Freitag, 26. Juni 2009

Ein Abend voller Überraschungen


Als ich vor dem Kastell ankomme, geht gerade die Sonne unter. Ich klopfe ans Tor und finde es nur angelehnt. Schon von der Eingangshalle aus sehe ich Bruder Pan, der zusammen gekrümmt auf einem Bänkchen kauert. Er starrt selbstvergessen zu Boden, seine sandfarbene Kutte ist verschmutzt und zerrissen. Ein schmales Band abgerollten Toilettenpapiers weist den Weg ins Bad. Ein zerschlagener Spiegel, Unrat über den Boden verteilt, Zeitungen – einzelne Artikel sind mit Buntstiften markiert - , Flaschen, Handtücher, Zahnbürsten, ‚aha‘, denke ich. Dann im Schlafzimmer: aufgeschlitzte Stofftiere, das weiche Futter über die Kissen verteilt, neben dem Bett Pilzer, ein Messer im Hals, ‚aha‘, denke ich, der Schrank ausgeräumt, die Vorhänge herunter gerissen. Im Wohnzimmer ein zertrümmerter Fernseher, eine umgeworfene Couchgarnitur, dazwischen Volk und Reichhardt, offensichtlich erschlagen, eine zerbrochene Vase, ‚aha‘, denke ich, also weiter, in der Küche ein umgestürzter Kühlschrank, Geschirr und Besteck auf dem Fußboden, ein halbfertiger Kuchenteig, Bratwürste, an der Decke Schmelzack, an einer Lampenschnur baumelnd, über und über mit Kartoffelsalat beschmiert, Gürkchen und Ei auf dem Hemd, einen Apfel im Mund, gut, weiter, in der Bibliothek Hasser, ‚aha‘, denke ich, mit einer Plastiktüte erstickt, ich erkenne ihn an den Schuhen, Goethe finde ich auf dem Boden, Tolstoi, alles ist zerstört, gut das hatten wir schon, also weiter: demoliert, aus der Wand gerissen, hingeworfen, dazwischen Bruder Pan, eingeschlagen, umgestürzt, zerhackt, zertreten, Bruder Pan, sage ich, alles ist zerstört, ich bin gekommen, um dich zu richten.

Donnerstag, 18. Juni 2009

Beobachtungen in Gaststätten


Nidda. Hat es der Altkanzler doch noch in die Geschichtsbücher geschafft: Auf der Speisekarte eines Lokals auf der kurischen Nehrung wird die "Kartoffelwurst Helmut Kohl" angeboten. Das gab’s doch seit dem Bismarckhering nicht mehr.

Berlin. Das "Leopold’s" ist so bayrisch wie ein China-Restaurant in Rostock chinesisch ist. Wahlweise hat man von den "rustikalen" Holztischen den Blick auf das trostlose Hochbahn-, Beton- und Stahlelend am Alex oder auf das Innere einer heruntergekommenen ostzonenmäßigen "Mall", in dem sich besagtes Lokal befindet. Das Interieur ist Bayern-Fake von der Stange und so wundert es nicht, daß es das "Leopold’s" gleich viermal in der Stadt gibt. Neugierig machte mich eine Reihe Buchattrappen auf einem Regal über der Garderobe. Was möchte uns der Dekorateur damit sagen? Bücher habe ich bisher in bajuwarischen Schankstuben nie gesehen. Ein Zugeständnis an die Akademisierung der Gesellschaft, ein Lockmittel für zaudernde Intellektuelle mit fleischlichen Gelüsten? Auf seine Kosten kommt der Carnivore hier allemal: Würste, Braten und Haxen ohne Zahl werden auf der in Plastik eingeschweißten Speisekarte feilgeboten. Der von mir bestellte Wildschweinspieß kommt zügig und ist korrekt, die Bedienung ist irgendwo zwischen DDR und bemüht, kommt aber ohne die verlogene Mütterlichkeit und das leutselige Gefasel der Original-Gaststuben Süddeutschlands aus. Das Publikum ist vorwiegend um die Sechzig an diesem Sonntag. Es wird ausschließlich Bier getrunken, die Männer aus großen, die Frauen aus kleinen Krügen. Am Nebentisch sitzen zwei Ehepaare, die mit der Routine des Alters wechselseitig die tausendfach erzählten Kurzgeschichten ihres Lebens zum besten geben. Zunächst kokettieren die Damen bei der Lektüre der Speisekarte mit Salaten, aber man geht nicht in ein solches Lokal, um sich gesund zu ernähren. Alsbald kommen dampfende Teller, die Gerichte werden von der Kellnerin beim Servieren weithin hörbar angesagt: "Einmal Schweinshaxe", "Bratwurst". "Halber Meter" ergänzt einer der Herren und blickt mit triumphierendem Lausbubengrinsen in die Runde. Fünfzehn Minuten geschäftiges Kauen und Schweigen, ich leere meinen zweiten Krug. Beim Hinausgehen sehe ich, daß der alten Mann den halben Meter Bratwurst nicht geschafft hat. Er wirkt enttäuscht und traurig.

München. Ich sitze in einem Biergarten nahe dem Schloß Nymphenburg. Es ist warm, das Bier schmeckt und das Valentineske der Szenerie ist mit Händen zu greifen. Alsbald nähert sich ein grantiger Kriegsveteran meinem Nachbartisch. Seine linke Hand ist zerstört, einige dunkelrote Strünke ragen aus seinem Unterarm hervor. Er setzt sich auf einen der wenigen Stühle, von denen aus man direkt auf eine Betonwand blickt. Als die Kellnerin, die jegliche Konversation mit einem lang gezogenen "Sooo" einleitet, endlich kommt, bestellt er sich ein Bier und weist daraufhin, "die Anderen" sollen selbst bestellen. Das macht neugierig. Wenig später erscheint in der Ferne ein stark übergewichtiger Mann auf Krücken mit einem Begleiter. Schildkrötenhaft zieht er am anderen Ende des Biergartens seine Bahn, um nach einer Weile (sie mag etwa drei Züge aus meinem Bierkrug umfassen) seinem alten Kriegskameraden Gesellschaft zu leisten. Anstatt nun auf einem der vielen Stühle am Tisch Platz zu nehmen, räumt er umständlich mit einer Hand, mit der anderen auf die Krücken gestützt, den Stuhl neben dem Einhändigen von einer Zeitung frei. Danach fragt er den mürrischen triefäugigen Alten – und da ihm seine Fettleibigkeit Atemnot bereitet, bleckt er dabei seine tiefgrauen Zahnreihen zu einem humorlosen Totenkopfgrinsen - , ob denn das fragile Sitzmöbel ihn tragen könne. Durch ein Grunzen positiv beschieden, senkt er alsdann sein breites Gesäß. Der Vorgang dauert lange und wird durch jenes herausgepresste Stöhnen begleitet, das wir gemeinhin von schweren Verstopfungen kennen. Nachdem er glücklich auf dem Stuhl angelangt ist, widmen sich die beiden Alten der Getränkekarte. Mit einer Mischung aus Entrüstung und Fassungslosigkeit lesen sie sich wechselseitig vor. "A Viertelliter Apfelsaft ... vier Mark!" "Orangensaft ... Wahnsinn!" "De Schnäps konnst glei goar ned saufen ... sechs Mark!" Dieses Ritual wiederholt sich, als sich endlich auch der Begleiter des Dicken an den Tisch setzt.

Donnerstag, 11. Juni 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 6


Hätte Mardo sich schuldig fühlen sollen? Aber Eifersucht bildet nun einmal die Geschäftsgrundlage eines Privatdetektivs. Oder ist das Lesepublikum an allem Schuld, ein Publikum, das nach realistischer Darstellung verlangt? Vielleicht war es ein einzelner Leserbrief, der den Schriftsteller zu diesem ungewöhnlichen Schritt veranlasst hatte? Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass man sich diese Fragen erst stellt, wenn alles vorbei und wenn alles zu spät ist. Mardo dachte vermutlich an ganz einfache Dinge wie Geld oder an Dinge, die man sich mit Geld kaufen konnte, als Enrico Lauchhobel eines Nachmittags sein Büro betrat.

Lauchhobel stammte aus dem Erzgebirge und hatte es mit dem "Content Grill", einer Medienagentur in Mitte, zu bescheidenem Wohlstand gebracht. In seiner Freizeit schrieb er Kriminalromane, die er in einem kleinen Zuschussverlag veröffentlichen ließ. Und weil es entweder ihm oder einem Leser an Realismus mangelte, beschloss der Autor, einen Privatdetektiv aufzusuchen. Womöglich hatte er sich einfach die nächstbeste Detektei aus den Gelben Seiten gesucht, denn seine Agentur am Rosenthaler Platz war nicht allzu weit von Mardos Büro im Brunnenviertel entfernt. Sicherlich spielte auch Lauchhobels mangelnde Phantasie eine besondere Rolle in dem Fall, denn als Mardo seinen Gast nach einem konkreten Auftrag fragte, nannte er spontan den Namen seiner Lebensgefährtin: Amanda Lobesang. Und der Ausdruck "Lebensgefährtin" kommt bekanntlich von "Lebensgefahr".

"Verstehe ich Sie richtig? Sie haben keine konrekten Verdachtsmomente und möchten trotzdem Frau Lobesang obersvieren lassen?" Mardo kratzte sich hinter dem linken Ohr.
"Ja, ich möchte einfach wissen, wie der Arbeitsalltag eines Privatdetektivs aussieht. Deswegen wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein ausführliches Protokoll über Ihren Einsatz schreiben könnten. Anschließend können wir uns ja dann noch einmal über fachliche Details unterhalten, ich zahle gerne etwas mehr als das übliche Honorar." Lauchhobel war einer dieser permanent energiegeladenen und schwerbegeisterten Geschäftsleute, die Mardo schon immer gehasst hatte. "Tragen Sie zum Beispiel eine Waffe?" fragte er mit neugierigem Lächeln.
"Nein", antwortete Mardo. "Ich glaube, der wirkliche Alltag eines Privatdetektivs wäre für Ihre Leser uninteressant. Zu viele belegte Brötchen aus zweiter Hand, zu viele dunkle Fenster und geschlossene Türen."
"Genau das brauche ich für mein nächstes Buch. Und Lokalkolorit. Die Gegend hier ist so herrlich morbid." Lauchhobel hatte die unangenehme Eigenschaft, mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen in die Luft zu malen, wenn er einen Begriff besonders betonen wollte. "Morbid" zum Beispiel. Mardo fielen die Hände seines Kunden auf: Sie waren groß, weiß und vollkommen unbehaart. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Handschuhe.
Während Lauchhobel weitersprach und sichtlich die Situation genoss, mit einem waschechten Privatdetektiv in dessen Büro zu sitzen, fragte sich Mardo, warum sein Kiez einen so merkwürdigen Eindruck auf Lauchhobel machte. Hinter einem Riegel architektonischer Nüchternheit an der Brunnenstraße verborgen gab es schöne helle Altbauten und große Bäume, in denen der Wind rauschte. Alles in allem nicht übel – aber er wusste nicht, wo Lauchhobel wohnte.
"Vielleicht kann ich Sie ja begleiten, als eine Art ‚Hilfssheriff‘." Da waren wieder die Anführungszeichen. Mardo unterdrückte das wachsende Verlangen nach schwerer Körperverletzung und versuchte, sich auf den Inhalt des Gesprächs zu konzentrieren. Keine leichte Aufgabe angesichts der krähenden Eitelkeit seines Gegenübers.
"Das erlaubt unsere Berufsordnung leider nicht", log Mardo, ohne rot zu werden. "Außerdem widerspricht es meinen Erfahrungen. ‚Besser seinen Weg allein gehen als in schlechter Begleitung‘, heißt es in einem spanischen Sprichwort." Einen Augenblick lang dachte er daran, Lauchhobels Geste zu kopieren, fürchtete jedoch, sie dann nie wieder loswerden zu können. Er konnte in diesem Job keine Hilfe und keine Kollegen gebrauchen, Pestbeulen wie Lauchhobel schon gar nicht.

"Ist das meins?" fragte die Bäckereiverkäuferin und deutete auf das Zwei-Euro-Stück in der durchsichtigen Plastikschale auf dem Verkaufstresen.
"Jetzt schon", antwortete Mardo grinsend und nahm das Mozarellabrötchen und die Rosinenschnecke in Empfang.
Es war kurz vor Ausbruch eines heftigen Gewitters und die Hungrigen belagerten die "Kornblume" in Doppelreihen. Wenig später ging Mardo, ausgestattet mit der Zuversicht eines satten Menschen, der gerade fünfhundert Euro Vorschuss für eine dreitägige Observierung kassiert hatte, hinaus auf die Straße, deren feuchter Asphalt in der Junisonne dampfte. Zunächst wollte er sich Wohnort und Arbeitsplatz von Amanda Lobesang anschauen.
Mit der U 9 fuhr er bis zum Ku’damm. Trotz der Hitze trug eine ältere Frau in seinem Wagen einen langen hellgrauen Mantel. Als sie an ihm vorüberging, sah er, dass sie in Großbuchstaben einen Appell zur Rettung der Wale auf ihren Rücken geschrieben hatte. Das erinnerte ihn an die ältere Dame, die ihm einmal an der Gedächtniskirche bei Minustemperaturen zugeraunt hatte: "Gib’s auf! Es hat alles keinen Sinn." Noch schlimmer sind eigentlich nur noch die greisen Krawallschachteln, die jeden anpöbeln oder einfach nur vor sich hingrummeln. Alten Frauen gegenüber fühlte sich Mardo immer hilflos, denn jeder argumentative Widerstand war völlig zwecklos. Und die Wale konnte er sowieso nicht retten, er konnte ja noch nicht mal schwimmen. Vielleicht sollte er wieder zum monatlichen "Stammtisch gegen Rechts" in die "Rote Laterne" am Vinetaplatz gehen? Aber er hatte am frühen Morgen schon die Aktion "Duschen für den Frieden" hinter sich gebracht, gefolgt von "Marmeladenbrot gegen Atomkraft" und "Kaffee für ein freies Tibet".
Auf dem Ku’damm ging es mit dem Bus weiter in Richtung Grunewald. Lauchhobel war für ein paar Tage verreist, um sein neues Underground-Magazin "Russen-Transe" einigen Verlagen in Hamburg und Köln vorzustellen. Die Villa in der Winklerstraße, in der er mit seiner Lebensgefährtin eine großzügige Eigentumswohnung besaß, war schneeweiß, mit Stuck verziert und von griechischen Götterstatuen eingerahmt. Mardo war nicht neidisch. In Berlin gibt es die Stadtteile der Herren und die Stadtteile der Knechte. Mardo hatte nie Illusionen darüber gehabt, wo er wohnte und wohin er immer gehören würde. Er sah sich ein bißchen um. Es gab nur wenige Läden und sie schienen kaum etwas nützliches anbieten zu können. Hier im goldenen Westen laufen die Geschäfte ganz einfach: ein schräger bis witziger Name, edle Einrichtung, ein paar diensteifrige und devote Angestellte (UdK-Abschluss erwünscht) – schon verkauft sich jede Bratpfanne als Designermodell zum doppelten Preis, im Vergleich zum Wedding zum dreifachen.

"Alois Handschuhmacher? Dieser Knilch aus Bayern?" Lauchhobel rang mühsam mit seiner Fassung, Schweiß glitzerte auf seinen Schläfen. "Das ist doch total lächerlich."
Mardo kannte die Situation nur zu gut. Als Detektiv musste man in dieser Phase ganz ruhig bleiben, irgendwann würde die Ungläubigkeit seines Kunden in Zorn umschlagen. Jedem Ehemann ging es so. Warum kam er zu Mardo? Weil er einen Verdacht hatte. Aber in diesem Falle war es etwas besonderes: Alles war nur ein Spiel gewesen. Lauchhobel hatte einfach einen Namen genannt, es hätte jeder aus seinem Umfeld sein können.
Mardo holte die Fotos aus dem Umschlag und breitete sie vor seinem Kunden aus. Amanda Lobesang betritt gemeinsam mit einem Mann das Haus, erst am nächsten Morgen verlassen sie es wieder, diesmal getrennt. Mardo hatte sich Marys Toyota ausgeliehen und saß, etwas von der Villa entfernt, am Steuer und futterte Bonbons in sich hinein, die Mary in den ansonsten unbenutzten Aschenbecher gelegt hatte. Mardo hatte das heimliche Liebespaar auch am nächsten Tag unauffällig begleitet, als sie in einer beliebten Osteria in der Kreuzbergstraße ein opulentes Abendessen, sicher auf Firmenspesen, genossen, während Mardo schnell bei "Curry 36" am Mehringdamm vorbeifuhr, um im Stehen eine Wurst zu verdrücken. Er wartete auch brav vor einer Cocktailbar am Winterfeldtplatz, schließlich war das sein Job.
"Diese verdammte Schlampe!" Phase 2: Der Kunde realisiert die Fakten und bereitet sich auf Phase 3 vor. Phase 3 sind die Konsequenzen und in Phase 3 verschickt man als Detektiv eine Rechnung und hofft, aus dem Fall noch ein paar Euro rauskitzeln zu können.

Aber zu Phase 3 war es nie gekommen. Kommissar Leber erzählte ihm den Rest im "Revolution No. 9", einer kleinen Bar im Brunnenviertel. Natürlich würde er noch im LKA in der Keithstraße vorbeischauen müssen, um seine Aussage zu Protokoll zu geben. Lauchhobel hatte Amanda Lobesang noch am selben Tag erwürgt, an dem er aus Mardos Büro in der Ramlerstraße gestürmt war. Mit einer Gitarrensaite, was wiederum deutlich machte, dass Lauchhobel nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch sehr kreativ sein konnte.
Hätte Mardo den Mord verhindern können? Hätte er Lauchhobel einfach etwas vorspielen sollen? Es wäre leicht gewesen, den Detektiv nur zu spielen. Aber Mardo spielte nicht gerne. Wäre er überhaupt glaubwürdig gewesen, wenn er sich nur gespielt hätte? Nachdenklich goß er das kleine Orangenbäumchen auf dem Fensterbrett. Auf diese Fragen würde er nie eine Antwort finden, und er wollte sie inzwischen auch gar nicht mehr suchen, denn er bekam Kopfschmerzen davon. "Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück." (Gottfried Benn)

Dienstag, 9. Juni 2009

Die Weltkrise


Das Schöne an der Krise ist ja: Ich lebe in Berlin. Berlin hat die Krise schon hinter sich, das war in den Neunzigern, seitdem wurde die Arbeiterschaft durch das Prekariat ersetzt und die herumstreunenden Eingeborenen werden mit Döner gefüttert. Anderswo in Frankfurt oder München heulen derweil jedoch die Bankiers bittere Tränen auf ihre Kaviarhäppchen, dort ist die Megakrise in jedem Schmuckgeschäft mit Händen zu greifen. Was haben wir gelacht, gerade über die Milliardäre, die dieser Tage wie Sternschnuppen abstürzen! Aber jetzt ist die absolute Wahnsinnskrise auch bei uns angekommen: Karstadt insolvent – KaDeWe und Wertheim akut gefährdet – Umtausch und Gutscheineinlösung in den nächsten Tagen empfohlen. Nimmt man dem einfachen Volk jetzt auch noch die Feinkostabteilung? Werden Juwelendiebe zukünftig noch Arbeit in dieser Stadt finden? Wird der sechzigjährige Experte für bulgarischen Hüttenkäse wieder einen neuen Arbeitsplatz finden? Offene Fragen in einer Stadt, die dem Ausnahmezustand entgegen taumelt.

Freitag, 5. Juni 2009

Später Besuch


"Guten Abend."
Ich zuckte herum. "Wer sind Sie?"
Er grinste, mit spöttischem Blick schätzte er die Lage ein. "Ich wohne hier."
"Hier?" Ich war überrascht. Meine Wohnung hat nur ein Zimmer, ein Bad, eine Küche und einen Flur. Wie sollte ich einen zweiten Bewohner übersehen haben? Meine Einsamkeit ist eine endgültige, ich bin alleine, nur das ferne Geräusch der Straße erinnert mich an das Leben der Anderen.
"Natürlich. Ich lebe schon lange hier." Der Blick wurde triumphierend, er stemmte seine Arme in die Seite.
"Aber", begann ich, "von wo kommen Sie denn?" Meine vorgereckten Hände ließen mich wie einen hoffnungslosen Verteidiger erscheinen.
Mit der Geste eines Zirkusdirektors wies er hinter sich. "Sehen Sie doch, dort ist meine Tür."
Und tatsächlich war dort eine kaum sichtbare Tapetentür. Ich trat näher, um ihre Umrisse besser sehen zu können.
"Kommen Sie ruhig hinein. Ich zeige Ihnen alles." Das Lächeln wurde breit und sehr sicher.
Er öffnete die Tür. Ich sah ein riesiges Zimmer, sogar einen Konzertflügel hatte er. Wie konnte ich all das je überhört, übersehen haben? Der Mann hatte ja Recht, ich schuldete ihm jede Anerkennung. Bilder an den Wänden, mit überlebensgroßen Menschen darauf. Und tatsächlich hatte er einen Ausblick auf die Straße, die jedem Raum in meiner Wohnung verwehrt geblieben ist. Mit vaterhaftem Stolz führte er mich an das Fenster und erklärte mir mit ruhiger Stimme das ozeangleiche Gewirr der alltäglichen Welt.

Ein Esskünstler


Zum Frühstück gab es heute drei Spiegeleier mit Speck, dazu eine große Portion geräucherten schottischen Lachs mit Sahnemeerrettich und zum Abschluß ein Zitronensahnetörtchen. Ich darf es nicht übertreiben, dann am Nachmittag trete ich wieder auf dem Jahrmarkt auf. Von Beruf bin ich Esskünstler, ich esse große Mengen vor Publikum. Die Menschen betrachten am liebsten das Essen von Fleisch in jeder Form: riesige Steaks, Boulettenberge, ganze Gänse und Würste aller Art. Sie lachen und schütteln den Kopf, die Kleinen zeigen mit dem Finger auf mich. Ich esse nicht schnell, ich nehme daher auch nie an den beliebten Wettessen teil, die vorzugsweise in Amerika veranstaltet werden. Aber ich esse gleichmäßig und ausdauernd, über eine Stunde lang schiebe ich Bissen um Bissen in den Mund. Dann bleibe ich noch eine Weile sitzen, so daß die Leute nicht denken, ich würde nur essen, aber nicht verdauen. Schließlich bin ich kein x-beliebiger Bulimist. Ich schaffe meist etwa zwei Kilogramm gebratenes Fleisch oder zwanzig Bouletten oder drei Dutzend Würstchen, die ich mit einigen Litern Bier hinunter spüle. Die Leute bleiben gerne stehen und schauen mir eine Weile staunend zu. Sie begreifen nicht, wie ein so kleiner dünner Mann soviel essen kann. Auch am Abend und in der Nacht, wenn ich längst wieder alleine bin, muss ich essen. Und trotzdem werde ich von Tag zu Tag dünner. Ich esse unaufhörlich und trotzdem verhungere ich. Kuchen, Suppen, Nudeln, Pizza, Schokolade, Nüsse und Pralinen. Ich werde sterben, egal was ich noch alles in mich hinein fressen werde, soviel ist gewiß.

Donnerstag, 4. Juni 2009

Kiezschreiber live

Am Sonntag, den 7. Juni, ist der Kiezschreiber von 12:10 bis 12:30 Uhr auf radioBERLIN 88,8 zu hören.