietnam) und Rambo III (Afghanistan) zwei weitere Eigentore geschossen.

Messengers - I Turn In (To You) (1982) - YouTube

5 Kommentare:

  1. Ich würde darüber keine Witze machen.
    Waren Sie schon einmal in so einer Situation ?
    Wenn alles über einem zusammenschlägt, man am Wochenende keine Ruhe findet und die ganze Zeit sowie auch Nachts über die Probleme bei der Arbeit nachdenkt.
    Dann auch wie beschrieben belastende Träume. Sex kann man vergessen.
    Als scheinbar einziger Ausweg und natürlich der einfachste Weg der Suff, gleich nach der Arbeit mit dickem Kopf in die Kneipe, 5 Bier 3 Schnaps.
    Nach so einem Abend träumt man dann wenigstens auch nicht.
    Das ist nicht schön !

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, ich war in dieser Situation. Und ich habe exakt den scheinbar einzigen Ausweg genommen. Dann habe ich den Beruf gewechselt. Jetzt geht es mir wesentlich besser, auch wenn ich viel weniger verdiene als damals.

      Und noch was, Papa Schlumpf: Ich mache hier über alles Witze, wenn mir danach ist.

      Löschen
  2. Na dann können wir uns ja die Hand geben.

    Aber "Papa Schlumpf"...n´büschn haard, oder ?

    AntwortenLöschen