Dienstag, 31. Mai 2016

Retrostuff: Hier spricht der einunddreißigste Mai 1990

Eine zeit geht zu ende
Letzter dumpfer schon hirnverschwurbelter blick aus dem fenster
Im prinzip seit ’66 derselbe ausblick
Aber alles natürlich ganz, gaaanz anders damals

Die straße noch nicht geteert
Hinter dem nächsten haus begann die wildnis
Als kind dachte ich, hinter diesen endlosen feldern und kleinen auwäldchen wäre die welt zu ende
Was sollte nach dieser natur, die zumindest einen letzten rest von zauber atmete, noch kommen

Heute bedeckt eine weitläufige tennisanlage die gegend
Und der weg zum fluss ist von der autobahn durchschnitten
Inzwischen steht in meinem zimmer ein großer haufen technik
Ich kann ohne strom nicht mehr leben und ohne strom könnte ich noch nicht mal diese zeilen schreiben

Jetzt geht es weiter
Ein billiger mädchenchor singt dazu:
„Mach’s gut, blöder gonzo, mach’s gut – aber verpiss dich endlich“
Tja, gonzo, die bist eben nur der langweiligste clown der welt und es wäre ein lebendiges wunder gottes, wenn sie dir nicht jeden tag dafür in den arsch treten würden, bruder

P.S.: Am 1. Juni 1990 bin ich endgültig aus Ingelheim fortgezogen. Sieben Jahre später wurde die Wohnung in der Unteren Muhl 1 nach dem Tod meiner Mutter aufgelöst.
Prince - Sometimes It Snows In April. https://www.youtube.com/watch?v=w8SE9AwehDQ

Montag, 30. Mai 2016

Der Kartoffelsalat

„Wenn er weinen musste, versuchte er, wie ein Mann zu weinen, in seine geballten Fäuste.“ (Ludwig Fels: Ein Unding der Liebe)
Es war einer dieser unerträglich heißen Tage im August. Ich stand mit einem Kollegen gegenüber dem Campingplatz. Besser gesagt: Wir saßen. Der alte VW-Bus stand. Verkehrskontrolle. Bei diesem Wetter eine Bestrafung für jeden Polizeibeamten.
Als der BMW vorbeiflog, mussten wir gar nicht auf das Radargerät schauen. Mindestens hundertfünfzig. Ich startete den Wagen und wir fuhren ihm hinterher. Mein Kollege rief die Zentrale über Funk an.
Zwei Dörfer weiter fanden wir ihn. Ortsausgang Wichtelbach. Der BMW stand am Ende einer Bremsspur halb im Vorgarten eines alten Fachwerkhauses.
Auf der Straße lag ein junger Mann, den Kopf in einer Blutlache. Wie ein roter Heiligenschein.
Ein älterer Herr mit Cordhut und Hosenträgern stand auf der anderen Straßenseite.
„Ich habe ihn nicht kommen sehen. Es ging alles so schnell.“
Ich nickte dem Kollegen zu, er rief über Funk den Krankenwagen.
Als ich mich über den Verletzten beugte, sah er mich an.
„Die verdammte Sau … die Sau hat das Geld.“
„Sagen Sie mir bitte Ihren Namen.“ Ich wollte nicht, dass er ohnmächtig wurde. Also redete ich mit ihm.
„Frank Schröder.“
Der Schröder! Vor zwei Stunden war er aus dem Gefängnis in der nahen Kreisstadt ausgebrochen. Wir hatten die Meldung über Funk erhalten. Den BMW hatte er wahrscheinlich geklaut.
Er drehte den Kopf ein wenig und blickte zu dem alten Haus hinüber.
„Die Sau … diese dreckige Hure.“
Ich sah zum Haus hinüber. Im ersten Stock sah ich eine junge Frau mit langen dunkelbraunen Haaren am Fenster stehen.
Mein Kollege blieb bei dem Verletzten, ich ging zum Haus hinüber und klingelte.
Die junge Frau öffnete mir.
„Was wollte Frank Schröder von Ihnen?“ Ich bluffte.
Sie erschrak bei der Frage. „Keine Ahnung.“
„Darf ich reinkommen?“
Sie nickte und ließ mich in den Flur. Ich schaute mich im Erdgeschoss um. Alles durchwühlt und umgeschmissen.
„Was hat er hier gesucht?“
Schröder hatte wegen eines Banküberfalls gesessen. Die Beute, fünfzigtausend Euro, war nie wieder aufgetaucht.
„Keine Ahnung.“
Im ersten Stock lagen ihre Kleider über den Boden verstreut. Die Schubladen der Kommode herausgerissen und umgekippt.
Und dann sah ich ihn.
Den Kartoffelsalat.
Auf dem Küchentisch. Stand einfach so herum. Bei dieser Hitze. Kein Teller daneben, kein Besteck, kein Getränk, keine Serviette.
Nur der Kartoffelsalat.
Ich sah zur jungen Frau hinüber, die schweigend und mit hängendem Kopf neben mir stand. Ihre Hose war mit Mayonnaise beschmiert.
Ich kippte den Kartoffelsalat in die Spüle und stocherte mit einem Kugelschreiber darin herum.
Lupenreiner Diamant. In einen Goldring gefasst. Sehr teuer. Vermutlich fünfzigtausend Euro wert.
Ich sah sie an.
„Ich war gerade in der Küche, als ich den Wagen hörte. Also habe ich den Ring versteckt.“ Sie sah mir nicht in die Augen.
„Gehen wir.“
Als wir aus dem Haus traten, war Frank Schröder schon tot.
She Past Away - Kasvetli Kutlama. https://www.youtube.com/watch?v=oy2x_kHCy4w

Sonntag, 29. Mai 2016

Blogstuff 45

„Man sollte jeden Tag mindestens einmal lachen und einmal an den Tod denken.“ (The Walking Dad)
Der Tortenwurf als politisches Ausdrucksmittel hat eine lange Tradition und wurde in Deutschland von Fritz Teufel aus Ingelheim 1968 begründet. Die Linke hat auf die Tortur Wagenknechts gestern genauso humorlos reagiert wie weiland Philip R. als Wirtschaftsminister. Mein Vater hat bei einer Familienfeier mal so eine Nummer abgezogen. Alles war am Küchentisch versammelt und es gab Spaghetti Bolognese. Mein Lieblingsessen, weil ich Geburtstag hatte. Mein Vater schnupperte misstrauisch an seinem Teller und sagte, das Essen hätte einen komischen Geruch. Ich sollte doch auch mal dran riechen. Ich hielt die Nase übers Essen und er drückte mir volle Kanne das Gesicht in die Soße. Ich muss ausgesehen haben wie ein Vollidiot, das Gelächter hat minutenlang gedauert. Was willste machen? Weil alle lachten, lachte ich natürlich mit.
Orville Knox hatte sich im Bereich der professionellen Konfitürenberatung selbstständig gemacht.
Warum gibt es nur Selfies der Kanzlerin mit Flüchtlingen, warum nicht auch mit Obdachlosen oder Hartz IV-Empfängern? Die Zustände in den Obdachlosenasylen sind seit Jahrzehnten skandalös und auf den Baustellen hausen Zehntausende in Containern, ohne dass man die Lebensumstände dieser Arbeitsmigranten jemals zum Thema gemacht hätte.
Kalauer der Woche: Metzgerlehrlinge werden gerne als „blutige Anfänger“ bezeichnet.
Achtung, Wortschatzerweiterung: Für Andy Bonetti gab es nie Stufen zum Erfolg. Es war ein einziges GLISSANDO.
Inzwischen ist der Preis für Fasswein in unserer Gegend auf durchschnittlich sechzig Cent pro Liter gesunken. Den Wein verkauft der Winzer natürlich gerne direkt vom Hof an den Kunden. So kaufe ich meinen Wein ja auch. Aber der Rest geht als Fasswein an die großen Kellereien und damit an die großen Handelskonzerne, deren Filialen wir alle kennen – und damit haben die Weinbauern die gleichen Probleme wie die Milchbauern. Das ist die pure Abzocke. Denken Sie daran, wenn sie demnächst für ein Glas Wein in einem Restaurant fünf Euro bezahlen.
Derzeit schreibt Andy Bonetti an einer Farce über den letzten Tag von Angela Merkel im Berliner Regierungsviertel. Arbeitstitel: „The Dead Lady of Clown Town“ (für diese Überschrift bedanke ich mich bei Cordwainer Smith und der Vorsehung; eine Mark habe ich 1981 für das Taschenbuch mit seinen Kurzgeschichten bezahlt, das ich auf dem Wühltisch eines Ingelheimer Kaufhauses namens „Wertkauf“ entdeckt hatte).
Hätten Sie’s gewusst? Andrea Nahles hat ihren Magister mit einer Arbeit zum Thema „Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“ gemacht.
Man kann telefonisch einen Termin bei der Maniküre oder Pediküre ausmachen und dann mit dem Auto hinfahren. Das dauert eine Stunde und kostet Geld. Man kann aber auch einfach im Badezimmer seine Nägel selbst schneiden. Das geht ganz schnell und ist kostenlos. Reiche Leute haben merkwürdige Sitten. Ich kenne sogar eine Sekretärin, die dieses Oberschichtverhalten seit Jahren kopiert.
16. Mai 1966: Beginn der Kulturrevolution in China, 30. Juli 1966: Endspiel der Fußball-WM zwischen Deutschland und England, 14. August 1966: ich komme in Ingelheim zur Welt. Mao, Wembley-Tor, Geburt – das war eine wilde Zeit damals …
Eine Reise ins Unbekannte, ins Ungewisse nennt man eine „Fahrt ins Blaue“. Warum steht die Farbe Blau für das Unbekannte? Und für Poesie, Trunkenheit, Sehnsucht, Romantik („die blaue Blume“) und Melancholie („feeling blue“)? Man kann übrigens auch „ins Blaue hineinreden“, im Berufsleben „blau machen“ und „sein blaues Wunder erleben“, wenn man z.B. einen „blauen Brief“ bekommt.
Für wen ist Gewalt eigentlich wirklich Teil des Lebens? Wann haben Sie zuletzt einen anderen Menschen geschlagen, wann wurden Sie zuletzt von einem Menschen geschlagen? Für die überwiegende Mehrheit von uns spielt Gewalt längst keine Rolle mehr. Aber in den Medien geht es täglich um Gewalt. Als ob man verhindern wollte, dass wir uns endgültig von der Gewalt und vom Krieg entwöhnen.
Prince - Erotic City. https://www.youtube.com/watch?v=uvlhSjObvjk

Samstag, 28. Mai 2016

Die Ruhe

Er saß auf der Parkbank
Mit der stoischen Würde eines Kinoindianers
Und fütterte die Penner
Mit kalten Pommes frites

Fäkalträumereien

„Die Chemie stimmte nicht zwischen uns, die Physik stimmte nicht, der Sportunterricht nicht, die Deutschstunde nicht, Erdkunde und Religion auch nicht.“ (Andreas Glumm)
Natürlich war es mir peinlich, als ich aufgewacht bin. Wem wäre es nicht peinlich gewesen? Sollte ich das überhaupt aufschreiben und auch noch veröffentlichen? Einem Publikum präsentieren, das täglich nur die allerbeste Textqualität gewohnt ist? Metapherngesättigte, sinnstiftende Prosa auf Weltniveau. Vom Dichterfürsten Bonetti himself. Erste Sahne, frisch gezapft.
Und jetzt so ein, ich möchte fast sagen, dahingeschissener Traum ohne tiefere Bedeutung. Muss das sein, frage ich mich und bin doch schon mitten drin. Aber der Reihe nach.
Es erreicht mich ein Brief der Behörde. Mein Abitur ist ungültig. Muss ich nochmal machen. Und ich muss auch nochmal bei meiner Mutter in Ingelheim einziehen. Und das in meinem Alter! Aber ich widerspreche nicht. Die Behörde wird schon wissen, was sie tut.
Der Vorteil: Ich muss nicht die ganze Schule wiederholen, sondern steige in der zwölften Klasse ein. Ich rechne also schnell nach. Jetzt haben wir Mai und im Januar muss ich das schriftliche Abitur machen. Zieht man die Ferien ab, ist das ein halbes Jahr. Und vielleicht mache ich das Abitur ja mit einem besseren Schnitt als damals vor dreißig Jahren? Dann könnte ich auch was Sinnvolles studieren und nicht so einen Blödsinn wie in meiner Jugend, als mir der Numerus Clausus viele Wege versperrte.
Das sind meine Überlegungen, als ich an der Bushaltestelle stehe und auf den Schulbus warte. Man muss das auch mal positiv sehen. Ich bin ein bisschen aufgeregt, denn ich war noch nie in dem neuen Schulgebäude, von dem ich nur die Adresse aus dem Behördenbrief kenne, und selbstverständlich kenne ich dort niemanden. Ich werde auf jeden Fall der älteste Schüler sein, soviel ist klar. Denn ich bin der einzige Mensch in Ingelheim, der das Abitur nochmal machen muss.
Endlich kommt der Bus und ich steige ein. Kinder aus aller Herren Länder sitzen auf den Bänken. Die Welt in einem Schulbus! Ich bleibe auf dem Gang stehen, weil ich keine Lust habe, den ganzen Bus nach einem freien Platz abzusuchen. Die Fahrt dauert ohnehin nicht lange, denn Ingelheim ist nicht groß.
Erst jetzt merke ich, dass ich nur eine Unterhose trage. Und natürlich meinen signalorangefarbenen Schulranzen, den ich wirklich in meiner Grundschulzeit hatte. Wo war ich nur mit meinen Gedanken, als ich aus dem Haus gegangen bin? So kann ich natürlich nicht zur Schule und darum steige ich an der nächsten Haltestelle aus und laufe zurück.
Meine Mutter ist natürlich längst weg, denke ich. Und ich habe keinen Hausschlüssel dabei. Und auch kein Handy. Da brauche ich erst gar nicht meine Taschen zu durchwühlen, denn ich habe ja nur die Unterhose an. Der Ranzen ist – zu meinem hellen Entsetzen – völlig leer. Noch nicht mal ein Stift ist zu finden.
Ich beschließe, mich vor unsere Wohnungstür zu setzen, und auf meine Mutter zu warten. Dann verpasse ich eben meinen ersten Schultag. Was soll’s? Als ich an die Tür komme, sehe ich, dass der Wohnungsschlüssel von außen steckt. Habe ich glatt vergessen! Aber ich kann in die Wohnung.
Ich ziehe mich an, stecke Schlüssel und Handy ein und packe meinen Ranzen. Heute ist Projekttag. Das Thema ist: Scheiße. Jeder muss zu diesem Thema etwas mitbringen. Eine Fotographie, eine Zeichnung oder echte Scheiße auf einem Teller. Vom Menschen, vom Hund oder auch die Kügelchen, die Kaninchen und Rehe hinterlassen. Ich habe natürlich nichts vorbereitet.
Dann wache ich auf.
Ich muss mal.
Groß.
Lillywood & the Prick and Robin Schulz - Prayer In C. https://www.youtube.com/watch?v=dS-986Esqd0
P.S.: Dies ist ein Beitrag aus der Serie "Körperflüssigkeiten". Der Kiezneurotiker hat mit Erbrochenem angefangen, ich habe mit Fäkalien weitergemacht. Wer übernimmt Blut oder Urin?

Freitag, 27. Mai 2016

Triest III

„Sisyphos lag auf einer Wiese am Berghang und betrachtete lächelnd die Wolken, die langsam über ihm vorüberzogen.“ (Johnny Malta: Lass es sein – Arbeit 4.0)
Ich bin jetzt seit zwei Wochen in der Stadt und habe immer noch keinen Menschen kennengelernt. Meine letzte Freundin hat mich für unreif gehalten. Das ist richtig, aber es ist noch viel schlimmer. Ich bin unfertig und werde es immer bleiben. Noch sieht alles so aus, als sei etwas im Entstehen, als würde etwas aufgebaut werden. Das stimmt nicht. Was nach Rohbau aussieht, ist in eine Ruine. Es fehlen die tragenden Elemente. Wie sollte ein Schelm zu einer Stütze der Gesellschaft werden? Ein Schelm gründet keine Familie, er baut kein Haus und er pflanzt auch keinen Baum. Ein Schelm führt seinen Narrentanz auf. Mehr kann er nicht und mehr können wir von ihm auch nicht verlangen.
Ich beschloss, mich einem neuen Projekt zu widmen. Ich wollte mich mit den Schriftstellern beschäftigen, die in dieser Stadt gewirkt hatten. Also konzentrierte ich mich auf Joyce, Svevo und Rilke. Ich las ihre Bücher, ich las Biographien und alles andere, was ich zu ihrem Leben finden konnte. Ich suchte die Orte auf, die sie aufgesucht hatten.
Joyce traf ich eines Abends in einem Lokal in der Via Risorta. Ich hatte bereits einige Gläser Absinth getrunken, als ich auf ihn aufmerksam wurde. Er saß allein an einem Tisch im Halbdunkel und las eine Zeitung.
„Mein Name ist Jiminy Pastrama“, log ich in den blauen Dunst des „Da Libero“ hinein und trat zu ihm an den Tisch. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Mit derlei routinierten Provokationen pflege ich mein Leben aufzulockern und die meisten Menschen reagieren zu spät, um das Eindringen in ihre Privatsphäre zu verhindern.
„Gerne“, antwortete James Joyce matt.
„Sind Sie schon lange in dieser Stadt?“
„Ja, schon seit einigen Jahren. Ich arbeite als Englisch-Lehrer.“
„Aber das ist doch furchtbar langweilig“, entfuhr es mir.
Joyce lachte. „Das ist wahr. Aber nicht alle meine Schüler sind so schrecklich, wie Sie jetzt vielleicht vermuten werden. Ich unterrichte ja nicht nur Kinder. Was führt Sie nach Triest?“
„Ich flaniere gerne durch die italienischen Städte und Triest ist die große Unbekannte. Beim Gehen kommen mir die besten Gedanken und in den Kaffeehäusern und Kneipen kann man die Menschen am besten beobachten.“
Joyce schaute mich verblüfft an und schlug dann lachend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Mir geht es ganz genauso! Ich schlendere stundenlang durch die Stadt und abends sitze ich dann in den Bars und Kaschemmen, um das Leben in mich einzusaugen. Mir strömen so viele Gedanken durch den Kopf, aber wenn ich abends nach Hause komme und meine Notizen mache, habe ich das meiste vergessen. Ich bin nämlich eigentlich Schriftsteller, müssen Sie wissen.“
„Ich auch und ich habe die Lösung für Ihr Problem“ sagte ich und zog ein Diktaphon aus der Jackentasche. „Mit diesem Diktaphon können Sie Ihre Ideen aufzeichnen und bei Bedarf auch manchen Dialog am Tresen mitschneiden. Zuhause müssen Sie es nur noch abtippen.“
Joyce bedankte sich für dieses Geschenk. In seinem Hauptwerk „Ulysses“ nutzte er den „stream of consciousness“ als Schreibtechnik, um den uferlosen Prozess des menschlichen Denkens, des plötzlichen Assoziierens und fragmentarischen Erinnerns literarisch darstellen zu können. Ohne mein Diktaphon wäre aus diesem Buch kein Meisterwerk geworden.
Ein kleiner schnurrbärtiger Mann in einem dunklen Dreiteiler mit Fliege trat an unseren Tisch.
„Darf ich vorstellen?“ fragte Joyce. „Das ist Ettore Schmitz, einer meiner Schüler. Er ist auch Schriftsteller.“
„Sehr erfreut“, sagte ich, erhob mich und gab ihm brav die Hand.
Als wir die nächste Runde bestellt hatten, zog ich ein Manuskript aus meiner Jackentasche und sagte: „Ich habe vor einigen Tagen einen kurzen Text geschrieben, den ich Ihnen gerne zu Gehör bringen möchte. Mich interessiert Ihre Meinung als Fachkollegen.“
Die beiden Literaten lehnten sich in ihre Sessel zurück und hörten mir aufmerksam zu, während sie ihre Zigaretten rauchten. Meine kleine Erzählung trug den Titel „Triest“.
„Wie amüsant“, sagte Svevo. „Endlich schreibt mal jemand etwas über meine Heimatstadt.“
„Aber ich bin doch nur ein flüchtiger Gast. Warum schreiben Sie nicht selbst einen Roman über diese Stadt?“
Svevo schaute mich ganz verblüfft an. „Ja. Warum eigentlich nicht?“
Er lächelte verschmitzt und nahm eine weitere Zigarette aus seinem silbernen Etui. „La ultima sigaretta.“
So entstand „La coscienza di Zeno”, ein Roman über einen Lebenskünstler, der es nicht schafft, seine letzte Zigarette zu rauchen. Er lebt vom Geld seines Vaters, der ihm auf dem Sterbebett eine Ohrfeige gibt. Schmitz veröffentlichte ihn unter seinem Künstlernamen Italo Svevo. Was die wenigsten wissen: Schmitz alias Svevo wurde als Leopold Bloom im „Ulysses” verewigt.
Rilke habe ich gleich erkannt. Dieser stechende Blick aus irren Augen. Der dicke Schnurrbart, der sich um die Mundwinkel herum bog. Die hohe Stirn, das zurückweichende Haar. Er stand vor mir an der Supermarktkasse. Ich hatte „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ gelesen und erlaubte mir einen Scherz.
Ich tippte ihm auf die Schulter und fragte: „Malte? Malte Laurids Brigge?“
Er sah mich entgeistert an.
„Ich bin es, dein alter Kumpel aus Prag.“
Wenig später saßen wir in einem Kaffeehaus und ich spendierte eine Runde Rüdesheimer Kaffee nach der anderen. Der Weinbrand machte ihn gesprächig und so konnte ich in zu einem Ausflug am nächsten Tag überreden.
Den ganzen Vormittag hatte es geregnet, aber als es um die Mittageszeit aufklarte, machten wir uns auf den Weg zu Schloss Duino. Ich hatte mich ihm gegenüber als Librettologe ausgegeben, der auf der Suche nach Gedichten sei, die man im Rahmen einer Oper oder einer Operette vertonen könne. Er nickte mir zu und schien nachzudenken.
Wir erreichten das Schloss, dessen weiße Zinnen an der Westseite mit Efeu bewachsen waren. Die Ostseite wirkt hingegen wie ein ortsüblicher Palazzo. Die Begrüßung durch den Hausherrn, den ich einmal in Verona kennengelernt hatte, war sehr freundlich und er zeigte uns das weitläufige Anwesen. Besonders gut gefiel Rilke ein großes Zimmer, von dem aus er über das weite Meer blicken konnte.
„Hier müsste man schreiben“, seufzte er, als er das zweifache Blau des Panoramas betrachtete.
„Warum bleiben Sie nicht eine Weile?“ fragte der Graf. „Das Schloss ist groß genug und die Küche ist ausgezeichnet.“
So entstanden die Duineser Elegien. Leider konnte ich die Arbeit nicht mehr kuratieren, da ich einige Tage später die Stadt verließ - offiziell mit unbekanntem Ziel. In Wirklichkeit bin ich längst auf dem Weg nach Irkutsk. Sie erkennen mich an meinem hermelinbesetzten Brokatumhang.
Yazoo – Situation. https://www.youtube.com/watch?v=QdV-5ivltkc

+++ Breaking news +++

Die sieben G-Punkte des G 7-Gipfels in Tokio:
  • Mehr Obst essen
  • Weniger Geld ausgeben
  • An Omas Geburtstag denken
  • Endlich die Geranien umtopfen
  • Keine Talkshows mehr gucken
  • Alkohol nur noch vor Mitternacht
  • Noch mehr Gipfeltreffen machen und immer herausposaunen, wer nicht mitmachen darf (Putin, Seehofer und der Chinese, dessen Namen ich mir nicht merken kann)
P.S.: Solche Treffen, bei denen man gute Vorsätze für die Zukunft fasst, die am nächsten Morgen bereits vergessen sind, nennt man in unserer Gegend Silvesterparty.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Triest II

„Dieser unser Sohn ist eigenwillig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Schlemmer und Trunkenbold.“ (5. Mose 21, Vers 20)
Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Mein Name ist Christoph Schwanthaler. Mutter Knopflochnäherin, Vater Hilfskellner ehrenhalber. Von Beruf bin ich Orakelpriester und Kunstikone, Alpha-Chiller und Auftragsintellektueller. In der niedersächsischen Tundra aufgewachsen. Ich lebe in einer Doppelschlosshälfte unweit des Landstrichs, in dem Hannover sein hässliches Haupt aus dem Morast erhebt. Kurz und gut: Ich bin ein Schelm. Fakten sind doch nur was für phantasielose Menschen mit festen Meinungen.
Sie fragen sich jetzt vermutlich, wie viel Geld ich im Monat verdiene.
Ich frage Sie: Wie viel Geld verdient Batman?
Na und? Kommen auch wieder bessere Zeiten.
Triest. Ein Stück Italien mit österreichischem Flair und deutschem Wetter. Ich werde diese Welt ganz anders erschließen müssen. Ich bin ein Mann des Wortes, ein Mann der Schrift. Ich werde also nach dem Alphabet leben. Jeden Tag werde ich einem Buchstaben widmen. Erster Tag: A.
Ich musste lachen, als ich das erste Wort auf meine Liste schrieb: Alkohol. Ich würde mich also heute betrinken. Mit Absinth! Das zweite Wort, das mir einfiel, war auf den ersten Blick weniger schön: Arbeit. Gut, ich bin Schriftsteller. Also würde ich erst ein wenig schreiben, bevor die Bars aufmachten. Anfang, das dritte Wort. Was sollte ich heute beginnen? Aber ich begann ja schon ein neues Leben, ein Leben nach dem Alphabet. Was würde ich essen? Austern? Igitt. Aal, Ahornsirup, Artischocken, Ananas? Nein, reißt mich alles nicht vom Hocker. Argentinisches Steak? Besser. Adana Kebap? Noch besser. Sicher gibt es ein türkisches Restaurant in Triest. Und Antipasti bekomme ich hier sowieso. Auberginen dürfen auf keinen Fall fehlen. Aprikoseneis? Lecker. Vielleicht am Nachmittag. Aber Aprikosenkuchen wäre ein köstlicher Einstieg in den A-Tag. A-Tag? Das erinnert mich an das A-Team. Vielleicht finde ich im Netz ein paar alte Folgen. Literatur: Paul Auster.
Und so begann mein Leben nach dem Alphabet. Endlich würde ich etwas Ordnung in mein haltloses Dasein bringen. Nach einem Frühstück, bestehend aus einem Anisbrötchen mit Aprikosenmarmelade und einer Apfelsaftschorle, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und arbeitete an meinem neuen Buch „Poppycock“. Das heißt so viel wie sinnloses Gequatsche. Es ist eher ein umgangssprachlicher Ausdruck, den ich von einer anderen Reise mitgebracht habe.
Nachdem ich mein Tagwerk vollbracht hatte – ich schreibe nie mehr als zwei Seiten an einem Tag -, ging ich ins „Baracca e Burattini“ in der Via Di Torrebianca. Ich bestellte All’Aqua Pazza – „im verrückten Wasser“. Eigentlich eine süditalienische Spezialität, bei der Fisch in Salzwasser zubereitet wird. In uralter Zeit war Salz sehr teuer und zudem noch mit einer Steuer belegt. Auf diese Weise salzte man sein Essen kostenlos. Salzwasser gibt es am Meer schließlich genug. Dazu trank ich Amontillado – ob es nun passt oder nicht. Edgar Allan Poes „Das Fass Amontillado“ fiel mir wieder ein, die gruselige Geschichte über einen Mann, der lebendig eingemauert wird. Das könnte ich nach dem Essen lesen, statt Auster. Und dazu die „Tales of Mystery and Imagination“ von Alan Parsons Projekt hören, auf der die Geschichte vertont wurde.
Aber nach dem Essen machte ich ein Nickerchen und der Rest des Tages ist im Absinthrausch verloren gegangen. Ich besitze über diese Stunden weder Erinnerungen noch Aufzeichnungen.
Es folgte der B-Tag. Das Programm für den Abend war schnell klar: Brot, Butter, Bier, Buletten, Brat- und Bockwurst. Der B-Tag war eigentlich ein deutscher Tag. Aber was sollte ich zum Frühstück essen? Birchermüsli? Bananen und Birnen? Eine Brioche oder Bienenstich? Zum Mittagessen würde ich entweder Bami Goreng, Burrito oder Bratkartoffeln mit Bolognesesoße bestellen, zum Nachtisch einen Blaubeermuffin.
Es kam doch ganz anders. Mein Lieblingsfisch ist Kabeljau und wenn ich am Meer bin, esse ich fast jeden Tag Fisch. Und Kabeljau fängt auf Italienisch mit B an. Baccalà mantecato auf Polenta morbida. Ristorante Le Terrazze. An der Adriaküste nördlich der Stadt. Dazu ein Bardolino, auch wenn Rotwein nicht zu Fisch passt. Nach dem Essen widmete ich mich bei einem Bad der Literatur: Thomas Bernhard. Der Meister des Zweifels. Und das Abendprogramm habe ich ganz nach Plan durchgezogen. In der Via Giorgio Galatti gibt es die Birreria Forst, wo das berühmte Forst-Bier aus Südtirol in holzgetäfeltem Alpenambiente ausgeschenkt wird. Und Bratwurst gibt es hier auch!
Als ich am dritten Tag beim Chianti saß, Camus las und an einem Ciabatta knabberte, wurde mir klar, dass dieses Leben keinerlei Erkenntnisgewinn versprach und der Unterhaltungswert von Tag zu Tag sinken würde. Was sollte ich am X- oder am Y-Tag machen? Diät? Wie furchtbar. Diät hätte ich schon am D-Tag machen können.
Ich zweifelte plötzlich an meinem ganzen Vorhaben. Was machte ich überhaupt alleine in Triest? War ich auf dem Weg zu meinem Ziel oder auf der Flucht vor der Vergangenheit? Natürlich, die Trennung von Savannah Gröbel. Ich musste einfach weg – aber ich wollte gleichzeitig auch weg. Andere Orte, neue Eindrücke, ich bin nicht für das Dauerhafte gemacht. Ich muss weiter. Immer weiter. Aber hatte ich wirklich ein Ziel? Der Weg ist nur das Ziel für Leute, die das Ende der Reise nicht kennen.
Exclamatio: Schuld an allem sind die Frauen! Erst wollen sie heiraten, dann wollen sie Kinder. Plötzlich soll man regelmäßig arbeiten und weniger trinken. Sie wollen ein Haus, ein Auto, noch ein Auto, aber nicht so coole Kisten wie einen Ferrari, sondern langweilige dunkelblaue Kleinlaster mit Kindersitz und peinlichen Aufklebern. Sie wollen Urlaub in bizarren Ferienanlagen machen, all inclusive, aber du darfst nicht so viel fressen und saufen wie du willst, weil du an deine Figur denken musst und natürlich sollst du auch noch Sport machen.
Wir sind Nomaden. Alles Geplante, alles Regelmäßige engt uns ein. Macht uns willenlos und schwach, bis wir schließlich aufgeben. Also sind wir eines Morgens einfach verschwunden. Wir sind nicht mehr da. Wir sind in Triest.
Lars Frederiksen And The Bastards - To Have And Have Not. https://www.youtube.com/watch?v=4qeAnOX-UCk

Mittwoch, 25. Mai 2016

Triest I

„Honi soit qui mal y pense.“ (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt)
An meinem dreißigsten Geburtstag beschloss ich, mein Leben zu ändern, und zog nach Triest. Warum Triest? Wenn es mich schon nach Italien verschlagen würde, warum nicht Florenz, Rom, Neapel oder das nahe Venedig? Weil ich an einem 14. August geboren wurde. Und als ich einmal beschlossen habe, meinen Wohnsitz zu wechseln, ließ ich den Zufall entscheiden. Im Ortsverzeichnis meines alten Schulatlas blätterte ich auf die vierzehnte Seite und nahm den achten Ort: Triest.
Dieses Vorgehen mag dem Leser wenig ernsthaft erscheinen, aber ich bin von Beruf Schelm. Schelm bedeutete ursprünglich Aas und Seuche. Es wurde als Schimpfwort benutzt, Betrüger wurden mit diesem Wort gebrandmarkt. Im Hochmittelalter wurde das Wort zu einem ritterlichen Beinamen geadelt und bedeutete „Todbringer“. Im Spätmittelalter wurden die Scharfrichter als Schelme bezeichnet. Wurde ein Mensch, der nicht diesem geächteten Berufsstand angehörte, als Schelm bezeichnet, galt es bis ins 17. Jahrhundert als schwere Beleidigung und war strafbar. Erst später, als der Schelmenroman aufkam (z.B. Felix Krull, Schwejk, Forrest Gump), wurde aus dem Schelm ein Witzbold, aus der Beleidigung eine Auszeichnung – zumindest für manchen Lebenskünstler.
Ich mietete eine günstige kleine Wohnung im ersten Stock über einer Bäckerei. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bett, eine Kommode und ein Sessel in einem Raum mit Blick auf den Innenhof. Es roch herrlich nach frischem Brot und Kuchen. Die ersten Wochen verbrachte ich mit langen Spaziergängen. Ich lernte die Stadt kennen, trieb mich am Hafen herum und saß stundenlang in Kaffeehäusern und Bars. Alles war neu und aufregend. Ich beobachtete die Leute. Und so kam ich auf die Idee für mein erstes Projekt.
Der Mann trug einen auffälligen fliederfarbenen Anzug und ein schwarzes Hemd. Ich hatte mir gerade ein Eis geholt und schlenderte über die große Piazza am Hafen, als ich ihn sah. Fasziniert sah ich ihm nach, wie er elegant, ruhig und erhobenen Hauptes den Platz überquerte. Er war über fünfzig und hatte schwarzes, glatt nach hinten gekämmtes Haar. Wer war er? Was er wohl machte? Ich war einfach neugierig und so beschloss ich, ihm nachzugehen.
Der Mann ging in die Via Armando Diaz und bog dann nach links ab. Es ging vorbei an der Rotonda Pancera und kurz darauf verschwand er in einem schmalen Durchgang auf der rechten Seite. Ein Auto hätte ihm unmöglich folgen können, aber ich blieb hinter ihm. Kurz darauf blieb er vor einem Haus stehen und klingelte. Hätte er die Tür aufgeschlossen, wäre ich weitergegangen. Es wäre zwecklos gewesen, auf der Straße zu warten, wenn er in diesem Haus gewohnt hätte. Ich wartete eine Viertelstunde und wollte gerade gehen, weil mir langweilig wurde, als er wieder auf den Bürgersteig trat. Er hatte einen Aktenkoffer in der Hand.
Er ging durch die Gassen dieses Viertels wieder zurück in Richtung Meer. An der Hauptstraße, die am Hafen entlang führte, ging der Mann nach links und betrat bald darauf die Osteria „Istriano“. Es war zu diesem Zeitpunkt einiges los und ich beschloss, mich an einen Tisch zu setzen, von dem aus ich den Mann mit dem Koffer beobachten konnte.
Er bestellte ein Glas Weißwein und starrte aus dem Fenster. Einige Minuten später setzte sich ein anderer Mann zu ihm an den Tisch. Sie sprachen eine Weile miteinander. Dann stand der Mann im fliederfarbenen Anzug auf und ging hinaus. Den Koffer hatte er unter dem Tisch stehengelassen. Was sollte ich tun? Dem Koffer folgen oder dem Mann? Ich beschloss, meinen Kaffee auszutrinken und dem Koffer zu folgen.
Aber ich wurde enttäuscht. Wenig später verließ der Mann mit dem Koffer das Lokal, ein Mercedes hielt am Straßenrand, er stieg ein und verschwand.
Ich schlenderte zur großen Piazza zurück. Ich hatte Spaß an diesem Spiel gefunden und bald darauf folgte ich meinem nächsten Opfer. Ein dicker Mann mit maisblonden Haaren. Er lief über den Platz und bog nach links zum Neptunbrunnen ab. Eine Stunde folgte ich ihm kreuz und quer durch die Stadt. Er machte Fotos und schaute immer wieder in ein kleines Buch. Offenbar ein Tourist, der mit seinem Reiseführer in der Hand die Stadt erkundete. Als er schließlich in ein McDonald’s-Restaurant ging, brach ich für diesen Tag meine Tour ab und ging nach Hause. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, um mir ein paar Notizen zu machen. Als ich in den Hof hinunterblickte, sah ich dort überraschenderweise den Mann in dem fliederfarbenen Anzug wieder. Er blickte sich um und verschwand kurz darauf. Merkwürdiger Zufall.
Am nächsten Morgen lief ich gleich dem erstbesten Mann hinterher, der mir an der Haustür entgegenkam. Frauen wollte ich lieber nicht folgen, weil sie womöglich einen falschen Eindruck von meinen Absichten hätten, falls sie mich entdeckten. Aber der Mann, dem ich im Abstand von etwa zwanzig Meter hinterher ging, verschwand bald darauf in einem Gebäude der Assicurazioni Generali. Ein Mensch auf dem Weg zur Arbeit – wie banal.
Ich drehte mich um und ging einfach dem nächsten Mann hinterher. Auf der anderen Straßenseite fiel mir ein anderer Mann auf. Es ging eine Viertelstunde durch kleine Straßen und Gassen. Wir kamen am Joyce-Denkmal vorbei. Ich merkte bald, dass ich ebenfalls verfolgt wurde. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Also gab ich die Verfolgung des Fremden auf und ging meiner eigenen Wege. Immer, wenn ich an einem Schaufenster oder der Speisekarte eines Restaurants stehenblieb, konnte ich ihn aus den Augenwinkeln sehen. Er folgte mir tatsächlich. Wieso?
Das konnte ich leicht herausfinden. Ich bog um eine Ecke und stellte mich in einen Hauseingang. Nach ein paar Augenblicken ging er an mir vorüber. Ich zog ihn in den Hauseingang und presste ihn gegen die Tür.
Sein Gesicht war schweinchenrosa und hässlich, über den tiefliegenden Augenbrauen hatte er eine riesige runde Stirn, die aussah wie eine Arschbacke.
„Was wollen Sie von mir?“
„Nichts. Wer sind Sie überhaupt?“
Ich schlug ihm ins Gesicht. „Falsche Antwort. Wer sind Sie und warum folgen Sie mir?“
„Ich folge Ihnen nicht. Das ist nur ein Zufall.“
Ich schlug noch einmal zu. Diesmal nicht mit der flachen Hand. Voll in die Familienjuwelen.
„Bitte, hören Sie auf! Ich habe Ihnen doch nichts getan.“
„Wer ist Ihr Auftraggeber?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Der Mann bringt mich um.“
Da ging mir ein Licht auf. „Der Typ mit dem fliederfarbenen Anzug?“
Schüchtern nickte die Arschbacke.
„Richten Sie ihm aus, dass ich ihn nicht mehr verfolgen werde. Ich habe nur gespielt. Bin einfach einem Menschen hinterhergelaufen so wie heute Morgen. Sie haben es ja gesehen. Vergessen wir die ganze Sache.“
Er litt offensichtlich unter Stressinkontinenz, was mir als wortloses Einverständnis genügte.
Dann ging ich weiter. Nachdem ich überzeugt war, nicht mehr verfolgt zu werden, checkte ich sicherheitshalber in einem Hotel ein und blieb dort zwei Tage und zwei Nächte. Ich brauchte ein neues Spiel, so viel stand fest.
The Cranberries - Ode To My Family. https://www.youtube.com/watch?v=Zz-DJr1Qs54

Dienstag, 24. Mai 2016

Kalte Tränen, toter Stein

„Man ändert sich nicht, man bessert sich nicht, man wird nur älter.“ (Paul Newman)
„Ist hier noch frei?“
Die gutaussehende Blondine mit der riesigen Sonnenbrille hätte ich eher im Chesa Veglia in Sankt Moritz erwartet und nicht in diesem einfachen Dorfgasthaus.
„Freilich“, sage ich, und „Grüß Gott“. Wir befinden uns gerade in Franken und ich bin ein Sprachchamäleon.
Sie setzt sich mit ihrer Mutter zu mir an den großen Wirtshaustisch. Eine Apfelsaftschorle und eine Tasse Kaffee werden bestellt.
„Kannst du dir das vorstellen? Kannst du dir vorstellen, dass der Sebastian sowas macht?“ Die Blondine ist Ende dreißig.
Ihre Mutter bleibt stumm.
„Meine Wohnung ist nicht weit weg vom Fitnessclub. Das ist immerhin ein Vorteil.“
Die Mutter raucht eine Marlboro Light.
„Was sagst du denn dazu, Mutti? Das ist doch unglaublich, oder? Der Sebastian hat einfach nicht nachgedacht. Jetzt sitzt er allein in der Riesenwohnung.“
Die Mutter schweigt. Dann redet sie doch: „Um halb sechs gibt es Abendessen.“
„Ja, Mutti. Ich bring dich rechtzeitig zurück ins Heim. Willst du denn hier nichts essen? Schau mal: Es gibt Sauerbraten, Schweinsbraten, Gulasch.“
Die Mutter schüttelt den Kopf.
Dann kommt ein Mann an den Tisch.
Bussi, Routinelächeln.
„Ja, Thomas, grüß dich. Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.“
Es stellt sich heraus, dass sich die beiden seit der Schulzeit kennen. Er spricht von seinen Erfolgen und seiner Familie. Zum Beweis steht alsbald seine etwa zehnjährige Tochter neben ihm. Sie erzählt, sie sei jetzt zurück nach Franken gezogen.
„Schön, dass wir uns mal wieder gesehen haben. Mach’s gut. Wir sehen uns.“
Bussi, Routinelächeln.
Als der Mann verschwunden ist, sagt sie zu ihrer Mutter: „Hier kann man nicht mehr hingehen. Überall trifft man Leute.“
Die gescheiterte Ehe, das neue Leben in der alten Heimat, die demente Mutter, die sie ins Altersheim abgeschoben hat.
Es ist Muttertag und vor mir sitzt eine schöne Frau, deren Leben in Trümmern liegt. Ihr Lebensweg ist in Wirklichkeit eine staubige Straße im Nirgendwo, sie bettelt vergeblich um Verständnis und Mitleid bei ihrer herzlosen Mutter, die besten Jahre liegen hinter ihr. Wenn sie in dieser Stunde, in der ich ihr zuhörte, nicht so oberflächlich, so selbstbezogen, so widerlich gewesen wäre – fast hätte sie mir leidgetan.
The Chameleons – Nostalgia. https://www.youtube.com/watch?v=Hcb7VqrFY6E

Montag, 23. Mai 2016

Glück, Moral, Gewissen – eine Fallstudie

„Er glaubte immer noch an das Schöne in der U-Bahn, das Gute im Kühlschrank und das Wahre in der Zeitung.“ (Lupo Laminetti)
Es war 1986, ich lebte in Ingelheim und machte gerade Zivildienst. Es ist schon spät, als ich von der Kneipe nach Hause komme. Vor unserer Mietskaserne an der Rheinstraße steht eine Telefonzelle, sie ist hell erleuchtet und der Leuchtturm meiner kleinen Reise. Ich schaue hinüber und was sehe ich? Auf dem Kasten mit der Wählscheibe und dem Geldeinwurfschlitz liegt eine Brieftasche!
Ich öffne die Tür der gelben Zelle und stecke die schwarze Lederbrieftasche ein, ohne lange nachzudenken. Ich gehe die Treppe hinauf in den zweiten Stock, öffne die Wohnungstür und betrete mein Zimmer. Meine Mutter schläft längst. Ich hole die Brieftasche aus meiner Jackentasche und schaue mir den Inhalt an. Sie gehört einem amerikanischen Soldaten, seine ganzen Papiere sind in verschiedenen Fächern, dazu eine lange Reihe von Fotos in einzelnen Schubfächern. Offenbar seine Familie, seine Eltern, seine Frau, seine Kinder. Kreditkarte, Kundenkarte (PX – die Ladenkette für Angehörige der US-Streitkräfte). An Bargeld finde ich Dollars und D-Mark. Umgerechnet 270 Mark in bar!
Was soll ich machen? Ich verdiene zu diesem Zeitpunkt 321 DM im Zivildienst. Schichtdienst, Wochenenddienst, Altenpflege, Siechtum, Sterben, Leichen waschen. Das ist fast ein ganzer Monatslohn. Und die GIs verdienen in den Reagan-Jahren durch den günstigen Wechselkurs in Deutschland eine Menge Kohle. Also beschließe ich, das Geld zu behalten. Aber die Brieftasche einfach wegwerfen? Geld kommt und geht, aber es ist mühsam, die ganzen Papiere neu zu beschaffen, und die Fotos haben einen persönlichen Wert für diesen Mann, der ein paar Kilometer weiter in Wackernheim stationiert ist. Andererseits ist er ein Vertreter des US-Imperialismus, ein Teil der kapitalistischen Kriegsmaschinerie. In Wackernheim sind Atomwaffen stationiert.
Ich überlege eine Zigarettenlänge, was ich tun soll. Zwei Zigarettenlängen.
Gut. Ich behalte die Scheine. Die Brieftasche schicke ich per Post zurück an die Kaserne des Soldaten. Ich kenne ihn nicht, aber er ist durch den Verlust des Geldes genug gestraft. Er ist nicht nur eine Killermaschine, er ist ein Mensch, dem die Bilder seiner Familie fehlen. Damals gab es noch kein Internet und auch keine Smartphones. Fotografien hatten noch eine Bedeutung. Die Papiere haben eine Bedeutung, denn es bringt ihm eine Menge Ärger ein, wenn er seinen Vorgesetzten erzählen muss, er habe alles verloren. Der Russe freut sich über diese Unterlagen.
Ich stecke die Brieftasche in einen wattierten Umschlag und schreibe „Porto zahlt Empfänger“ drauf. Die Adresse: U.S. Forces, Wackernheim. Natürlich kein Absender. Ins Geldfach lege ich einen Zettel: „Sorry for taking the money but I’m a poor man. God bless You and Your family.“ Dann werfe ich den Umschlag in den Briefkasten vor unserem Haus.
Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht? Wie hätten Sie sich entschieden?
New Order - Thieves Like Us. https://www.youtube.com/watch?v=Fc1ldXDJicY

Samstag, 21. Mai 2016

Zwischenfall in Helsinki

„Ich habe schon vor vielen Jahren gewusst, dass der schwierigere und längere Teil dieses Berufes das Nicht-Schreiben ist.“ (Ilse Aichinger: Eiskristalle)
Es ist eine freundliche helle Landschaft, durch die ich reise. Mir gegenüber sitzt eine Finne und liest Zeitung. Kein einziges Wort auf der Titelseite kommt mir bekannt vor. Er sieht, dass ich seine Zeitung betrachte, und sagt etwas Unverständliches. Ich verstehe kein Finnisch und zucke mit den Achseln. Ich frage ihn, ob er Englisch oder Deutsch kann. Er lächelt und schüttelt den Kopf. Er fragt mich etwas auf Finnisch. Ich höre es an der Betonung am Satzende. Ich lächele auch und schüttele ebenfalls mein Haupt. Eine Weile sehen wir schweigend aus dem Fenster. Ein Dorf fliegt vorüber. Dann hebt der Finne plötzlich die Hand und vollführt mit Zeige- und Mittelfinger eine Gehbewegung. Anschließend reibt er sich mit der flachen Hand den Bauch und leckt sich die Lippen. Ich sehe ihn fragend an. Er deutet mit dem Zeigefinger in seinen offenen Mund und dann zur Abteiltür. Danach bewegt er seine angewinkelten Arme, als mache er einen Dauerlauf. Offensichtlich möchte er in den Speisewagen gehen und ich soll ihm folgen. Als er aufsteht, gehe ich mit ihm. Wir setzen uns an einen Tisch und der Finne ruft dem Kellner etwas zu. Bald stehen zwei dampfende Teller Suppe vor uns. Der Finne deutet auf seinen Ellenbogen und macht mit dem Zeigefinger kreisende Bewegungen um sein Ohr. Also tauche ich den Ellenbogen in die Suppe und lasse ihn kreisen. Alle Finnen im Speisewagen lachen.
(Dieser Text wurde von Heinz Pralinski aus dem Althochdeutschen übersetzt)
Psychedelic Furs - Love My Way. https://www.youtube.com/watch?v=Zz1XaRYvRiY

Dein großer Tag

„Könnten Sie das bitte noch mal nachprüfen?!“
Es war der totale Stress. Freitagabend, kurz vor Ladenschluss. Alle haben es eilig. Natürlich haben es immer alle eilig. Aber am Freitagabend ist es nicht zum aushalten.
„Was genau?“ Sie hörte ihre eigene Stimme, als käme sie aus einem Fernseher.
„Die Aprikosen“, sagte die Kundin mit der Prinz-Eisenherz-Frisur. Entweder war sie Lehrerin oder Ritter der Tafelrunde.
Sie legte die Tüte mit dem Obst noch einmal auf ihre Waage und klickte auf eine Taste ihres Displays.
Es piepste. Sie sah eine Zahl und las sie vor.
„Oh“, sagte die Frau nur und ging. Kein Dankeschön, nichts.
Der nächste Kunde.
Sie zog die Nahrungsbündel über die Glasfläche. Es piepste und piepste.
Endlich Feierabend.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte die Kollegin und überreichte ihr einen Blumenstrauß.
„Wir finden das super“, quiekten die Mädels von den anderen Kassen und präsentierten einen riesigen Pralinenkasten.
Und schließlich kam der Marktleiter: „Ich möchte Ihnen im Namen der Belegschaft zu Ihrer morgigen Hochzeit ganz herzlich gratulieren.“
Dann überreichte er ihr einen Fünfzig-Euro-Einkaufsgutschein für ihre eigene Filiale.
***
Mario musste sich schon den ganzen Tag die dummen Sprüche anhören.
„Ein paar Fotos online wären nicht schlecht.“
„Steck ihn für mich mit rein.“
„Wenn’s doch die Tochter vom Chef ist, hau ich dir eine rein.“
Aber der Freitag konnte nicht ewig dauern.
Am nächsten Morgen würde er mit seiner Braut und den beiden Familien zum Standesamt fahren.
Eine Hochzeitsreise konnten sie sich nicht leisten. Die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung hatte schon tiefe Löcher in ihre Kasse gerissen. Kassiererin und Maurer. Wie soll das gehen?
Am Samstagabend würden sie eine schöne Feier haben, bevor am Montagmorgen alles wieder von vorne losging.
The Casualties - We Are All We Have. https://www.youtube.com/watch?v=LtbyamGepu4&nohtml5=False

Donnerstag, 19. Mai 2016

Welcome to Bribery Park

Einige kleine Spenden knapp unter der Veröffentlichungsgrenze von zehntausend Euro haben dem Berliner Baulöwen Groth genügt, um den SPD-Bausenator Andreas Geisel dazu zu bringen, das Genehmigungsverfahren um die Bebauung des Mauerparks an sich zu reißen und gegen den Willen der Bevölkerung das Bauvorhaben zu genehmigen. Man muss nur eine fünfstellige Summe investieren, um eine siebenstellige Summe als Profit einstreichen zu können. So funktioniert das Neapel an der Spree. Erstaunlich ist ja immer wieder, wie gering die Schmiergeldzahlungen sind, mit denen man politische Entscheidungen kaufen kann.
http://www.tagesspiegel.de/berlin/wahlkampfspenden-der-spd-opposition-greift-bausenator-geisel-an/13607568.html

Die Masse als Monstrum

„Der Mensch ist die Dornenkrone der Schöpfung.“ (Hagen Rether)
Ich staune immer wieder und werde es nie begreifen. Der Einzelne kommt ja gelegentlich im Gespräch durchaus vernünftig rüber, vor allem wenn man sich kennt. Nehmen wir mal etwas so Banales wie die Fußballfans. Trifft man einen Fan ganz alleine, stößt man nicht bei allen, aber doch bei vielen, die ich kenne auf fundierte Analysen, Verständnis für Andersdenkende (i.e. Fan eines anderen Vereins) und Artikulation ohne Gebrüll. Fußballfans als Massenphänomen bedeutet: Schlachtgesänge, Olli Kahn mit Bananen bewerfen, Aggression gegenüber Andersdenkenden. Musikfan im Singular: Entspannung, Kunstgenuss, liebevoll gepflegte Sammlungen. Nicht alle, aber viele. Musikfan im Plural: ESC-Orgien, Länderwettkämpfe mit beleidigten Leberwürsten („Wir machen da nicht mehr mit“, „Man hat uns um den Sieg betrogen“), gemeinsam wird die mieseste Scheiße in erbarmungswürdigen Kostümen grölend und chips-fressend durchgewinkt.
Weitere Beispiele aus den Bereichen Sport, Ernährung und Politik:
• Millionen von Spaziergängern schleppen am helllichten Tag Skistöcke hinter sich her und nennen es Nordic Walking. Keiner wäre allein auf diesen Schwachsinn gekommen.
• Der Einzelne als Gourmet, der in der Masse eines Schlussverkaufs zum Beutelprimaten mit Raffzwang wird.
• „Protestwählen“: Der Einzelne, selbst wenn er zur Zielgruppe der Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer gehört, wirkt im Gespräch ja durchaus so, als sei er halbwegs bei Verstand. In der Masse wird dann aber Trump, AfD, FPÖ, Front National usw. gewählt.
Je größer die Menschenmenge, desto schwachsinniger die Entscheidungen. Niemand findet Umweltzerstörung, die Abholzung der Urwälder und das Artensterben gut, wenn man ihn fragt. Aber gemeinsam machen wir das jeden Tag. Eines der Mysterien der Menschenwelt: Als Masse mutieren wir zum Monstrum.
Fazit: Dummheit addiert und multipliziert sich, Intelligenz kann offenbar nicht aggregiert werden. Oder wie Henry Louis Mencken es formulierte: „Democracy is a pathetic belief in the collective wisdom of individual ignorance.”
She Past Away – Asimilasyon. https://www.youtube.com/watch?v=5OsETaZhBzE

Mittwoch, 18. Mai 2016

Blogstuff 43

„Tenet insanabile multos scribendi cacoethes.” (Viele plagt eine unheilbare Schreibsucht)
Es heißt immer „Das kann man nicht vergleichen“. Warum eigentlich? Diese gedankenlos dahingeplapperte Redewendung hört man immer häufiger. Ich darf grundsätzlich alles vergleichen. Es kommt immer auf das Ergebnis des Vergleichs an. Wenn ich Wolfgang Schäuble mit Graf Dracula vergleiche, kann ich ja zu dem Ergebnis kommen, dass beide ganz unterschiedlich sind und keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen. Mit dem Satz „Das kann man nicht vergleichen“ wird immer gleich ein Denkverbot ausgesprochen. Wer verbietet mir den Vergleich? Ich möchte Namen und Adresse wissen. Ist es eine Behörde? Oder ist es ein Haufen arroganter Klugscheißer, die anderen Menschen gerne erklären, was sie sagen und denken dürfen?
Die Rentner-Love Story dieses Sommers: Romika & Julio. Jetzt in Ihrem Altersheim!
Hätten Sie’s gewusst? Auch der Teufel hat ein Wartezimmer. Schauen Sie sich mal um!
Wieder mal die Katzenpatrouille vor meinem Fenster. Wie sie mich anschaut. Mein Haus steht auf ihrem Grundstück, anders kann man es nicht formulieren.
Bonetti – wohlschmeckend, nahrhaft und bekömmlich. Die ideale Erfrischung für die ganze Familie.
Das Filetsteak war so zart wie ein Babyohrläppchen.
Einwanderung als Kulturschock. Zentralafrika meets Zentralheizung. Die Sprache: BILD, Bibel, Bürgerliches Gesetzbuch. Deutsche Leitkultur: Besserwisserei, Vereinsmeierei, Obrigkeitshörigkeit, Hochnäsigkeit, Pedanterie, Haarspalterei, Ordnungs“liebe“, Narzissmus. Da gibt es viel zu lernen.
Arbeit als Handel begreifen. Aufträge annehmen und an jemanden weitergeben, der es für die Hälfte macht. Zwischenhändler der Arbeit. Praktikanten und alleinerziehende Mütter. Migranten und Verzweifelte. Die Gelegenheit ist günstig.
Zum Tod von Prince: Ich habe ihn in den 90er Jahren zweimal live gesehen und er ist wirklich unglaublich klein. Die Shows waren sehr professionell, aber ich habe danach recht schnell den Kontakt zu seiner Musik verloren. Ich habe neulich im Radio noch Mozart-Vergleiche gehört, aber womöglich gehört das zur Kleinmädchenaufgeregtheit der Medien.
Wir werden nicht nur verarscht, wir werden auf einer Meta-Ebene verarscht, und wenn wir diese Komplettverarsche durchschauen würden, drehen wir endgültig durch. So lasset uns denn ein Imprägnierspray für Wanderschuhe kaufen, die wir eigentlich nur samstags beim Shopping in der Innenstadt anziehen, wenn wir auf der Suche nach nützlichen Dingen wie Imprägnierspray sind.
Die Jugend bezeichnet sich selbst als Digital Natives und blickt auf uns Alte herab. Dabei war es meine Generation, die den ganzen Scheiß erfunden hat und nicht die fusselbärtigen Schnösel, die mit fünfzehn schon einen Buckel haben, weil sie ständig auf ihr Smartphone glotzen müssen.
Man muss die menschliche Dummheit als Seuche begreifen, als Pandemie.
Ich begreife so vieles nicht. Ich wundere mich nur. So betrachtet ist die Welt voller Wunder.
„Die Mitte“, verstanden als Mittelmäßigkeit, Ignoranz und Selbstgefälligkeit der CDU/CSU und der SPD, ist inzwischen eine eiternde Wunde geworden.
Die Verheißung der Offroad-Fahrzeuge, das unausgesprochene Versprechen der SUVs: Damit kannst du überall fahren, du bist frei und verlässt einfach die Fahrbahn, wenn dir danach ist. Aber kein Käufer hat je die Straße verlassen, kein Geländewagen hat je das Gelände erreicht. Und bald wird es mit den fremdgesteuerten Automobilen der Zukunft auch gar nicht mehr möglich sein, die programmierte Fahrbahn zu verlassen.
Volksfeststimmung auf dem Tempelhofer Feld. Zehntausende Schaulustige, Buden, Fahnen und Musik. Und dann sieht man es von Ferne: Bonettis riesiges Luftschiff, an die zweihundert Meter lang. Bald werden die ersten Landungsseile herabgelassen. Dem Zeppelin gehört die Zukunft!
Und hier mal was aus der rheinhessischen Rockszene – mit meinem alten Kumpel Peter als Leadsänger: Finest Green - Seperate Directions. https://www.youtube.com/watch?v=cAW1kqZs-JI

Zwischen Vorspeise und Hauptgang

Das Etablissement war mir empfohlen worden.
Als der Oberkellner näher trat und mir die Karte reichte, sagte ich ihm leichthin, ich nähme ein offenes Fassbier à la casa. Als er mit der Dose zurückkam, fragte ich ihn, was denn der Küchenchef empfehlen würde.
„Jaaa“, sagte der Mann im schwarzen Frack, „der Koch hat heute Morgen frische Pommes aus dem Supermarkt geholt. Dazu würde ich an Ihrer Stelle die Riesencurrywurst wählen. Da kann man nix falsch machen.“
„Jou“, sach ich, „datt is ma Sternegastronomie aus einer ganz weit entfernten Galaxis.“
Gastro-Tipp: Im „Chez Gisela“ in Wichtelbach wird eine Küche zelebriert, die über das Banale hinausgeht, gleichzeitig aber die ursprüngliche Schlichtheit und Identität der kulinarischen Tradition des Hunsrücks bewahrt und behutsam weiterentwickelt. Wir empfehlen Burrito Schinderhannes und Sashimi Helmut Kohl.

Dienstag, 17. Mai 2016

Würst-Sampler

Neulich hatte ich die Idee, in Amerika eine Restaurantkette mit dem Namen „Heidelberg“ zu gründen. Als ich jetzt, da ein Freund eine Woche in New York verbringen will, mal spaßeshalber nach deutschen Restaurants im Big Apple gesucht habe, bin ich tatsächlich auf das „Heidelberg“ gestoßen – und das war nicht alles.
Im „Heidelberg“ in der vornehmen Upper East Side von Manhattan wird das Jägerschnitzel mit Spätzle und Rotkraut serviert. Stolze 28,50 $ werden aufgerufen. Es gibt jede Menge Würste in allen Varianten und Portionsgrößen, aber auch eigene Kreationen: den Heidelburger („German style hamburger served with mashed potatoes and fried onions“) oder das Andy's Special Sandwich („chicken or pork Schnitzel on a French baguette with Swiss cheese, bacon, lettuce, mayo and sauerkraut”). Zum „Frühschoppen“ ab 10:30 Uhr (klingt doch auch besser als Frühstück, oder?) kann man Eggs Bismarck („potato pancake topped with smoked salmon, fried egg, and hollandaise sauce“) oder Apfel-Omelett mit Eis („German apple pancake with ice cream“) bestellen. Warum gibt es diese Köstlichkeiten nicht auch bei uns?
Sehr schön ist auch das „Schnitzel Haus“ an der Fifth Avenue in Brooklyn. Hier gibt es nicht nur den titelgebenden „Würst-Sampler“, sondern auch andere kulinarische Überraschungen. „Two generations of family recipes are recreated to enjoy authentic tastes from the ‘old country’ at the Schnitzel Haus.” Hat Oma euch einen Streich gespielt, als sie euch das Rezept für „Reh-Kirsch würstchen mit Kartoffelsalat / Venison-Cherry Sausages with cold German potato salad“ oder „Feiner Spinatsalat mit heisser Specksosse“ gegeben hat? Von „Rheinische Muscheln“ mal ganz zu schweigen, die ich in fünfzig Jahren am Rhein nie zu Gesicht bekommen habe. Kann mir jemand beim “Schäfer-Auflauf / German Shepherd’s Pie, a variety of German würst topped with sauerkraut and mashed potatoes and baked in the oven” helfen? Anyone? Sympathisch ist der “Vegetarienteller / A Special Vegetarian Platter with pancake, spaetzel, red cabbage and fresh vegetables”.
Vom Restaurant „Loreley” fühle ich mich als Rheinhesse natürlich persönlich angesprochen. „German Gemütlichkeit, a concept best approximated by ‘coziness’ in English” – da möchte man dabei sein. “Pommes Rot Weiss” und „Halver Hahn“ (ein Käsebrot) für je sieben Dollar, “Schnitzel Finger”, „Wurst Tacos“ und der weltberühmte „Loreley Hamburger“. Da werden Erinnerungen wach, damit bin ich großgeworden. Und zum Nachtisch den „Ananasstrudel mit Vanille Sosse“. Wie bei meiner Oma!
Sie sind aus der deutschen Hauptstadt? Dann empfehle ich das „Berlyn“ in Brooklyn. „Spätzle Primavera“ klingt nach Prenzlauer Berg. „Lemon Buttermilk Panna Cotta“ ist ein traditionell preußischer Nachtisch, den schon der alte Fritz genossen hat. Und ob “Baby Mixed Greens with peas, tomato, fresh herbs, sherry vinaigrette” wirklich zu Früh Kölsch vom Fass oder „Würtzburger Hofbrau Pilsner” passen?
Im „Hallo Berlin“ wird außen mit schwarz-rot-gold, innen mit blau-weiß dekoriert. Gegründet von einem Ostdeutschen, der 1977 nach West-Berlin ausreisen durfte und vier Jahre später nach Amerika auswanderte. Hier tragen die Würstchen Namen wie Volkswagen (Wiener Würstchen), Mercedes (Bratwurst), BMW (Weißwurst) und Trabant (Bockwurst). Der Maybach ist eine „Smoked Andouille Bratwurst Cheese“ für zehn Dollar. Es gibt „Brat-burger“. Es gibt „Berliner Lunch“, der recht kreativ gestaltet ist: „Double Bavarian Meatballs“ und „German Single Soul Food Mix 1 Wurst“. Was mag sich dahinter verbergen?
Im „Manor Oktoberfest“ wird es dann preislich fast schon kriminell, wenn die aus München importierte Oktoberfestbretzel für acht Dollar angeboten wird. Aber es gibt ja auch Piroggen und „Hungarian Farmer's Crepe“ – Deutschland in den Grenzen von 1941. Da bleibe ich doch lieber beim „Oktoberfest Burger“ und beim „Smoked Black Forest Bacon Club Sandwich“. Das Zigeunerschnitzel mit Paprikasoße firmiert hier als „Hungarian Schnitzel“ mit Spätzle und Gurkensalat. Vom Faß gibt es Münchner und ostdeutsche Biere (Radeberger ist in New York sehr verbreitet) und sicherheitshalber auch Guinness. „OKTOBERIZE IT!“
„Best sexy sausages“ gibt es laut Village Voice im „Lederhosen“, Greenwich Village. „Chicken Frikasse With Pilze“ und „Gerauecherte Makarele“ – mir gefällt der Sprachmix. Es gibt eine „Jagermeister Sauce“ (womit allerdings offenbar Jägersoße zum Schnitzel gemeint sein dürfte) und natürlich den unvermeidlichen „Lederhosen Burger Deluxe.“ Ein Stück Heimat entdecke ich im „Ruedesheimer german style coffee with a shot of brandy & whipped cream” – und sie haben tatsächlich auch Apfelwein, wenn auch für sieben Dollar für ein großes Glas (0,5 l). Überhaupt wird für die Getränke auf allen Karten das metrische System verwendet.
Das „Bavaria Bierhaus“ an der Südspitze Manhattans bietet ein „Bavaria Omelette“ (“Corned beef, Emmentaler Swiss cheese, Choice of home fries, regular fries or salad”), “Bavarian Fries” (“Crispy fries topped with beef stew, a fried egg and a touch of sour cream”) und einen „Bavarian Spicy Burger“ (“Butterkase cheese, crispy bacon, spicy mustard Choice of fries, house salad or sauerkraut”) an. Aufregend klingt auch “Pork Belly Waffle Slider” (“Braised cabbage&apples with a bier cheese sauce”). Für eine Maß Bier werden sechzehn Dollar aufgerufen.
“Max Bratwurst und Bier” in Queens bietet neben Bratwurst und Bockwurst auch eine Klapperschlangenbratwurst und eine Krokodilbratwurst an. Aufgepasst, Nürnberg! Auch die „Bierbratwurst mit Käse“ klingt verlockend. „Make any Sausage to a Currywurst as seen in Berlin. Just for $ 2.” Gebt mir den “Berlin Hammer“: „Jumbo Currywurst mit Pommes rot-weiss“. Als „German Hamburger“ werden hier „Riesen Bouletten“ mit einem Kampfgewicht von zehn Unzen angeboten. Das sind 283 Gramm! Auf der bayrischen Variante sind sogar noch Nürnberger Würstchen, auf der westfälischen Variante westfälischer Schinken und Gouda, die österreichische Ausgabe wird mit Bacon und Gorgonzola serviert, die Schweiz wartet mit Pilzen, Schweizer Käse und Curryketchup auf. Richtig international ist das „German Ham and Cheese Sandwich“: „Ham bologna, smoked speck, swiss cheese, ciabatta“. Das Heilige römische Reich deutscher Nation ist wieder auferstanden.
Die „Reichenbach Hall“ weicht wohltuend in einigen Punkten von den anderen Restaurants ab. Hier gibt es auch einen „Aufschnitt Teller“ oder eine „Vegan Tofu Wurst“. Mouthwatering ist ja auch die Beschreibung der „Wurstplate”: “A mouth watering combination plate featuring our time honored & traditionally prepared German sausages, including two of each Bratwursts, Huhn Wursts, Bauernwursts, Kasewursts, & one Kielbasa served with spicy mustard, gherkins & assorted breads.” Die polnische Kielbasa taucht recht häufig in den deutsch-amerikanischen Speisekarten auf. Muss man sich jenseits der Oder wieder Sorgen machen? Sehr nett ist aber das „Nackt Schnitzel“ – es wird unpaniert serviert. Als Beilagen können Sie Steckrüben bestellen. Dann aber die „German Fries”. Bitte genau lesen: “Hand cut Idaho potatoes cooked crisp & tossed with kosher salt.” Koscheres Salz? Wiedergutmachung geht offenbar durch den Magen.
Es gibt erstaunlich viele deutsche Lokale in New York. Das hätte ich nicht erwartet. Ich vermisse beim Studieren der Speisekarten allerdings den Blitzkrieg Burger und die German Tank Würstel. Und wie wäre es mit einem Cocktail auf Jägermeisterbasis, der als „V 2“ angeboten wird? Hitler Fries? Göringtorte? Die zwölf Jahre des Nationalsozialismus fehlen hier völlig. Vielleicht sollte man diese Marktlücke füllen und ein Restaurant mit dem Namen „Eva Braun“ eröffnen?
John Watts – I Smell Roses. https://www.youtube.com/watch?v=NSsN7M_Jc_o

Montag, 16. Mai 2016

Der Gast

„Die Welt ist weiß und das Wort ist schwarz.“ (Lupo Laminetti)
Wir, das heißt meine Frau und ich, haben den ausgedehnten Herrschaftssitz im Frühling gekauft. Er liegt in den Weinbergen unweit von Sankt Goar und wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einem Fabrikanten erbaut. Der letzte Besitzer war vor kurzem gestorben und seine Erben wollten das Haus kurz nach der Beerdigung verkaufen. Bis auf einige persönliche Andenken, Briefe und Fotoalben, blieb die Einrichtung des Hauses unverändert. Alte Gemälde hingen an den Wänden, neben dem Kamin stapelten sich die Buchenscheite und die Bibliothek umfasste sicherlich mehrere tausend Bände, meistens Belletristik, Bildbände und historische Abhandlungen.
Wir ließen fast alles unverändert. Meine Frau schaffte einen neuen Kühlschrank an, wir brachten unser eigenes Geschirrservice mit und ich stellte meinen geliebten alten Lesesessel ans Fenster des großen Arbeitszimmers, von dem aus ich in den weitläufigen Garten sehen konnte: Alte Eichen und Kiefern, durch deren gewundene Äste ich den Fluss schimmern sah, Rhododendren und Fuchsien. Wir nutzten anfangs nur das Erdgeschoss und zwei Zimmer im Obergeschoss. Der Sommer kam und wir saßen auf der Terrasse und genossen die Ruhe unseres neuen Zuhauses.
Es waren Kleinigkeiten, die mich eines Tages stutzig machten. Ich hatte in einem der Bücherregale, die ganze Wände des Arbeitszimmers und des Wohnzimmers bedeckten – von der eigentlichen Bibliothek ganz zu schweigen -, „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace entdeckt, einen Roman, den ich als Freund der amerikanischen Literatur schon immer einmal lesen wollte. Als ich ihn endlich aus dem Regal ziehen wollte, war er verschwunden. Ich suchte systematisch die Reihe der Buchrücken nach dem Titel ab. Nichts. Auch meine Frau hatte das Buch nicht genommen. Ich ließ den Fall auf sich beruhen und las „Portnoys Beschwerden“ von Philip Roth. Einige Tage später vermisste ich einen Kugelschreiber, den ich auf dem Schreibtisch liegengelassen hatte. Auch er tauchte nicht mehr auf. Im Kühlschrank fehlten Schinken und Salami, in der Vorratskammer verschwanden Konserven mit eingelegten Pfirsichen und Gulaschsuppe.
Wir konnten uns diese Vorgänge nicht erklären. Als wir eines Abends auf der anderen Rheinseite in einem Restaurant saßen und zu unserem Haus hinübersahen, fiel uns auf, dass in zwei Zimmern das Licht brannte. Hatten wir vergessen, das Licht zu löschen, als wir das Haus verließen? Voller Unruhe warteten wir auf das Essen, das wir bestellt hatten, aßen ohne Appetit Rehrücken und tranken hastig eine Flasche Dornfelder. Als wir mit der Fähre den Rhein überquert hatten und wieder in unserem Haus angekommen waren, war alles dunkel.
Wir waren beunruhigt und grübelten gemeinsam über die Vorfälle seit unserer Ankunft vor einigen Monaten. Gegenstände waren verschwunden und wieder aufgetaucht. Es gab nur eine vernünftige Erklärung: Im Haus lebte ein Fremder. Wir beschlossen, am nächsten Morgen alle Räume zu durchsuchen. Aber das Haus ist groß und besitzt mehrere Treppenhäuser, ein repräsentatives in der Mitte des Hauses und zwei schmale für das Personal im Nord- und im Südflügel des Anwesens. Von einer Kellertür führte ein Trampelpfad zu den Mülltonnen neben der Remise. Von dort gab es einen Schotterweg, der durch den Garten hinunter in den Ort führte.
In etlichen ehemaligen Gästezimmern und Personalräumen gab es Sofas und Betten. Der Fremde konnte jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen. Wir fanden „Unendlicher Spaß“ in einem Kellerraum voller alter Möbel, Kisten und Gerümpel. Leider gab es zu diesen vielen Räumen keine Schlüssel. Also riefen wir die Hinterbliebenen an, um sie um Hilfe bei der Aufklärung des Rätsels zu bitten. Die Tochter des Verstorbenen verriet uns nach kurzem Zögern, ein Schriftsteller habe im Haus ihres Vaters gewohnt. Er hätte dort gearbeitet und musste für die Unterkunft und die Verpflegung nicht aufkommen. Sie hatte erwartet, dass der Mann verschwunden sei. Wir hatten also einen unsichtbaren Gast in unserem Haus.
Sein Name ist Magnus Lieberwirth. Aber ich kann im Netz nichts über ihn finden. Keine Veröffentlichungen, keine Informationen. Vielleicht benutzt er ein Pseudonym?
Front 242 – Welcome to Paradise. https://www.youtube.com/watch?v=dBk1Fpk3waU

Sonntag, 15. Mai 2016

Schopenhauer

Die Lehre Schopenhauers hat in der Gegenwart schon darum Bedeutung, weil sie unbeirrbar die Götzen denunziert.” (Max Horkheimer)
„Beim Lesen begreife ich nicht, wie sein Name unbekannt bleiben konnte. Es gibt nur eine Erklärung, dieselbe, die er so häufig wiederholt, dass es fast nur Idioten in der Welt gibt.“ (Leo Tolstoi)
Es ist ein schmales Bändchen, das ich neugierig aus dem Bücherregal ziehe: „Schopenhauer für Boshafte“. Auf dem Vorblatt lese ich die Widmung des Herausgebers: „Hier nochmal knapp und kompakt, weshalb vom Leben nicht viel zu erwarten ist. Alles Gute zum 40. und weiterhin von Deinem Freund N.“
Vor zehn Jahren ist das Buch erschienen und noch immer sitze ich mit jenem Schopenhauerianer bei Bier und Schweinsbraten, um die Lage der Welt zu erläutern. Selbstverständlich ist alles schlimmer geworden. Wer Schopenhauer liest, weiß es – alle anderen sind jeden Tag wieder aufs Neue überrascht. Aber die Schriften des großen Philosophen dienen uns noch heute als geistige Apotheke. Hier einige Zitate, die unsere Gegenwart ebenso illustrieren wie alle anderen Zeitalter des Menschengeschlechts:
„Der Mensch ist im Grunde ein wildes entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt; daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur.“
„Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, dass wir besser nicht da wären.“
„Man versetze dieses Geschlecht in ein Schlaraffenland, wo alles von selbst wüchse und die Tauben gebraten herumflögen, auch jeder seine Heißgeliebte alsbald fände und ohne Schwierigkeiten erhielte. – Da werden die Menschen zum Teil vor Langerweile sterben oder sich aufhängen, zum Teil aber einander bekriegen, würgen und morden und so sich mehr Leid verursachen, als jetzt die Natur ihnen auflegt.“
„Man sehe sie doch nur einmal darauf an, diese Welt beständig bedürftiger Wesen, die bloß dadurch, dass sie einander auffressen, eine Zeitlang bestehen, ihr Dasein unter Angst und Not durchbringen und oft entsetzliche Qualen erdulden, bis sie endlich dem Tode in die Arme stürzen.“
„Ein großer Teil der Kräfte des Menschengeschlechts wird der Hervorbringung des allen Notwendigen entzogen, um das ganz Überflüssige und Entbehrliche für wenige herbeizuschaffen. Solange daher auf der einen Seite der Luxus besteht, muss notwendig auf der andern übermäßige Arbeit und schlechtes Leben bestehn.“
„Vielmehr erscheint nur die menschliche Beschränktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in jedem Lande in einer andern Form und diese nennt man den Nationalcharakter. (…) Jede Nation spottet über die andere, und alle haben recht.“
„Die Zeitungen sind die Sekundenzeiger der Geschichte. Derselbe aber ist meistens nicht nur von unedlerem Metalle als die beiden andern, sondern geht auch selten richtig. (…) Übertreibung in jeder Art ist der Zeitungsschreiberei ebenso wesentlich wie der dramatischen Kunst: denn es gilt, aus jedem Vorfall möglichst viel zu machen. Daher auch sind alle Zeitungsschreiber von Handwerks wegen Alarmisten; dies ist ihre Art, sich interessant zu machen.“
„Während jeder sich schämen würde, in einem geborgten Rock, Hut oder Mantel umherzugehen, haben sie alle keine andern als geborgte Meinungen, die sie begierig aufraffen, wo sie ihrer habhaft werden, und dann, sie für eigen ausgebend, damit herumstolzieren. Andere borgen sie wieder von ihnen und machen es damit ebenso. Dies erklärt die schnelle und weite Verbreitung der Irrtümer wie auch den Ruhm des Schlechten: denn die Meinungsverleiher von Profession, als Journalisten u. dgl., geben in der Regel nur falsche Ware aus wie die Ausleiher der Maskenzüge nur falsche Juwelen.“
„Unglaublich ist doch die Torheit und Verkehrtheit des Publikums, welches die edelsten, seltensten Geister in jeder Art aus allen Zeiten und Ländern ungelesen lässt, um die täglich erscheinenden Schreibereien der Alltagsköpfe, wie sie jedes Jahr in zahlloser Menge den Fliegen gleich ausbrütet, zu lesen – bloß weil sie heute gedruckt und noch nass von der Presse sind. Vielmehr sollten diese Produktionen schon am Tage ihrer Geburt so verlassen und verachtet dastehn, wie sie es nach wenigen Jahren und dann auf immer sein werden, ein bloßer Stoff zum Lachen über vergangene Zeiten und ihre Flausen.“
„Das Geld ist die menschliche Glückseligkeit in abstracto; daher, wer nicht mehr fähig ist, sie in concreto zu genießen, sein ganzes Herz an dasselbe hängt.“
„Es ist eine große Torheit, nach außen zu gewinnen, nach innen zu verlieren, d.h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit ganz oder großenteils hinzugeben.“
„Der Reichtum gleicht dem Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man. – Dasselbe gilt vom Ruhm.“
Ähnlich wie Spinoza hat Schopenhauer im unbedingten Willen zum Leben die Wurzeln allen Übels erkannt. Indem man diesen Willen verneint und sich vom irdischen Wollen und Streben befreit, überwindet man das Leiden – unverkennbar hat Schopenhauer von der indischen Philosophie, vor allem vom Buddhismus, viel gelernt. Und selbstverständlich bleibt er mit seiner radikalen Kritik an unserer Welt des sinnfreien Konsums, der Eitelkeit und Oberflächlichkeit auch heute ungehört.
Er selbst kommt im Alter zu dem Schluss, dass seine Philosophie ihm „nie etwas eingebracht, aber sehr viel erspart“ habe.
P.S.: Und das hat Schopenhauer zu Facebook & Co. gesagt: „Da schmieren sie (…) hastig hin, was sie zu sagen haben, in den Ausdrücken, die ihnen eben ins ungewaschene Maul kommen, ohne Stil, ja ohne Grammatik und Logik.“ Der Mann ist unglaublich aktuell. Würde er heute leben, hätte er vermutlich folgende Bandansage: „Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Arthur Schopenhauer. Bitter hinterlassen Sie keine Nachricht.“
The Cure – The Funeral Party. https://www.youtube.com/watch?v=Yqo6L-7Uo2k

Freitag, 13. Mai 2016

Warum ich zwei linke Hände habe

„Den Akt des Schreibens sah er als den eigentlichen Fokus seiner Existenz, Schreiben beruhigte und stabilisierte ihn, gelungenes Schreiben machte ihn glücklich und selbstbewusst.“ (Reiner Stach: Kafka – die Jahre der Entscheidungen)
Jeder Mann kennt diese Situation:
Frau (treudoofer Augenaufschlag, Dentalpanorama, hohe Stimme): Ich habe da ein Problem mit dem Computer / dem Auto / dem Gurkenglas / offenes Feld für weitere Optionen. Kannst du mir helfen? Du kennst dich doch da bestimmt aus.
Mann (richtet sich augenblicklich auf und steht stramm wie ein Gardesoldat, Brust raus, Bauch rein, das Gehirn aktiviert die Helfersyndromsynapsen, diverse Hormone werden ausgeschüttet): Natürlich. Kein Problem.
Dann beginnt der Mann – im Regelfall ein hoffnungslos romantischer Dilettant, der jede hilfsbedürftige Frau für eine Scarlett Johannsen mit akutem Kinderwunsch hält – zu bosseln und zu basteln. Die Frau steht mit den Händen in den Hosentaschen daneben und stellt Fragen wie: Klappt’s nicht? Dauert das immer so lange? Soll ich nicht jemand anders fragen?
Spätestens nach der ersten Minute der Nörgelei bereut der Mann seine Hilfsbereitschaft und die Simulation technischer Kompetenz. Wenn er es dann nach einer halben Stunde endlich geschafft hat – falls er es geschafft hat -, ist er völlig erschöpft und frustriert. Schafft er es nicht, droht temporäre Impotenz, die mit erhöhtem Alkoholkonsum einhergeht.
Noch schlimmer ist es eigentlich nur, wenn zwei Powerfrauen der bemitleidenswerten Drohne bei der Arbeit zuschauen. Höhnisches Grinsen, mitleidige Blicke, boshafte Bemerkungen, Augenrollen, Vergleiche mit anderen Kerlen, die das aber besser konnten usw. Am Ende gibt es ein lapidar dahingeflötetes „Danke“ und das war’s. Mehr gibt’s nicht.
Und beim nächsten Mal geht die Scheiße wieder von vorne los.
Und deswegen habe ich zwei linke Hände. Ich kann nix. Tut mir leid. Bin doof. Aber so spare ich Zeit und Nerven. Ich bin Single und das ist auch gut so. Ich ermuntere die Frauen in solchen Fällen, es einmal selbst zu probieren, nicht immer gleich das passive Weibchen zu spielen, das „Ich kann das nicht“ plärrt, sondern ihre aktive Seite zu entdecken und auf diese Weise wahre Unabhängigkeit vom patriarchalen Weltganzen zu erlangen.
Es gibt in der Marktwirtschaft nur zwei erfolgreiche Geschäftsmodelle: Sex gegen Arbeit und Geld gegen Arbeit. Aber Nörgeln & Flöten gegen Arbeit – gibt’s nicht. Basta. Und jetzt darf die Prinzessin auf der Erbse, die diesen Text liest, auch gerne nach Luft schnappen und bis ins Grab die beleidigte Leberwurst spielen. Interessiert mich überhaupt nicht. Kein bisschen. Ich habe Geld und es gibt Internetpornographie. Helft euch endlich selbst!
Green Day – Basket Case. https://www.youtube.com/watch?v=22Imc9Y2_wE

Donnerstag, 12. Mai 2016

Berkeley - Heidelberg - Lomonossow

Wir waren frei, aber wir begriffen nichts.
Wir hatten uns – und sonst nichts.
Das war der erste Sommer an der Universität.

Dann kamt ihr.
Ihr wusstet Bescheid.
Drei Stunden Vortrag.

Wir bekamen Zimmer im Wohnheim.
Aber nicht zusammen.
Ihr gabt uns einen Plan.

Wir wollten schreiben.
Ihr hattet eine Studentenzeitung.
Und ihr gabt uns Themen.

Heute bin ich Ingenieur.
Du bist Ärztin.
Unser Kind wird auf die Universität gehen.

The Outfield - Your Love. https://www.youtube.com/watch?v=xF9J06CAXm8

Mittwoch, 11. Mai 2016

Blogstuff 41

„Gebt mir eine Kondorfeder! Den Krater des Vesuv als Tintenfass! Freunde, stützt mir die Arme! (…) Das ist die erhabene, erhebende Kraft eines großen und reichen Themas – wir schwellen auf seine Größe an! Wollt ihr ein großes Buch schreiben, müsst ihr ein großes Thema wählen.“ (Herman Melville: Moby Dick)
Die Deutschen ketten wieder ihre Gartenzwerge an. Es ist kühl geworden in diesem Land.
Beginn eines Monologs: „Ich hab sie alle gehabt. Die Großen und die Kleinen, die Dicken und die Dünnen, die Schönen und die Hässlichen, die Teuren und die Billigen, die Guten und die Schlechten, die Weißen und die Braunen, die Grünen und die Blauen, die Pfandflaschen und die Einwegflaschen …“
„Nur so kann getrunken werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“, um ein berühmtes Kafka-Zitat – freilich in leicht abgewandelter Form - zu bemühen.
Andy Bonetti hat die Tapferkeitsspange zum Verdienstorden der Daheimgebliebenen im Syrienkrieg verliehen bekommen.
Die Küchenuhr, das eherne Bollwerk gegen die Unpünktlichkeit. Wie spät ist es? Der kleine Zeiger deutet auf den Toaster, der große Zeiger auf den Kühlschrank. Zeit für das Frühstück, lautet sein Beschluss.
Es gibt einen „Arbeitgeberpräsident“. Warum haben die Arbeitslosen eigentlich keinen eigenen Präsidenten?
Es ist Sonntagnachmittag und wir sitzen unter dem Reklamesonnenschirm eines Ausflugslokals. Nach dem ersten Bier glaube ich, in der ganzen Szene eine tiefere Bedeutung zu spüren. Aber dann kommen die Bratwürste und weitere Biere, und alles ist wieder so bedeutungslos wie der ganze erbärmliche Rest unserer jahrtausendealten Existenz.
Das kleine Leben. Die fröhliche Stimme eines Fremden im Radio. Das Fenster ist rabenschwarz, noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Die Welt ist noch da, auch wenn man sie nicht sehen kann. Unglück und Elend in den Nachrichten. Und Wetter gibt es auch schon.
„Mann, das is ‘ne Scheibe, ey!“ sagte er zu der Hummel, die mit ihrer dicken Rübe nun schon zum dritten Mal gegen das Fenster vor ihm bollerte. Wenn die Tiere lesen könnten, würde der Schilderwald in Deutschland mindestens auf das Doppelte anwachsen. Schwarze Verbote auf gelbem Grund.
Die Jahreszeiten als Fähigkeit zur Veränderung. Viermal im Jahr. Die Natur ist flexibler als die meisten Menschen.
Ich habe jetzt endlich den Wagen für die zukünftige Zielgruppe unseres Autohauses gefunden: einen hellrosa Subaru Veganero mit Zebrastreifen und eingebautem Vogelhäuschen, fünf Prozent der Einnahmen gehen an eine Delphinaufzuchtstation in Ulan-Bator.
Verbraucherhinweis: Kann Spuren von Sarkasmus enthalten. Die Tiere sterben aus? Na und? Beim Metzger krieg ich so viel Tier wie ich will. Zugunglück? Ja, super! Regen und Nebel? Finde ich klasse. Mir geht es so auf den Sack, dass die Leute immer einer Meinung sind. Einfach mal nicht mitmachen. Seien Sie gegen das Selbstverständliche! Sie hörten einen Beitrag aus der Rubrik „Contrary Opinion“.
Andy Bonettis Werk „Manfred schweigt“ galt lange als unverfilmbar, aber jetzt hat Pixar die Rechte gekauft. Wir dürfen gespannt sein.
Einer der vielen Vorteile des Erwachsen-Seins: Pommes zum Frühstück.
Meine Schwester hat ihren Lebensgefährten kastrieren lassen. Seitdem ist er sehr häuslich: Er putzt das Bad, geht einkaufen und besucht inzwischen auch keine Kneipen und Fußballstadien mehr. Denken Sie mal drüber nach, liebe Damen!
Und hier noch eine kurze Meldung aus unserer Nachrichtenredaktion „Off the record“: Bonetti Unlimited bietet eine Beteiligung am ersten Offshore-Minigolfplatz der Welt an, der an der Küste vor Borkum errichtet werden soll. Sieben Prozent Rendite werden von der Konzernleitung garantiert. Die Bonetti Unlimited-Aktien notierten nachbörslich lebhaft.
Typische AfD-Versprecher: Polacken statt Polkappen, Seitenbachermuslim usw. (ausbauen).
Die Musik ist vom “80's Italo Disco Dance Power Megamix” von DJ Tranfunzel:
FGTH – Is Anybody Out There? https://www.youtube.com/watch?v=p2m-lcus51E

Dienstag, 10. Mai 2016

Die Monotonie des Oligopols

„Und wer noch fragt, ob Gerechtigkeit auf der Welt ist, der wird sich mit der Antwort bescheiden: vorläufig nicht, jedenfalls bis zu diesem Freitag nicht.“ (Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz)
Wann ist es mir zum ersten Mal aufgefallen? Waren es die Zigaretten? Alle großen Marken schmeckten gleich. Man hätte eine Blindprobe machen können. Keiner von uns hätte eine Marlboro noch von einer Camel unterscheiden können.
Oder war es das Bier? Irgendwann schmeckten Bitburger, Krombacher und Warsteiner eben genau gleich. Niemand hätte sie mit verbundenen Augen unterscheiden können. Und was passierte dann?
Es kamen Zigaretten ohne Parfümstoffe mit einem Indianerkopf auf der Packung und Craft Beer. Niemand mag die Monotonie der Mitte, in der sich die großen Konzerne irgendwann treffen. Das führt automatisch zu Gegenbewegungen an den offenen Flanken.
Und in der Politik ist es genauso. In der Mitte drängeln sich die Parteien und verlieren dabei ihr Gesicht. Das Resultat: neue Parteien. In einigen Ländern sind es linke Parteien wie in Griechenland oder Spanien. In anderen Ländern sind es rechte Parteien wie in Deutschland, Frankreich, Polen oder Österreich.
Der Weg ins Monopol führt regelmäßig in die Irre: Rockefeller und Carnegie vor hundert Jahren, Honecker und Breschnew in meiner Jugend, Microsoft und Merkel in der Gegenwart.

Montag, 9. Mai 2016

Gedanken aus Franken, Teil 1

„Und die Nachrichten werden immer besser, sagt Hiob.“ (Fritz Rudolf Fries)
Heitere Begebenheit am Vatertag: Nach vier Seidla Zwickelbier im Garten des Greiffenklau zu Bamberg steuern wir eine Tankstelle an, um uns für die Weiterfahrt in die Fränkische Schweiz zu munitionieren. Eine ältere Dame mit Hund strebt ebenfalls dem Verkaufsraum entgegen. Das kleine wuschelige Fellbündel (i.e. der Hund) beschnuppert mein Bein und ich beuge mich hinunter, um es zu streicheln. „Na, Struppi. Komm mal her, Struppi. Wo ist denn der Struppi?“ So spiele ich eine Weile mit ihm, schiebe sogar meine Hand in sein freches Mäulchen, weil ich weiß, dass er nicht zubeißen wird. Das freudig erregte Haustier springt an mir hoch, der Schweif rotiert. „Woher kennen Sie denn meinen Hund?“ fragt die Dame und lacht mich an. „Ich kenne ihn gar nicht“, antworte ich. „Er heißt wirklich Struppi“, sagt sie und sieht mich ganz erstaunt an. „Ich nenne alle Hunde Struppi“, erkläre ich. Merke: In Bamberg gibt es tatsächlich noch Hunde, die „Struppi“ heißen.
Am Nachmittag sitzen wir bei Held-Bräu in Oberailsfeld in der Sonne. Neben mir auf der Bank hockt eine Katze, die mich erwartungsvoll anschaut, obwohl ich gar keinen Schweinebraten bestellt habe. Abends in der „Post“ in Waischenfeld: Ein kaum zweijähriges Mädchen im Kinderstuhl schaut mich mit großen Augen an wie Kinder eben oft riesenwüchsige Menschen anschauen, die geradewegs aus einem Märchenbuch entsprungen sein könnten. Ich lache sie an, sie bewegt die Arme als wolle sie ein weit entferntes Schiff auf sich aufmerksam machen, ich ahme alle ihre Bewegungen nach. Bald proste ich ihr mit Schnaps zu, sie hebt den Schnabelbecher. Die jungen Eltern bemerken das Spiel und lachen. Als sie gehen und die Kleine in den Kinderwagen setzen, winkt mir das lächelnde Rotbäckchen zum Abschied zu, ich winke zurück. Es sollte mehr Kinder und Tiere auf der Welt geben.
Der Mann war etwa zwei Meter groß, breitschultrig und korpulent. Man würde ihn nicht in einem koreanischen Kleinwagen erwarten.
Brüder, zur „Sonne“, zur Freiheit! Ein sympathischer kleiner Gasthof gegenüber der „Post“ in Waischenfeld, wo wir Quartier bezogen haben. Am Nachbartisch acht Männer aus Köln, die zum Angeln hier sind. Ich höre es nicht an den Gesprächen, ich sehe es an den acht Angeln, die in der Ecke stehen. Offenbar sind sie am Vormittag erstmal hier eingekehrt und hängengeblieben. Es geht hoch her, wie immer versetzt der Alkohol diese Männer um die fünfzig zurück ins Pennälerstadium. Ein alter Mann schleicht die Dorfstraße entlang. „Der läuft die hundert Meter aber auch nicht an einem Stück.“ „Quatsch! Der läuft für uns in Rio den Marathon.“ „Wie viele Übernachtungen sind denn erlaubt?“
Die junge Frau, die auf der winzigen Terrasse bedient, ist sagenhaft hässlich. Solche Menschen werden nur in Dörfern geboren und dort verborgen. Aber sie ist geradezu rührend freundlich und gewissenhaft – das genaue Gegenteil der studierten Kellnerschaft Berlins. Eigentlich hat sie schöne hellgrüne Augen, durch die Brille wirken sie riesenhaft und scheinen voller unerfüllter Hoffnung. Sie schielt nach außen, das Gesicht ist voller Warzen.
Am anderen Nachbartisch ein streitendes Ehepaar, Geschäftsleute aus Hamburg. Beide um die sechzig, sie Typ dürres Ex-Model. Er beginnt einen Satz mit „Ich stelle mir vor“, sie steht auf und sagt: „Ich gehe mal auf’s Klo und du stellst dir weiter was vor.“ Er murmelt „Das habe ich mir gedacht.“ Sie dreht sich um und fragt: „Was?!“ Er wiederholt laut: „Ich habe mir gedacht, dass du sowas sagst.“ Während sie weg ist, hat er den Kopf gesenkt, wackelt nervös mit den Knien und kratzt sich die Genitalien. Und genau in diesem Augenblick legt der Wind eine kahle Stelle an seinem Hinterkopf frei.
Alleine im Gasthaus. Nach zwei Bier bin ich wie Löschpapier, ich nehme Gespräche und Szenen, Geräusche und Gerüche in mich auf. Zwei Bier weiter ist alles vorbei und ich versinke in die Traumwelt meines inneren Monologs.
Männer in meinem Alter, die kantigen Gesichter wie aus Marmor gemeißelt, die im Arbeitskittel ins Gasthaus kommen und Zigaretten ziehen oder mit dem Vornamen „Adolf“ von der Kellnerin angesprochen werden.
Die rumänische Hilfskraft, die behutsam vom kugelrunden Wirt ins Thema Blumenkästen und Geranien eingeführt wird, ohne dass Begriffe wie „Leitkultur“ oder „Deutschland“ fallen. Treffen fünfzig Migranten auf fünfzig Deutsche, findet Integration nicht statt. In dieser Situation funktioniert es.
Kommen wir zu den Fakten: ein butterzartes Rumpsteak, Schuhgröße 45, an frischem Spargel. Kartoffeln und Sauce Hollandaise auf einem Extra-Tablett, da sie nicht mehr auf den Teller passten. Vier große Bier und zwei Birnenschnäpse. Und als es ans Bezahlen ging, hielt mir die Kellnerin das Portemonnaie entgegen und sagte: „Heute zahlt nicht der Gast, heute bekommt der Gast Geld. Nehmen Sie sich heraus, was Sie für richtig halten!“ Haargenau so ist es gewesen – oder der Blitz soll mich treffen. Im Ernst: 25 Euro für dieses Mittagsmahl – es ist unglaublich, oder?
The Blue Diamonds – Ramona. https://www.youtube.com/watch?v=5L6bHd8H7fU

Mittwoch, 4. Mai 2016

Blogstuff 40

„Die statistische Methode vermittelt zwar die ideale Durchschnittlichkeit eines Sachverhalts, nicht aber ein Bild von dessen empirischer Wirklichkeit. (…) Die wirklichen Tatsachen zeichnen sich durch ihre Individualität aus; überspitzt ausgedrückt könnte man sagen, dass das wirkliche Bild sozusagen auf lauter Ausnahmen von der Regel beruhe. (…) Eine im Prinzip naturwissenschaftliche Bildung gründet sich in der Hauptsache auf statistische Wahrheiten und abstrakte Erkenntnisse, vermittelt also eine unrealistische, rationale Weltanschauung, in welcher der individuelle Fall als bloßes Randphänomen keine Rolle spielt. Das Individuum aber ist als eine irrationale Gegebenheit der eigentliche Wirklichkeitsträger.“ (C.G. Jung: Gegenwart und Zukunft)
Das gewaltige und erhabene Werk des Heimatdichters Andy Bonetti wurde von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt.
Unseren Planeten wird man dereinst Terra antica nennen, wenn er von den Raumfahrern zurückgelassen wird.
Hinweis: Die Gruppe „Trotzkistische Veganer gegen Plastikspielzeug e.V.“ in Bad Nauheim sucht noch Mitglieder.
A: Hast du mal geboxt? – B: Nicht im Verein.
Ich finde den „Ich bin kein Roboter“-Test in der Kommentarfunktion meines Blogs unbefriedigend. Da war „Blade Runner“ wesentlich anspruchsvoller. Man darf doch wenigstens einen Turing-Test erwarten. Schließlich weiß ein Wesen mit künstlicher Intelligenz vielleicht gar nicht, dass es eine Maschine ist. Jeder, der Philip K. Dick gelesen hat, verliert doch das Vertrauen in die eigenen Erinnerungen und die eigene Identität.
In meiner Kindheit gab es einfach nur Diplomatie, wenn auf internationaler Ebene verhandelt wurde. Dann wurde das „Gipfeltreffen“ erfunden, 1975 mit dem G6-Gipfel in Rambouillet (später zu G7 erweitert). Und heute ist jedes dieser Treffen ein „Krisengipfel“. Was werde ich im Alter lesen müssen? „Katastrophenhimalaya“? „Weltuntergangszenit“? „Armageddonapotheose“? Wo ist der höchste Punkt im Gebirgsmassiv der politischen Schaumschlägerei?
Deine Zelle ist von innen verschlossen. Das ist die Höchststrafe.
Wenn wir dem „Magazin des nützlichen und erbaulichen Wissens für den modernen Anthropophagen“ glauben schenken wollen, ist der Behemoth ein Ungeheuer, das tief im Berg wohnt und sich von Feuer und Hass ernährt.
Wir sollten sparsam mit dem Benzin umgehen. Sicher wurde für jede Tankfüllung ein Tropfen Menschenblut in den vergangenen Kriegen um die Ölfelder vergossen.
Geschäftsidee: Hüte mit Blitzableitern verkaufen.
Bonetti Media bereitet das Intelektuellenmagazin „Alte Hände“ vor. Aufgepasst, „Focus“ und „Stern“!
Und dann gibt es noch den „Club der laktoseintoleranten Legastheniker, die noch bei ihrer Mutter wohnen“.
Ideenreichtum und Sprachvermögen werden nie etwas mit Geld zu tun haben. Ich vertrete die Gegenthese: Geld macht den Geist träge und führt zu einer Verarmung der Sprache.
Der Zaubertrank der Antike half nicht wirklich gegen den Gegner, wie es in den „Asterix“-Comics beschrieben ist, sondern er machte den Tod schmerzlos, weil er die Krieger das Leid und die Schmerzen vergessen ließ.
Bock auf Punk? „Die ausgeschlagenen Schneidezähne“ spielen am Samstag in Wichtelbach. Vorgruppe: „Die unnötigen Eiterpickel“. Der Eintritt ist unfrei.
Was haben Sie gegen Gated Communities? Man kann Schafe und Wölfe nicht auf derselben Weide halten.
Samstag. Die Uhr schlägt neun. Und wie auf ein Kommando heulen Rasenmäher und Motorsägen auf. Dieses Volk sitzt in den Startlöchern, wenn es um die öffentlich zur Schau gestellte Geschäftigkeit geht. Seht und hört! Wir sind da! Wir arbeiten! Was macht unser Nachbar? Verdächtige Stille. Er liest und schreibt? Das macht kein Geräusch und kann darum auch nichts wert sein.
Als Bloggergemeinde erschaffen wir eine größere thematische Tiefe und Breite als die Leitmedien. Der Kiezneurotiker schreibt über Magdeburg, Sunflower über eine tapfere Frau in Afghanistan, Pantoufle über den Papst und ich über einen Roman. Mit unserer Blogroll ersetzen wir den Kiosk mit seiner raschelnden Papierwelt.
Ursprünglich sollte an dieser Stelle ein Stück von Lupo Laminettis neuer Platte “Unsafe Release – The Dub Messages” kommen, aber das Management von Bonetti Moneymaker Inc. hat sich doch wieder einmal für den Mainstream entschieden:
Men at Work – Catch a Star. https://www.youtube.com/watch?v=PyBDXluVBFk