Donnerstag, 27. April 2023

Helden der Nacht

 

Es war in jenem magischen Sommer 1985, als wir uns kennenlernten. Es war Freundschaft auf den ersten Blick. Wir passten perfekt zusammen: Wir interessierten uns beide für Literatur und Philosophie, wir soffen beide wie die Löcher, rauchten Kette, konnten Stunden am Flipper verbringen und hatten keinen Plan für unser weiteres Leben.

Ich hatte gerade Abitur gemacht und ein halbes Jahr Zeit, um zu machen, was mir gefällt, bevor der Zivildienst beginnen sollte. Ich schrieb meinen ersten Roman. „Drei Eimer Scheiße“. Inspiriert von den Strugatzki-Brüdern dachte ich mir die Geschichte von außerirdischen Besuchern aus, die aufgrund unserer Blödheit keinen Kontakt zur Menschheit aufnehmen wollten und bei ihrem Besuch nur einen Riesenhaufen Scheiße hinterließen, den der Ich-Erzähler fand. Zum Glück wollte kein Verlag dieses Elaborat je veröffentlichen. Ich fand drei Tuben Ölfarbe (blau, rot und gelb) und hatte eine kurze Phase als Maler, bis die Tuben leer waren. Geld für neue Farben hatte ich nicht. Ich zeichnete, machte Collagen aus den Fotos, die ich in alten Zeitschriften fand, die sich in meiner Messi-Bude stapelten. An den Wänden Bilder von James Dean, Borussia Mönchengladbach, der brennenden Hindenburg und Kafka-Zitate. Dazu war ich Gralshüter einer veritablen Pornosammlung, denn ich hatte ganze Jahrgänge von Playboy, Penthouse und Lui, die ich an die vielen sexgeilen Jungfrauen verliehen habe, die den ganzen Tag nicht die Finger von ihrem Schwanz lassen konnten. Als ich noch zur Schule ging, habe ich regelmäßig in einer Buchhandlung Zeitschriften und Bücher geklaut. Außerdem befriedigte ich meinen gigantischen Lesehunger in der Schulbibliothek, der Stadtbibliothek und der Werksbibliothek von Boehringer (via Vater). Ich schrieb für den Ingelheimer Lokalteil der Mainzer Allgemeinen Zeitung belanglose Artikel über Vereinssitzungen und Kindergarteneröffnungen und war immer noch mit dem Klapprad unterwegs, dass ich mit acht Jahren geschenkt bekommen hatte.

Mein neuer bester Freund hatte nach dem Realschulabschluss eine Lehre als Großhandelskaufmann absolviert und arbeitete in einem Baumarkt. Er wohnte nicht weit von mir entfernt. Wir trafen uns meistens bei ihm, gelegentlich auch bei mir. Nebenbei hatte er einen Job als Filmvorführer im örtlichen Kino. In seinem ständig zugequalmten Zimmer hatte er Poster von Bruce-Lee-Filmen an den Wänden. Außerdem zog er die Kronkorken aller Biere, die er trank, auf Schnüre, die überall vor den Postern baumelten. Niemand hat sie je erzählt. Im Gegensatz zu mir hatte er ein Auto, einen Opel Kadett. Eines schönen nachmittags tranken wir einen kompletten Kasten Bier und beschlossen, in unsere Stammkneipe am Bahnhof zu fahren. Er überholte auf dem Weg dorthin in wilder Fahrt mehrere Autos. An der Kreuzung vor dem Bahnhof stieg der Mann im Audi hinter ihm aus. Er zog meinen Kumpel aus dem Wagen und legte ihm Handschellen an. Es war ein Polizist auf dem Weg zu seiner Dienststelle. 1,8 Promille. Führerscheinentzug für ein halbes Jahr. Ich torkelte zur Kneipe weiter, an den Rest des Tages konnte ich mich nicht mehr erinnern. Jetzt war er also auch Radfahrer. Einen Monat später, auf dem Weg nach Hause, legte er sich mit seinem Rad direkt vor der Polizeidienststelle in der Bahnhofsstraße auf die Schnauze. Die Polizisten kamen raus, nochmal eine Blutprobe, nochmal exakt 1,8 Promille, sechs weitere Monate Führerscheinentzug. Einmal haben wir auf einer Fahrt auf der Autobahn eine Wette abgeschlossen. Er glaubte nicht, dass ich bei über 100 km/h als Beifahrer vom vierten in den ersten Gang schalten könnte. Er trat auf die Kupplung, ich prügelte mit zwei Händen den Schaltknüppel in den ersten Gang und der Wagen rollte auf dem Standstreifen aus. Er war mir noch nicht mal böse.

Damals trafen wir uns jede Woche mehrmals, aber parallel dazu schrieben wir uns lange Briefe. Genau wie ich las und schrieb er einfach gerne. Die Briefe hatten manchmal fünf oder sechs Seiten Länge, ich habe sie heute noch. Obwohl wir uns gegenseitig besuchten, schickten wir uns die Briefe per Post. Wir sprachen auch nicht über die Briefe und unsere Gespräche wurden auch nicht in den Briefen thematisiert. Es war, als hätten wir zwei Freundschaften, eine Brieffreundschaft und eine „normale“ Freundschaft. Aber über seine Schicksalsschläge haben wir weder gesprochen noch geschrieben. Ich fand es heikel, das Thema anzuschneiden, und er schwieg beharrlich. Sein Vater hatte zehn Jahre in der Nervenheilanstalt in Alzey gesessen, Schizophrenie. Nach seiner Entlassung arbeitete er in der Leergutannahme eines Supermarkts. Als er wieder fremde Stimmen in seinem Kopf hörte, erhängte er sich im Keller ihres Hauses. Mein Freund hat ihn gefunden. Im nächsten Jahr wurde sein Bruder schizophren, auch er beging Selbstmord. Diese Familienkatastrophen erzählte er ganz nüchtern und sachlich, danach erwähnte er sie nie mehr. Er hatte sicher sein Leben lang Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden.  

Vor einigen Jahren erkrankte er an Krebs und war sieben Monate in stationärer Behandlung. Über einen gemeinsamen Freund ließ er mir ausrichten, dass er mich gerne noch einmal sehen wolle. Nach überstandener Therapie trafen wir uns. Wir haben ein paar Gläser Weinschorle getrunken, die alten Zeiten wieder aufleben lassen und viel gelacht. Es war, als hätten wir uns erst gestern zum letzten Mal gesehen. Er ist inzwischen im Ruhestand und lebt nach dem Tod seiner Mutter allein in seinem Elternhaus. Er muss einen Rollator benutzen und hat als letzte Verwandte eine Schwester, die mit ihrem Mann in der Nähe von Bingen wohnt. Gelegentlich treffe ich Duffy, einen alten Weggefährten. Von ihm erfahre ich, wie es den Helden der Nacht heute geht.    

P.S.: Eine Anekdote noch. Als er Zivildienst bei „Behinderten- und Senioren-Reisen“ (BSR) in Ingelheim machte, wurde ihr VW-Bully von Ganoven geklaut, die damit einen Diamantenhändler in Idar-Oberstein überfielen, 1,5 Millionen Beute machten und anschließend den Kleinbus wieder zurückbrachten. Das Fahrzeug wurde natürlich von Zeugen gesehen. Am nächsten Tag hat das LKA Mainz die komplette Firma hochgenommen und zum Verhör in Handschellen abgeführt. Ich konnte meinem Kumpel für die Nacht ein Alibi geben. Es war Hexennacht und wir waren in unserer Stammkneipe gewesen. Anschließend bin ich mit ihm nach Hause gegangen. Aber er wurde wochenlang beschattet. Immer lustig, wenn zwei kurzhaarige Schweiger, die wir noch nie gesehen hatten, am Nachbartisch sitzen.

P.P.S.: Unser erstes Ingelheimer Rotweinfest im Herbst 1985 endete mit einer Schlägerei mit zwei anderen Jungs. Die amerikanische MP, die damals gemeinsam mit der deutschen Polizei für die Sicherheit bei diesem mehrtätigen Massenbesäufnis sorgte, beendete den Kampf und wir gingen nach Hause. Ungeschlagene Krieger vom Stamme der Suffnasen.     

 

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