Montag, 11. Juli 2011

Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam

Eigentlich ist die Gentrifizierung ein Kompliment für Menschen wie mich. Wegen kreativer Köpfe wie mir, so lese ich allenthalben, ziehen irgendwelche Schwaben aus der Provinz nach Berlin und geben eine Mörderkohle für schicke Eigentumswohnungen aus. Sie haben ja auch Recht: Was für eine Stadt! Da gibt es Schriftsteller und Kunstmaler, Musiker und Schauspieler. Alle unter dreißig wollen was mit Medien machen, alle über dreißig haben demnächst eine Vernissage in New York oder machen eine Lesereise für das Goethe-Institut. Total aufregend, wie man nicht müde wird, nach hause zu mailen. Aber dann scheint man irgendwann genug von seinem neuen Berlin-Dasein zu haben, die postmaterielle Metropolenexistenz bekommt erste Risse und spätestens mit den Kindern kommen die erlernten Verhaltensmuster der Vergangenheit – finsterster Schwarzwald mit Kehrwoche und gesetzlich garantierter Nachtruhe – wieder zum Vorschein. Dann müssen im Prenzlauer Berg die angesagten Clubs ihre Türen für immer schließen. Sie waren zu laut. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Dann kotzt einen der anstrengungslose Wohlstand des Studentenpärchens in der Nachbarwohnung an oder die spätrömische Dekadenz einer Partygesellschaft, die im Haus gegenüber bis in die frühen Morgenstunden lacht und tanzt. Graffiti sind kein Ausdruck von künstlerischer Freiheit, sondern eine akute Wertminderung der eigenen Immobilieninvestition. Man will die ganzen Typen nicht mehr sehen, die ihren No-Name-Dreck bei Aldi kaufen. Man will auch Aldi nicht mehr, aber alle fünf Meter muss die Grundversorgung des Neubürgers mit Latte macchiato und Sechskornbrötchen durch Neueröffnungen von Geschäften gesichert werden. Schließlich hat man mal so ein Buch von einem dieser sogenannten Schriftsteller gelesen. War gar nicht so doll. Und der Autor hat nach Schnaps gestunken – auch Intellektuelle sollten mal über Hygiene nachdenken. Die Bilder auf der Ausstellung letztes Jahr – jetzt mal im Ernst: Wer kauft so einen Scheiß? Eines Tages sind dann die Zugereisten unter sich. Der Hölle im eigenen Kopf entkommt niemand, Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam.

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