Mittwoch, 30. November 2011
Wilmersdorfer Witwen
Sie haben die Kaltschnäuzigkeit von gestandenen Frontsoldaten: Wilmersdorfer Witwen. Zwei Exemplare sitzen heute am Nachbartisch, als ich bei meinem Stammgriechen gebratene Auberginenscheiben mit Zaziki an einer Variation von Braugerste und Hopfen genieße. Da geht es zunächst um das Enkelkind der einen Dame, das Hartz IV bekommt, mit dem Geld aber nicht auskommt, weil es alkoholkrank ist. Leider habe ich nicht ganz mitbekommen, ob der Enkel depressiv wurde, nachdem er die Arbeit verloren hat, ob die Depressionen Ursache des Arbeitsplatzverlustes sind oder der Alkohol beides verursacht hat bzw. beides lindern kann. Jedenfalls säuft die eigene Tochter (und Mutter jenes 31-jährigen „Kindes“) wesentlich mehr, nämlich zwei Flaschen Wein am Tag. Dann erzählt die andere von ihrem Bruder, der kürzlich auf dem OP-Tisch verblutet ist, weil der Arzt beim Versuch einer Tumorentfernung zu tief geschnitten habe. Nach pietätvollem, etwa zehnsekündigen Schweigen bemerkt ihr Gegenüber: „Die Kartoffeln schmecken gut.“ Hardcore. Dann geht es weiter: In einer Schublade des verstorbenen Bruders fand sich ein Tagebuch, aus dem hervorging, dass er Anfang der siebziger Jahre nicht nur eine Affäre mit einer anderen Frau hatte, sondern auch noch Vater eines unehelichen Kindes geworden ist. Diese andere Frau hat ihn jahrelang erpresst. Nun beratschlagen die Witwen, ob man den unbekannten und inzwischen vierzigjährigen Spross der Familie ausfindig machen und über die wahre Vaterschaft informieren soll. Bei meinem Griechen werden die besten Geschichten erzählt! Ich frage mich, wozu ich überhaupt im langweiligen „Spiegel“ blättere, der sich doch nur wieder mit Panikmache rund um das Thema Geld beschäftigt. Da halte ich es doch mit Gerhard Polt, der im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ gerade ein sehr kluges Interview gegeben hat: „Ich hab um gar keine Währung Angst (…), es wird immer Leute geben, die wissen, wie man einen guten Wein oder ein leckeres Schnitzel macht.“ Darum geht es im Leben wirklich: Familie und Freunde, Essen und Trinken, Lebensfreude und Gesundheit.
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