Sonntag, 2. April 2017

Goethes schillernde Vergangenheit

Oder einfach:

Blogstuff 119
„The more I work, the more I think I don't know what I am doing. I have absolutely no idea what I am doing. It is like sweat or shit. It comes out as I go along … Art is shit. Art galleries are toilets. Curators are toilet attendants. Artists are bullshitters.“ (Martin Creed)
Auf Wahlplakate sollen jetzt auch Schockfotos gedruckt werden, die vor den Folgen der Politik warnen: Eine Menschenschlange vor der Essensausgabe einer Tafel, eine verrottete Schule, ein qualmendes Kohlekraftwerk, ein Obdachloser, ein abgeholzter Wald, eine marode Brücke usw.
Was kann ich besonders gut? Mal überlegen. Ich bin sehr gut im Essen, aber auch im Bereich des Trinkens gehöre ich zu den Hochbegabten. Ist Stammgast ein Beruf in der Gastronomie? Gut sichtbar am Fenster eines Restaurants? Wer braucht mich?
Und dann sind da noch die Typen, die als kleine Fische nach Berlin gekommen sind und jetzt den Miethai spielen.
Ich habe mich während meiner Studienzeit mit keinem zeitgenössischen Denker so intensiv auseinandergesetzt wie mit Jürgen Habermas. Aber ich bin bei seiner Lektüre kein Habermarsianer geworden. Heute erscheint mir seine Idee des herrschaftsfreien Diskurs‘ aus seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ gnadenlos naiv. Es gibt diesen herrschaftsfreien Diskurs nicht in der Öffentlichkeit, in vielen Ländern gibt es noch nicht einmal einen repressions- oder wenigstens angstfreien Diskurs. Dort wo in der Kneipe oder im Uni-Seminar noch offen diskutiert wird, sitzen nicht die Herrschenden. Wer in einer Partei den Mund aufmacht, versichert sich vorher, in welcher Gesellschaft er dann mit seiner Meinung wäre und ob es seiner Karriere schadet. Ansonsten beobachte ich auf dem Pavianhügel der „sozialen“ Medien nur Streit und Gruppenbildung. Auch der Verfassungspatriotismus, eine weitere Idee des Sozialphilosophen, spielt in Zeiten des wiedererwachten Nationalismus und Rassismus keine Rolle mehr. Es ist sehr still um Haberrmas geworden.
„Auf’m Damenklo / Im Bahnhof Zoo“ (Nina Hagen). Alle Herrentoiletten sind besetzt, aber die Wehen kommen jetzt in immer kürzeren Abständen. Ich spreche mit dem zahnlosen Saubermann, der hier zuständig ist. Die Toiletten wären mit Obdachlosen besetzt, die hier oft drei Stunden schliefen und in den Kabinen sogar rauchen würden. Nix mehr mit den Junkies aus der Christiane F-Ära. Der Sicherheitsdienst sei schon auf dem Weg. Ich darf auf eine Damentoilette. Am Bahnhof Alexanderstraße sei es noch schlimmer, erklärt der Diensthabende zum Abschied.
1990: Früher war aus West-Berliner Perspektive alles Osten, plötzlich ist aus Ost-Berliner Perspektive überall Westen. Ich habe mir die Fotos angesehen, die ich im Januar 1990 bei einem Berlin-Besuch gemacht habe. Die Mauer in der Abrissphase, Altbauten mit Einschusslöchern. Ein Foto zeigt mich auf dem Schoß von Karl Marx, das Denkmal für Marx und Engels in Mitte ist vermutlich zum ersten Mal mit Graffiti verziert. Vorne steht: „Wir sind unschuldig“. Hinten: „Beim nächsten Mal wird alles besser.“ Ein Jahr später wohne ich in Kreuzberg.
Ein Burger-Restaurant in einer der 67 Shopping Malls der Hauptstadt. Klopfender HipHop-Rhythmus aus den Lautsprechern. Ich betrachte den jungen Angestellten, der hinter dem Tresen Gläser spült und versucht, bei jeder Bewegung lässig und weltmännisch zu wirken. Er wirft das gespülte Glas in die Luft, wo es sich einmal um die Längsachse dreht, fängt es wieder auf und stellt es ins Regal. Wie lange wird es dauern, bis er seine Begeisterung verliert?
Die vier lustigen alten Frauen in einem Gasthaus in Dinkelsbühl. Sie sitzen des Abends bei Bier und Schweinebraten wie die Orgelpfeifen. Die kleinste Orgelpfeife ist eine schlohweiße Greisin, die kaum über den Tischrand blickt. In ihren Händen, die auf Kopfhöhe sind, wirken Messer und Gabel riesig. – Die zwei alten Frauen in einem Berliner Restaurant, die sich schweigend und mit verbitterten Mienen gegenüber sitzen. Sie wirken hart und kalt mit ihren modischen Kurzhaarschnitten. Ich stelle mir vor, dass sie Witwen sind und früher ihre Männer gequält und gedemütigt haben. Jetzt suchen sie neue Opfer.
Der Unterschied: Wenn ich in Schweppenhausen am Sonntag noch eine Flasche Bier oder eine Flasche Wein kaufen möchte, schaue ich ohne Auto in die Röhre, von meinem Berliner Domizil erreiche ich im Umkreis von etwa hundert Metern einen Späti, einen Dönerladen, eine Tankstelle und das kleine Geschäft in der U-Bahn-Station. Zusätzlich habe ich die Auswahl zwischen hundert Lieferdiensten, die mir zu den Getränken auch noch Pizza, Burger, Sushi usw. bringen können. Die einzige Pizzeria, die nach Schweppenhausen liefert, weigert sich beharrlich, Wein und Bier in ihr Sortiment aufzunehmen.
Frankie goes to Hollywood - Lunar Bay. https://www.youtube.com/watch?v=g2wXo-cBvRM

5 Kommentare:

  1. Ich bemerke eine leichte Radikalisierung. Eventuell haben Sie doch den Kiezneurotiker aufgenommen?
    Der anonyme Mitlesende

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  2. Die alten Frauen in Dinkesbühl und Berlin im Vergleich- da musst Du doch froh sein, auf dem Land zu leben. Und Habermas studiert zu haben macht ja nicht froh, führt nur zu "Kopfgeburten". Der Angestellte, der das Glas in die Luft wirft, hat der nicht den ersehnten Flow? Mir gefällt, was Du beobachtest, die Schlüsse nicht immer.

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    1. @Roswitha
      Seine Majestät, Kiezschreiber I. , legt keinen Wert darauf, dass seine Schlüsse gefallen.

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    2. Seine Majestät legt auch keinen Wert auf Interpretationen seiner Beweggründe. Roswitha gefallen einige Schlussfolgerungen, an anderer Stelle kommt sie zu eigenen Schlussfolgerungen. Das sind die aufmerksamen und kritischen Leser, von denen Sir Andy Bonetti, Esquire, immer geträumt hat.

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    3. So bin ich halt, und manchmal ganz anders. Ich darf mir eigene Gedanken machen und meine Aufmerksamkeit verteilen wie es sich ergibt.

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