Montag, 9. Juni 2025

Kurzer Gedankengang zu den letzten 100.000 Jahren


„Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“ (Daniel Kehlmann)

Geistesgeschichte als Pendelbewegung. Die Bequemlichkeit des Glaubens und die Anstrengung des Denkens als entgegengesetzte Pole. Die Antike (Griechenland, Römisches Reich) als erste Bewegung weg vom Glauben an Götter, die sich durch Naturgewalten manifestieren und in deren Händen unser unabwendbares Schicksal liegt. Die Philosophie als individueller Weg zur Erkenntnis und Sinnstiftung kommt ohne Organisation in Gruppen (Religionen) aus und bleibt via Sprache und Diskurs dennoch anschlussfähig. Mittelalter als Ergebnis des zweiten Pendelschlags zurück zum alternativlosen Glauben, Renaissance und Zeitalter der Aufklärung als dritter Pendelschlag: von der Irrationalität zur Rationalität. Der technische Fortschritt und der Siegeszug der Wissenschaft sind der greifbare Erfolg dieser vierten Phase.

Jetzt erleben wir den Beginn des nächsten Pendelschlags. Es gibt, zum Teil berechtigt, Zweifel am Fortschritt und der Glaubwürdigkeit des Wissenschaftssystems. Identität statt Individualität (Denken in antagonistischen Gruppen, z.B. Mann/Frau, Schwarz/Weiß), Intoleranz in Fragen der Sprache, der Ernährung und des Lebensstils im säkularisierten Westen, völliger Rückfall ins Mittelalter in Teilen der islamischen Welt; öko-kultureller und religiöser Fundamentalismus.

Ich betrachte das bunte und bisweilen finstere Treiben der Welt von meinem Observatorium hoch über der Stadt, hüte mich vor den Einflüsterungen ihrer leichtgläubigen und fragwürdigen Bewohner, partizipiere bestenfalls kulinarisch von ihrer Kultur und werde eine umfangreiche Chronik des Irrsinns hinterlassen. Die sechste Phase werde ich nicht mehr erleben, ich schreibe in die Nacht hinein.

 

6 Kommentare:

  1. Ein großartiger Text.

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    1. ... sehr gelungen. Die Pendeltheorie vertrete ich ebenfalls. (in Bezug auf die politische Gegenwart und den Verfall der sozialistischen(?) Ideale nach 1945. Der Faschismus als Element "des atavistischen, dummen Bösen" in uns" wird wieder populär. Man kratzt angstfrei am dünnen Firnis von Anstand und Mitgefühl als Basis eines friedlichen Zusammenlebens.
      ein Freund

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  2. Herr Kehlmann irrt fast ein wenig.
    Kunst ist das einzige, das übrig war. Was so überflüssig war, dass es nicht einmal lohnte, es weiter zu verwursten. (Von mehrfach übermalten Leinwänden z.B. einmal abgesehen.)
    Die emotionale Bedeutung aber, die macht Kunst bedeutsam. Bzw. die Empathie der Nachfolgenden, die dafür gesorgt hat, dass der Krempel nicht auf den Müll, sondern auf den Dachboden kam - um später wieder entdeckt zu werden, bereit, wieder eine emotionale Bindung einzugehen...

    Ich selber sehe mich ja auch eher als ethnologischer Beobachter, bis auf die wachen Momente, in denen ich erkenne, dass ich lediglich ein unbedeutender Protagonist bin.

    Und um das Pendel bzw. den Bogen wieder zurückzuschlagen:
    Es gibt eine Generation für's Vererben und eine für's Verderben.
    Die Progressiven von einst haben etwas aufgebaut und erfreuten sich an neuen Möglichkeiten und Ästhetik.
    Die Progressiven von heute reißen ein. Und weil das, was sie ursprünglich eingerissen hatten, heute weitgehend unbekannt ist, wird deren Müll für normal gehalten, bis die Progressiven von morgen kommen und wieder etwas Neues erschaffen.


    Einen noch, dann höre ich auf, versprochen..
    Glaube/ Aberglaube war nie wirklich weg. So wie die Dinge, die erleb- aber (noch) nicht messbar sind.
    Es wechseln nur mit Religion und Sekten die Vehikel, die den Glauben/ Aberglauben transportieren:
    Zwischen Savonarolo, Habeck und Reichinek passt kein Blatt Papier. Der Mensch an sich ist mit seinen neuronalen Verdrahtungen eben doch in der Masse recht simpel.
    Für Fortschritt braucht es immer den zunächst verlachten Spinner.

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    1. Ja, der Text ist aus einer eurozentristischen Perspektive geschrieben, andernorts spielt Religion noch eine große Rolle - oder es gibt neue Formen des Glaubens, z.B. Esoterik.

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  3. "Für mi is des ois no so wia a fuim ... igandwie ... i woas ned warum ... es lauft irgendwie ois so owa, aba irgendwie glaub i's no goaned dass des so is!"
    (Daniel Küblböck)

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