Donnerstag, 23. Mai 2013
Quartiersmanagement und Zensur
Vor einem Jahr gab es im Brunnenviertel eine Diskussion um einen Artikel zum Thema „Gentrifizierung“, der im dortigen Kiezmagazin der beiden Quartiersmanagements erscheinen sollte. Die Entscheidung, den Artikel nicht abzudrucken, hat auch über die Kiezgrenzen hinaus für Gesprächsstoff gesorgt. Ich selbst habe drei Jahre im Auftrag einer Kulturinitiative mit beiden Quartiersmanagements im Brunnenviertel zusammen gearbeitet und gehöre zu den Gründervätern des Kiezmagazins „Brunnen ¼“ (leider habe ich mich bei der mehrmonatigen Namenssuche nicht durchsetzen können …). Allein die vielen Nachmittage, in denen fröhlich über das Pro und Kontra des großen I („Binnenmajuskel“ ist der hässliche Ausdruck, den Klugscheißer gerne dafür benutzen) gestritten wurde, werden mir unvergesslich bleiben. Diese Leidenschaft wünscht man sich im täglichen Umgang mit den Kiezbewohnern draußen vor den Konferenzzimmern. Richtig unangenehm war aber immer die Einflussnahme auf die Inhalte, so dass ich mich nach einem halben Jahr aus der Mitarbeit am Magazin zurückgezogen habe. Hier mein diesbezügliches Schreiben an eine Projektverantwortliche (redaktionsinterner Spitzname: „Margot“) aus dem Herbst 2009 in anonymisierter Form. Es ging darum, ob die Abbildung eines Sektglases auf einer Fotografie im Kiezmagazin bereits islamfeindlich und provokant ist. Das wurde sehr kontrovers und mit großer Schärfe diskutiert.
„Liebe X,
ich habe lange nachgedacht und mit drei befreundeten Redakteuren und einer deutsch-türkischen Journalistin diskutiert, nun habe ich beschlossen, mich nicht mehr am Kiezmagazin zu beteiligen. Der Streit der vergangenen Wochen ist mir auf den Magen geschlagen und ich liege nächtelang wegen dem Scheiß wach. Es verdirbt mir langsam den Spaß am Schreiben – und da hört der Spaß natürlich auch gleich auf.
(…) Es gibt nun einmal unterschiedliche Kulturen in den beiden QMs, das wird am Streit ums Sektglas sehr deutlich. Für uns alle war es kein Problem, fürs QM YZ offenbar ein großes, denn es kam der Vorwurf, die gesamte Redaktion sei nicht „kultursensibel“ genug. Eine große Keule, die gegen ein zerbrechliches Gläschen Blubberwasser geschwungen wird. Über das Sektglas habe ich am längsten nachgedacht, haben wir am längsten diskutiert. Es sollte eigentlich kein Problem sein, in einer deutschen Publikation ein in hiesigen Breiten geläufiges und auch von vielen Migranten hochgeschätztes legales Genussmittel abzubilden. Ich glaube kaum, dass islamistische Fundamentalisten die deutschen Tageszeitungen mit Leserbriefen bombardieren, nur weil sie derzeit zum Oktoberfest Biergläser in den Illustrationen zeigen. Wo zieht man da die Grenze? Müssen wir als nächstes eine Passantin im Mini-Rock retuschieren? Die Amish haben ein Problem mit elektrischen Geräten – was machen wir da? Wer redet mit den Zeugen Jehovas, deren Gefühle wir ja auch nicht verletzen wollen? In meinen Kurzgeschichten wird beispielsweise auch Alkohol getrunken. Darf ich das denn noch veröffentlichen? Also, bei allem Verständnis: Toleranz ist keine Einbahnstraße. Ich schreibe doch nicht für einen Kiez in Teheran. Wir haben ja schließlich keine Mohammed-Karikaturen veröffentlichen wollen, oder? Und ich merke langsam, wie sich dieses Gift der Zensur wie Säure durch meinen Kopf frisst. ‚Was darf ich, was darf ich nicht?‘ Und so möchte ich nicht arbeiten, ich will da jetzt auch gar keinen abgehobenen Dünnpfiff von künstlerischer Freiheit und Meinungsfreiheit oder so fabulieren. Ich habe einfach keinen Bock drauf. Ich bin sicher, dass du Verständnis dafür hast, dass ich an diesem Punkt auch solidarisch mit meinem hochgeschätzten & supernetten Förderband-Kollegen ZXY bin, der seinerseits den Bettel als Redaktionsmitglied hingeschmissen hat und bereits nicht mehr im Impressum der Erstausgabe steht.
Ich hoffe, unser freundschaftliches Verhältnis leidet nicht unter meinem Ausstieg. Ich verstehe mich mit allen im Team gut, alle anderen Projekte (Öffentlichkeitsarbeit, Weblog, Buch, Homepage) laufen ja auch. Der Stress kommt von außen und den bin ich jetzt los.
Viele liebe Grüße
Matthias“
P.S.: Da im Januar 2011 die Zahl der Redaktionsmitglieder des Kiezmagazins praktisch auf Null gesunken war, bin ich noch einmal in die journalistische Arbeit eingestiegen. Da war alles noch viel schlimmer. Die Quartiersmanager (d.h. die Herausgeber) waren inzwischen in einer eigenen Arbeitsgruppe eifrig damit beschäftigt, einen schriftlichen Kanon für dringend benötigte Gastbeiträge zu entwerfen (welche Worte erlaubt seien und welche nicht, wie der Plural zu formulieren sei, welche Themen, Organisationen und Personen tabu wären, „Gender“ und biographischer bzw. ethnologischer Hintergrund der Bewerber, Anzahl der Korrekturschleifen bis zur einer möglichen honorarfreien Veröffentlichung, in welchen Fremdsprachen sollen Abstracts zu den Artikeln ins Blatt, in welchen nicht und warum nicht, ist das schon Diskriminierung oder ist allein das deutsche Wort „Fremdsprache“ ein faschistischer Dämon, der uns mit maliziösem Lächeln und selbstverständlich alternativlos in den Orkus des Vierten Reiches hinab stößt usw. ad infinitum – das umfangreiche Konvolut ist bis heute unter Verschluss und ist von zahllosen Mythen und Legenden innerhalb des Berliner Projektuniversums umrankt), der dem „Neuen Deutschland“ in seinen erfolgreichsten Zeiten zur Ehre gereicht hätte. In einer Debatte mit den Quartiersmanagern (hauptsächlich Innen) ging es beispielsweise um die Formulierung „eine türkische Familie“ in einer Spielplatzbeschreibung. Total harmlos. Wir sind im Wedding. Das soll vorkommen, dass auch Menschen ohne Ariernachweis auf den hiesigen Spielplätzen anzutreffen sind. Ist das Adjektiv „türkisch“ schon für sich genommen eine Diskriminierung, eine Ausgrenzung, ein Zeichen von Unverständnis? Zehn Erwachsene streiten eine ganze Stunde lang, es wird laut, Tränen fließen. Wäre die Diskussion anders verlaufen und hätte es weniger Aufregung gegeben, wenn die Formulierung „eine schwedische Familie“ gelautet hätte? Keiner weiß das. Schließlich heißt es nur noch „eine Familie“, die betroffene Kollegin ist sprachlos. Das Quartiersmanagement hat gesprochen.
P.P.S.: Hatte ich schon erwähnt, dass ich auf meine Mail weder eine schriftliche noch eine mündliche Reaktion bekommen habe? Nur Schweigen. Merkwürdiges Volk.
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