Mittwoch, 4. Januar 2012

Unvergessliches Treffen

Es war im Intercity von Köln nach Berlin. Günter hatte bereits seinen reservierten Fensterplatz am Tisch eingenommen, als Tom den Großraumwagen betrat. Tom ließ seinen Blick über die Sitzreihen wandern. Dann sah er Günter, der gerade ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Jacke kramte.
„Ach, hallo. Günter. Bist du das?“
Günter blickte hoch. „Tom? Na, das ist ja eine Überraschung.“
„Ist hier noch frei?“
„Klar. Setz dich.“
Tom setzte sich auf den freien Fensterplatz direkt gegenüber.
„Günter Schurack, Schillergymnasium. Das ist dreißig Jahre her, oder?“ Tom grinste breit, während er das iPhone vor sich auf dem Tisch platzierte.
„Genau. Tom Burckhardt. Du hast dich nicht viel verändert. Nur die Haare sind ein bisschen kürzer.“
Sie lachten beide. Früher hatte Tom lange Haare gehabt, nun trug er sie kurz und mit gewaltigen Geheimratsecken.
„Wo geht’s denn hin?“ fragte Tom.
„Nach Bielefeld, auf eine Tagung,“ antwortete Günter.
„Was machst du da?“
„Ich halte einen Vortrag.“
„Einen Vortrag?“ fragte Tom erstaunt. „Bist du Wissenschafter?“
Günter lächelte. „Ich bin Betriebswirt.“
Tom riss die Augen auf und lachte einmal kurz. „Ist nicht dein Ernst? Betriebswirt?“ Dann grinste er. „Passt aber irgendwie. Warst du damals nicht in der Jungen Union?“
„Ja“, sagte Günter. „Und du warst doch damals der große Revoluzzer in den Achtzigern.“
„Stimmt“, Tom schüttelte lachend den Kopf. „Ich habe mir nichts gefallen lassen.“
„Was machst du denn heute so?“
„Ich habe eine kleine Agentur in Berlin. Wir sind ein paar Leute, aber es läuft total super.“
Günter grinste. „Sag bloß, du machst Werbung. Reklame für den Konsumterror der Großkonzerne?“
Tom zuckte leicht mit den Schultern. „Es ist keine Werbung, wir machen Krisen-PR. Wir entwickeln Strategien und Argumentationen für unsere Kunden. Ich mache Kommunikation, das ist es im Kern. Und wir haben jede Menge Kunden aus dem Bereich Erneuerbare Energien.“
„Nicht schlecht“. Günter nickte anerkennend. „Berlin ist bestimmt aufregend.“
„Ach, weißt du, wenn man den ganzen Tag am rödeln ist und zwei kleine Kinder hat, beschränkt sich die Aufregung auf den Straßenverkehr und die Steuererklärung.“
Günter lachte. „Bist du verheiratet?“
„Ja. Ich weiß, es klingt spießig. Aber wir haben eine richtig fette Hochzeit auf der Finca meiner Frau gefeiert. Ist schon zehn Jahre her. Auf Mallorca. Hast du auch Familie?“ Tom zeigte Günter ein Bild auf seinem Telefon. Eine kurzhaarige Frau und zwei kleine Mädchen standen vor einem üppig geschmückten Weihnachtsbaum.
Günter schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin Single.“
„Lebst ganz für die Wissenschaft, was? An welcher Uni bist du denn?“
„Duisburg. Aber ich wohne in Bonn.“
„Als Professor verdient man sicher nicht schlecht, oder?“ fragte Tom.
„Ich bin Privatdozent. Im Moment lebe ich von den Lehrveranstaltungen, die ich mache.“ Günter schob Tom eine Visitenkarte über den Tisch. „Hier. In unserem Alter hat man ja so was.“
Tom lachte und gab Günter seine Karte. Dann betrachteten beide für einen kurzen Augenblick die Visitenkarten des Anderen.
„Kollwitzplatz“, sagte Günter und nickte mit einem spöttischen Grinsen zu. „Das ist im Prenzlauer Berg, oder? Ziemlich angesagter und teurer Flecken. Deine Agentur muss ja gut laufen, wenn du dir dort die Miete leisten kannst.“
„Ja, dort wohnt die digitale Boheme, wie man so sagt. Und, ehrlich gesagt, haben wir das Loft sogar gekauft. War schweineteuer, aber es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn du nachts an deinem Schreibtisch sitzt und über die Stadt schaust.“ Tom räkelte sich behaglich in seinem Sitz.
Günter schaute ihn ernst an. „Das hätte ich nicht gedacht. Geschäftsmann, verheirateter Familienvater, Grundeigentümer und Autofahrer. Eigentlich musst du jetzt nur noch einen Baum pflanzen, dann hast du den ganzen bürgerlichen Kanon abgearbeitet.“
Tom wurde nun auch ernst. „Das brauche ich nicht mehr, ich habe letztes Jahr tausend Euro für ein Wiederaufforstungsprojekt in Vietnam gespendet. Und du? Immer noch ein strammer Antikommunist und Parteisoldat? Bist du noch für die bürgerliche Sache unterwegs? Ist aus dem Helmut-Kohl-Fan jetzt ein Merkel-Vasall und Westerwelle-Knecht geworden?“
„Ich lebe jedenfalls bescheiden und fahre auch nicht Auto. Und was heißt hier bürgerlich? Du lebst doch bürgerlicher als ich!“
Tom lachte verächtlich. „Was soll denn das heißen? Als du noch gegen die 35-Stunden-Woche und für die NATO-Aufrüstung gekämpft hast, habe ich mich bei den Grünen für Umweltschutz und gegen Atomkraft engagiert. Ich habe am Ende Recht behalten.“
„Aus dir ist ein bürgerlicher Bettvorleger geworden, der systematisch alles verraten hat, woran er mal geglaubt und wofür er mal gekämpft hat. Du spielst hier den Salonbolschewisten mit deinem ganzen Apple-Wichtigtuer-Scheißdreck und deiner Jack-Wolfskin-Kacke.“ Günter war auf einmal wütend und laut geworden.
Tom sah ihn erschrocken an. Dann schwiegen beide eine Weile.
In leisem drohendem Tonfall fuhr Günter fort: „Du hast am Ende nicht Recht behalten. Du nicht! Ich bin mir treu geblieben und du bist ein Verräter. Wofür der ganze Kampf? Wozu hast du das alles gemacht, die ganze Provokation, die Parolen, die du überall hingeschmiert und gebrüllt hast, wenn du am Ende doch alle deine Ziele verraten hast? Du bist der schlimmste Verräter, den man sich vorstellen kann. Du hast nicht andere verraten, du hast dich selbst verraten. Du bist als Bonzensohn auf die Welt gekommen und jetzt bist du selbst ein Bonze geworden. Du bist nicht besser als jeder andere Unternehmer, der seinen Profit auf dem Rücken seiner Angestellten macht. Und von deinem reichen Papa habe ich in der Zeitung gelesen, der hat mit seinen Hedge-Fonds Millionen verdient. Ihr Grünen seit doch die neuen Spießer! Vor dreißig Jahren hast du Leute wie mich bekämpft, weil ich für dich der Inbegriff des Spießertums war. Jetzt wählst du selbst die Spießerpartei von heute. Ihr Besserverdienenden rümpft die Nase über Leute, die zu Aldi oder Kik gehen, während ihr eure bürgerliche Scheiße im Biomarkt kauft oder bei Manufaktum. Dabei kapiert ihr gar nicht, dass viele von uns sich die teuren Sachen gar nicht leisten können und eben politisch unkorrekt einkaufen müssen. Ihr pseudolinken Klugscheißer haltet anderen gerne Vorträge über Klimawandel und fliegt danach für zwei Wochen zum Skiurlaub nach Davos. Arme Leute haben eine bessere Ökobilanz als ihr, weil sie sich die Umweltverschmutzung gar nicht leisten können. Die reden allerdings auch nicht so geschwollen daher wie ihr hochnäsigen Wichtigtuer.“
Dann hielt der Zug in Bielefeld und Günter stieg aus.

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