Donnerstag, 31. Dezember 2015

Die Physik der Despotie

Es gibt Allianzen, die nicht offen verkündet werden müssen und dennoch glänzend funktionieren. Rechtsextremismus und islamistischer Fundamentalismus sind ein gutes Beispiel für diese These. Wer profitiert von den Terroranschlägen des IS und anderer Organisationen? Die Rechten in Amerika und Europa. Das Blut der Opfer wird direkt auf ihre Mühlen geleitet. Donald Trump in den Vereinigten Staaten, Marine Le Pen in Frankreich, die AfD in unserem Land, die rechten Regierungen in Polen, Ungarn usw. profitieren unmittelbar von jedem einzelnen Toten. Sie reagieren mit Gewalt auf die Gewalt der Islamisten – und erleichtern auf diese Weise die Rekrutierung neuer Terroristen. Dieser Kreislauf der Gewalt spült neue Eliten nach oben, während die demokratischen Grundsätze in allen beteiligten Staaten zu Grabe getragen werden. Diese Allianz arbeitet nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. Man muss sich nicht persönlich treffen, alles läuft auch ohne Worte perfekt. Es ist die neue Physik der Despotie.
Morrissey - The National Front Disco. https://www.youtube.com/watch?v=glrYDRz5BDs

Berliner Asche, Kapitel 7, Szene 1

Montag, sieben Uhr morgens. Elias Merck hatte eine schlaflose Nacht in der Arrestzelle verbracht. Nun saß er im Vernehmungsraum und sah einen der verhassten Polizeibeamten direkt ins Gesicht.
„Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, warum Sie Hubert Altmann ermordet haben?“
Merck schwieg.
„Sagen Sie endlich was!“
„Mein Name ist Elias Merck …“
„Das haben Sie uns doch schon hundert Mal erzählt. Glauben Sie im Ernst, Sie liefern mir hier nur ein paar Personalien und das reicht?“
Merck schwieg wieder.
„Wir können das Spiel den ganzen Tag und die ganze Nacht machen. Reden Sie!“
Merck betrachtete ruhig das Gesicht seines Gegenübers.
„Was halten Sie von Moabit? Da wird ihr kleiner Arsch die große Sensation sein.“ Sonleitner hatte den Spruch aus irgendeinem Film. „Waren Sie schon mal in einem Gefängnis?“
Merck lächelte und blickte zu Sonleitners Assistent hinüber. „Jetzt müssten Sie doch eigentlich den guten Bullen spielen, oder? ‚Herr Merck, denken Sie doch mal nach. Sie machen sich doch unglücklich’.“ Er äffte den näselnden Tonfall des Assistenten nach.
„Was wollen Sie?“ schrie Sonleitner zornig. „Wollen Sie hier den Helden spielen? Den Märtyrer? Ihre Glaubensgenossen lassen Sie doch im Knast verschimmeln.“
Merck sah Sonleitner erschrocken an und schwieg.
„Ihre Mitbewohner haben wir schon festnehmen lassen. Im Augenblick wird Ihre Wohnung durchsucht.“ Sonleitner bluffte, den Durchsuchungsbeschluss hatte er noch nicht in der Tasche. Auch wenn seiner Meinung Gefahr im Verzug war.
„Wieso verhört Ihr nicht die Nazis?“
„Ach?“ Sonleitner klang überrascht. „Über die Nazis wollen Sie reden. Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Die werden gerade von den Kollegen verhört.“
Merck schwieg wieder.
„Also noch mal von vorne. Wie viele Fahrzeuge haben Sie angezündet? Wie sind Sie auf die Verbindung von Altmann zu den Freien Kameraden Lichtenberg gestoßen? Wie haben Sie die Tat geplant?“
Merck blickte nur schweigend auf die Tischplatte.
Nur gelegentlich hörte man im dritten Stock des LKA 5 gedämpfte Verkehrsgeräusche. Der Tempelhofer Damm war zwar eine wichtige Verkehrsachse, aber um sieben Uhr in der Früh störte kaum etwas die Ruhe im Verhörzimmer.
„Morgen werden Ihre Eltern anreisen. Sie sind bereits informiert.“
Merck lächelte spöttisch. Als ob der Anblick seines Vaters oder seiner Mutter irgendetwas ändern würde.
Sonleitner und sein Assistent verließen das Verhörzimmer, um eine Pause zu machen. Irgendwann knackte man jeden, der nicht ein Profi war und der durch eine Aussage keinen Mordanschlag zu befürchten hatte. Gerade die Studenten hatte man nach acht bis zwölf Stunden klein gekocht. Und um diese Uhrzeit würde der Verdächtige auch keinen Anwalt auftreiben können.
Merck kratzte sich den Bart und dachte nach. Was konnten Sie ihm schon nachweisen? Er hatte ein paar Autos angezündet. Na und? Das war Sachbeschädigung, bestenfalls Brandstiftung. Er hatte keine Vorstrafen. Wenn sein Vater ihm einen guten Anwalt besorgte, kam er mit einer Bewährungsstrafe davon. Er wäre frei und ein Held. Während die nächste Generation der Bewegung den Kampf weiterführte, könnte er mit Ludmilla das Leben genießen. Sie würde die Frau an seiner Seite werden, er könnte Vorträge über den antikapitalistischen Widerstand halten. Wegen der Bewährungsstrafe müsste er ohnehin für die nächsten Jahre die Füße still halten. Vielleicht würde eines Tages sogar ein besetztes Haus nach ihm benannt werden?
Sonleitner betrat nach einer fünfzehnminütigen Kaffeepause wieder den Raum. Er würde seine Strategie ändern. Er würde bluffen. Und wenn es funktionierte, würde er seinem Assistenten ein Zeichen geben. Erst dann begänne die Aufzeichnung des Gesprächs.
Nachdem sie sich zu Merck an den Tisch gesetzt hatten, blickte Sonleitner den Verdächtigen lange an. Merck reagierte nicht.
„Sehen Sie mich an! Sehen Sie mir in die Augen!“ Sein Ton war scharf, aber nicht laut.
Merck hob langsam den Kopf und verzog den Mund etwas. Sein überlegenes Grinsen funktionierte im Laufe der Stunden immer weniger. Er kratzte sich am Hals.
Sonleitner hatte die Geste der Unsicherheit registriert. „Wir haben die GPS-Daten Ihres Handys überprüft. Sie waren zum Tatzeitpunkt am Tatort. Auch mit anderen Orten, an denen Autos angezündet wurden, stimmen Ihre Daten überein.“
Merck schaute ihn überrascht an.
„Die Anklage wird auf vorsätzlichen Mord lauten. Außerdem hat Ihre Tat einen extremistischen Hintergrund. Ich spreche hier von Paragraph Einhundertneunundzwanzig des Strafgesetzbuchs, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das alleine wird Ihnen mindestens zehn Jahre Gefängnis bringen. Ohne Bewährung, versteht sich.“
Merck schüttelte den Kopf. „Ich habe das Handy ausgeschaltet. Heute Nacht war es auch nicht angeschaltet. Und in der Nacht, in der Altmann angezündet wurde, habe ich friedlich in meinem Bett gelegen.“
Sonleitner lächelte und beugte sich zu Merck über den Tisch. „Wir können Ihre Daten auch orten und registrieren, wenn das Handy abgeschaltet ist. Wir können auch Ihren Computer zu Hause als Augen und Ohren nutzen, wenn das Gerät offline und abgeschaltet ist. Kapiert?“
Er lehnte sich genüsslich zurück und wartete, wie diese Informationen in Merck zu arbeiten begannen. Jetzt nichts überstürzen, dachte er. Über eine sogenannte Funkzellenabfrage konnten sie die Daten von Handybenutzern erfassen, die sich in der Nähe eines bestimmten Sendemastes aufhielten. Auf diese Weise ließ sich über Wochen ein Bewegungsbild erstellen, ohne dass der Verdächtige das Handy überhaupt benutzt hatte. Tauchte eine Telefonnummer regelmäßig an den Tatorten auf, wurde die Person observiert. Allerdings hatten sie mit dieser Methode, trotz regelmäßiger Genehmigung durch die Gerichte, in den vergangenen Monaten noch keinen Erfolg gehabt – kein Wunder bei vierzig Millionen Anrufen, Mails und SMS pro Tag in der Hauptstadt.
Der junge Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Eine lange Minute verging.
„Sie werden lebenslänglich bekommen. Hochsicherheitstrakt. Da landen Sie bei den richtig harten Jungs. Serienmörder und Kinderschänder.“
Merck wagte nicht mehr aufzublicken. Das Flattern seiner Augenlider verriet seine Nervosität. Offenbar dachte er angestrengt nach.
Noch eine Minute.
Sonleitner nickte seinem Assistenten nur kurz zu.
Mit einem Knopfdruck aktivierte der Assistent das Aufnahmegerät in seiner Jackentasche.
„Ich habe diesen Immobilienhai nicht abgefackelt“, begann Merck. „Ich wollte doch nur ein paar Autos anzünden. Mehr wollte ich doch gar nicht.“
Er blickte Sonleitner an und schien auf dessen Verständnis zu hoffen, doch der Staatsschützer schaute nur mit ausdruckslosem Gesicht auf die Wand hinter Merck.
„Ich bin doch kein Terrorist! Das müssen Sie mir glauben. Die anderen Leute sind doch völlig unschuldig, die können Sie da nicht mit reinziehen.“
Natürlich bist du ein Einzelgänger, dachte Sonleitner. Deswegen beginnst du auch jeden Satz mit dem Wort ‚Ich’.
„Ich wollte doch keinen Menschen töten. Keine Gewalt, das ist unser Grundsatz. Nur die Nazis sind Mörder, wir nicht.“ Mercks Stimme wurde weinerlich.
„Woher kannten Sie Hubert Altmann?“ fragte Sonleitner ungerührt.
„Den kannte ich doch gar nicht“, antwortete Merck. „Natürlich habe ich im Internet was gelesen. Der hat angeblich besetzte Häuser räumen lassen.“
„Sie kannten also Herrn Altmann. Und Sie hatten als Linksextremist ein Motiv.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Merck und er hieb mit der Faust auf den dünnen Kunststofftisch.
„Dann sagen Sie uns endlich die Wahrheit.“
„Ich bin einfach nur durch die Nacht gefahren und habe Bonzenautos angezündet“, begann Merck. „Und dann hat sich die Sache irgendwie verselbstständigt. Der Brandstifter war in der Szene der große Held, die Medien haben immer mehr von meinen Aktionen berichtet. Den ewigen Druck können Sie sich nicht vorstellen.“
„Ich war schon bei meiner Geburt in einer Drucksituation und seitdem ist es nicht besser geworden“, sagte Sonleitner ungerührt. „Also ersparen sie mir Ihr Selbstmitleid. Die grundsätzliche Beschissenheit des Lebens wird nicht strafmildernd in die Bewertung der Richter einfließen. Und jetzt kommen wir zurück zur Tatnacht.“
Merck redete eine halbe Stunde lang.

Berliner Asche, Kapitel 7, Szene 2

Fünfunddreißig Grad im Schatten. Die östliche Brunnenstraße lag im mittäglichen Atomblitz der Sommersonne, selbst unter den Sonnenschirmen war es den Gästen zu warm. Eine Teenagerin mit weißblond gefärbten Extensions schleppte sich müde wie ein alter Hund ins Sonnenstudio an der Ecke Lortzingstraße. Das „Seven Heavens“ lag seit einigen Minuten in wohltuendem Schatten – und das würde sich bis zum Sonnenuntergang auch nicht mehr ändern.
Es war zwölf Uhr und die ersten Gäste kamen ins Restaurant. Darunter waren viele Mitarbeiter der „Deutschen Welle“, die jeden Tag in der ehemaligen AEG-Fabrik in der Voltastraße ein Fernsehprogramm für die weite Welt machten. Ein schnatternder und plappernder Schwarm Spanier kam kurze Zeit später zur Tür herein. Inzwischen gehörte das Lamento über die vielen Touristen zum Berliner Standardrepertoire. Mardo fand die regelmäßig steigende Zahl der Berlinbesucher gar nicht so schlimm. Es waren zwar mehr Leute als früher, merkwürdigerweise fragte aber im GPS-Zeitalter niemand mehr nach dem Weg oder verlangte, ein Gruppenbild von einem halben Dutzend Japaner zu schießen. Und Integration begann schließlich beim Essen.
Da kam es in Berlin gelegentlich zu bizarren Szenen. Ein türkischer Nachbar von Mardo hatte mal an einer Imbissbude eine Currywurst bestellt. „Sieht gar nicht aus wie eine Kartoffel“, hatte einer der jungen Verkäufer auf türkisch zu seinem Kollegen gesagt. „Kartoffel“ ist der türkische Spitzname für die Deutschen. Mardos Nachbar hatte auf Türkisch geantwortet, dass er aus Izmir stammt. Daraufhin hatten ihn die beiden Jungtürken beschimpft, er würde Schweinefleisch essen – und das auch noch im Ramadan am helllichten Tag. Integration ist ein hartes Geschäft.
Julia und Mardo hatten eine Menge zu tun, als ein großer hagerer Typ mit Fototasche das Restaurant betrat. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte bei Julia ein J-Pack. Die Teigtasche mit Julias geheimnisvoller Füllung verkaufte sich gut.
„Möchten Sie auch was dazu?“ fragte sie den Mann.
„Ja, eine gute Story.“
Julia schaute ihn verdutzt an.
Der Mann grinste breit. „Rainer Lust, Restaurantkritiker von ‚Planet Berlin’. Das ist ein neues Internet-Portal. Ich bin gekommen, um das legendäre J-Pack zu testen.“
„Das J-Pack gibt es doch erst seit gestern.“
„Ich bin Internet-Journalist, so was spricht sich eben schnell rum.“
„Wie geht denn das?“ fragte sie ungläubig.
„Da haben einige User Erfahrungsberichte ins Netz gestellt. Also will ich mir selbst ein Bild machen. Bevor jemand anderes den Trend entdeckt. Falls überhaupt was dran ist.“
Julia hatte vor der Restauranteröffnung sogar „die Billigesser“ von Thomas Bernhard gelesen, um sich Anregungen oder wenigstens ein paar Rezepte zu holen – aber in der kurzen Erzählung wurde fast nichts gegessen. Dafür gab es aber den wichtigen Hinweis, dass man als Geistesmensch keinem Ratschlag folgen solle oder doch zumindest das genaue Gegenteil dieses Ratschlags unternehmen solle. Um den Eigensinn soll es dem Geistesmenschen gehen und so hatte Julia auch ihr J-Pack entworfen: in einem Moment voll rasender Lust und prickelndem Wahnsinn. Große Kunst kommt ganz plötzlich, ob Sinfonie, Sonett oder Soja. Ein einfacher kleiner Privatdetektiv wie Mardo hätte ihr sicher niemals helfen können. Hier ging es um Gastrosophie, um die Weisheit des Bauches, um den Zusammenhang von Ernährung, Glück und Sinn. Das J-Pack war klein, unkompliziert und es bröselte nicht in die Computertastatur.
Julia ging in die Küche. Wenn es so weiterging, mussten sie jemanden einstellen. Das Geschäft lief gut. Offenbar gab es auch in dieser Gegen genügend Leute, die von Billigfraß und Fastfood die Schnauze voll hatten. Gutes Essen ist wie Medizin, dachte sie. Es macht die Gäste gesund und glücklich. Wie viele Menschen gingen achtlos an diesem Lokal vorüber, um sich den nächsten Big Mäc oder eine Currywurst einzupfeifen? Das unerlöste Proletariat der Hertha-Fans, das seine knechtische Existenz einmal in der Woche für ein paar Stunden viehischen Gebrülls im Stadion oder den Fankneipen vergessen darf. Die jungen Leute, die gar nicht wissen, was es für leckere Gewürze und verlockende Rezepte gibt.
Als gegen zwei Uhr das Geschäft langsam abflaute, betrat ein Mann um die Fünfzig das Lokal. Er war groß, kräftig und das graue Haar war schon dünn geworden.
„Herr Leber“, Mardo strahlte.
„Menschenskind, Mardo. War das ein Spaß“, begann der Kommissar.
Mardo geleitete seinen Gast zu einem der hinteren Tische. „Was wollen Sie trinken?“
„Wie wäre es mit einem leckeren grünen Tee?“
„Kommt sofort.“
Als Mardo wieder zurück an den Tisch kam, hatte er eine Kanne Tee und zwei Tassen auf einem Tablett dabei.
Er setzte sich zum Kommissar und schenkte Tee ein.
„Dann erzählen Sie mal.“
„Hat alles wunderbar geklappt. Der Bursche ist tatsächlich in Schmöckwitz aufgekreuzt. Es ging alles besser als gedacht.“ Leber strahlte die Zufriedenheit aus, die uns im seltenen Falle eines Erfolgs bisweilen gegönnt ist. „Im Alter wird die Körperenergie zunehmend für die Produktion von Nasenhaaren, Warzen und Bronchialschleim verwendet und steht für sportliche Betätigungen nicht mehr zur Verfügung. Ich habe ihn mit einem Minimum an Aufwand festgenommen, keine Verfolgungsjagd, kein Zweikampf.“
„Und jetzt sitzt er bei Ihnen in der Keithstraße?“
Leber Miene verdunkelte sich etwas. „Den hat sich gleich das LKA 5 geschnappt. Sonleitner führt die Ermittlung weiter.“ Dann trank er einen Schluck. „Aber die Verhaftung habe ich gemacht und der Polizeipräsident hat sich persönlich bei mir bedankt. Die Stadt kann aufatmen und mir winkt mit ein bisschen Glück eine Beförderung. Jedenfalls steht morgen mein Name in allen Zeitungen, wenn die Pressekonferenz stattgefunden hat.“
Julia kam an ihren Tisch und stellte eine große Platte mit vegetarischen Gaumenkitzlern in die Mitte.
„Haut alle rein. Wer weiß, wann es wieder was gibt.“
Leber lachte. „Es kommen schwere Zeiten auf uns zu, da muss man vorbereitet sein.“
„Es kommen immer schwere Zeiten auf uns zu“, sagte Julia.
„Da kommt man auch nicht aus der Übung.“
„Ändern kann man sowieso nichts“, ergänzte Mardo.
„Nee. Man kann nur das Beste draus machen.“ Leber nahm sich eine winzige Pastete, die mit Spinat und Frischkäse gefüllt war.
„Schmeckt’s?“ fragte Mardo neugierig.
„Sehr lecker“, sagte der Kommissar und griff nach einer Blätterteigtasche. „Was macht Ihr eigentlich, wenn es mit dem Restaurant nicht klappt?“
„Dafür gibt es keinen Plan“, antwortete Mardo. „Wir sind nicht die großen Planer, wir nehmen es, wie es kommt.“
„Warum sollten wir einen Plan für den Fall eines Misserfolgs haben. Ich glaube, wir schaffen das. Das ewige Planen hilft doch nichts. Je ängstlicher die Menschen sind, umso mehr planen sie“, ergänzte Julia.
„Genau. Wer Angst vor der Zukunft hat, will einen möglichst genauen Plan haben, damit auch nichts schief geht. Die Deutschen reden doch schon mit 25 über ihre Rente. Wer weiß, ob es in ein paar Jahrzehnten überhaupt noch eine Rente gibt.“ Auch Mardo ließ es sich schmecken.
Julia sah, wie es den beiden schmeckte. „Wer weiß, ob es in ein paar Jahrzehnten überhaupt noch die Bundesrepublik gibt. Meine Eltern haben auch gedacht, die DDR würde es ewig geben. Wir planen höchstens bis zum nächsten Monat, schon für nächstes Jahr haben wir keinen Plan.“
„Das ist sehr mutig. Vielleicht bin ich auch einfach zu lange Beamter, um mir dieses abenteuerliche Leben vorstellen zu können.“
Mardo lächelte den Kommissar an. „Freiheit und Sicherheit gibt es eben nicht im Doppelpack. Und im Augenblick genießen wir das Experiment Selbständigkeit. Mehr als hoffen, dass es gut geht, kann man nicht.“
„Ich drücke Euch jedenfalls die Daumen.“
„Bringen Sie lieber nächste Woche Ihre Frau mit, wenn ich Jägerschnitzel mit Pommes mache – auf Seitan-Basis. Und machen Sie bei den Kollegen Werbung für unser Restaurant“, sagte Julia.
„Das klingt gut. Was ist denn Seitan?“
„Das ist ein Fleischersatz auf Weizenbasis. Mit der richtigen Soße werden Sie den Unterschied gar nicht schmecken.“
Leber war begeistert. „Dann könnt Ihr schon mal eine Tischreservierung klarmachen. Dann sieht meine Frau endlich mal, was es für tolle Restaurants im Wedding gibt.“
Ein Pärchen betrat das Restaurant und Julia musste sich im die neuen Gäste kümmern.
Eine Weile aßen Leber und Mardo schweigend die kösltichen Kleinigkeiten, bis nur noch ein paar Oliven und etwas Auberginencreme übrig waren.
Leber kratzte sich am Kopf. Irgendetwas wollte er sagen.
Mardo beschloss, ihn einfach zu fragen. „Was gibt es noch? Der Fall Altmann ist doch gelöst, oder?“
„Die Sache mit der Million geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“
„Aber es gibt keine Beweise. Der Fall ist abgeschlossen. Sie haben keinen Grund, bei der Maximum AG weitere Nachforschungen anzustellen.“
„Im Polizeibericht habe ich von einer Schießerei im ‚Chez Boris’ in Weißensee gelesen. ‚Chez Boris Entertainment GbR’ hieß einer der Investoren bei einem gescheiterten Großprojekt der Maximum-Leute.“
„Wissen Sie, wer hinter dem ‚Chez Boris’ steckt?“
„Laut Mietvertrag eine gewisse Olga Schevscherenko, die aber nirgendwo in Deutschland gemeldet ist. Das Geld wird regelmäßig von einer Zweckgesellschaft namens ‚Inland Empire SPC’ überwiesen. Firmensitz ist die Insel Jersey, eine Steueroase vor der französischen Küste, die auch von großen Firmen wie Enron oder der Bayerischen Landesbank genutzt wurde. Wir vermuten die Russenmafia dahinter. Beweisen lässt sich das natürlich nicht.“
„Die sind garantiert noch schweigsamer als die Immobilienfritzen.“
Leber schüttelte den Kopf. „Da haben Sie vermutlich Recht.“ Und nach einer kurzen Pause sagte er: „Das Geld für Ihre sachdienlichen Hinweise erhalten Sie in den nächsten Tagen. Und keine Sorge um Ihren Ruf bei der politisch bewegten Jugend der Stadt. Ihr Name taucht in keinem Protokoll auf, Sie müssen auch keine Zeugenaussage machen. Schließlich habe ich den Täter in flagranti erwischt. Kriminaldirektor Dragoner, mein Vorgesetzter, war jedenfalls begeistert, dass wir den Kollegen vom Staatsschutz eine Nasenlänge voraus waren.“
Dann war er aufgestanden und hatte sich von Mardo und Julia verabschiedet.
Eigentlich wollten ihm die beiden noch den „Brandstifter“-Ketchup von Kühne schenken, den sie neulich gekauft hatten. Aber irgendwie war das heute keine gute Idee. Mardo wusste, dass heute Nacht wieder Autos brennen würden. Irgendein Solidaritätskomitee, eine Autonome Gruppe oder eine „Brigade Werner Seelenbinder“, benannt nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer aus Neukölln, der 1925 als Ringer erfolgreich an der Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main teilgenommen hatte und nach dem eine Turnhalle am Tempelhofer Feld benannt war, würde am nächsten Tag ein Bekennerschreiben veröffentlichen und die Freilassung aller politischen Gefangenen wie Elias Merck fordern – inklusive einem freien Tibet. Und Leber wusste das auch, dachte Mardo.
Als der Kommissar gegangen war, erzählte Mardo Julia von der Belohnung. „Damit sind wir finanziell erst mal aus dem Gröbsten raus. Du darfst mit ab jetzt ‚Mein Imperator’ nennen.“
Julia hob die rechte Augenbraue. „Und du darfst heute den Abwasch machen, Schätzchen.“

Berliner Asche, Kapitel 7, Szene 3

Sie parkte ihren Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, blickte noch einmal in den Rückspiegel, um ihr Aussehen zu kontrollieren, und stieg dann aus.
Die Böcklinstraße lag in der vornehmen Berliner Vorstadt Potsdams, wo auch Teile der überregional bekannten Prominenz wie Günter Jauch oder Thomas Gottschalk logierte. Sie trug immer noch ihr schwarzes Kostüm von Prada, das sie für Altmanns Beerdigung auf dem Dahlemer St. Annen-Friedhof angezogen hatte.
Trajan Feldmüller empfing sie auf seiner Terrasse.
„Ich grüße Sie, Herr Feldmüller.“
„Guten Tag. Das ist ja eine Überraschung.“ Herr Feldmüller sah sie über die Lesebrille hinweg an und ließ das Einrichtungsmagazin in den Schoß sinken.
Sie lächelte. „Sie erinnern sich doch sicher noch an unser Telefonat?“
„Selbstverständlich! Setzen Sie sich doch. Ist es schon so spät? Mein Gott, Sie sind ja richtig pünktlich. Ich weiß das sehr zu schätzen. In meiner Branche ist Unpünktlichkeit leider weit verbreitet.“
Feldmüller war Modedesigner und spielte mit dem Gedanken, sich in der Berliner Innenstadt ein weiteres Atelier einzurichten. Sie setzte sich und unterdrückte dabei den Impuls, die Unterlagen aus ihrer Umhängetasche zu nehmen.
Ein Hausmädchen kam mit einem Tablett und servierte Darjeeling in Meissner Porzellan.
„Darf ich Ihnen etwas anderes als Tee anbieten?“
„Vielen Dank. Sehr freundlich.“ Sie ließ den Blick über seinen üppig wuchernden Garten schweifen. „Sehr schön haben Sie es hier. Und so schön ruhig.“
Feldmüller seufzte theatralisch. „Ein wenig zu ruhig. Und der Weg abends aus der Stadt ist doch sehr weit, wenn man mal ein bisschen mit Freunden unterwegs war. Deswegen habe ich mir gedacht, wir sollten uns mal kennenlernen.“
Sie aktivierte ihr schönstes Lächeln. „Da habe ich genau das richtige für Sie.“
Und während sie ihr Verkaufsgespräch begann, hob sie ganz entspannt ihre Tasche auf den Schoß und holte eine kleine Mappe hervor: Das Prospekt.
„Es ist eine ehemalige Bibliothek, die wir dem Bezirk Mitte abkaufen konnten. Das Gebäude hat insgesamt fünf Stockwerke, wobei die oberen vier für Lofts vorgesehen sind. Das bietet Ihnen den Vorteil, dass Sie die Raumaufteilung individuell gestalten können …“ Und während sie sich selbst zuhörte, war sie sich absolut sicher, dass sie heute einen Geschäftsabschluss unter Dach und Fach bringen würde. Verkauft!
Marion Sutter würde nicht die gleichen Fehler machen wie die alten Männer. Es gab eine kostspielige Marketingstrategie, fundierte Bodenanalysen zum Baugrundstück, Dossiers zur interessierten Kundschaft und eine finanzielle Absicherung des Projekts über einen Hedge-Fonds. Es würde keine Schwierigkeiten mehr geben. Keine Probleme, die man mit einem kleinen Feuer beseitigen müsste. Mit ein paar Grillkohleanzündern, die man sich im Sommer an jeder Tankstelle besorgen konnte, wie man es überall in den Zeitungsartikeln zur Brandserie nachlesen konnte. Altmann hatte den Fehler gemacht, Altmann hatte für diesen Fehler bezahlt. Sollte sie seine Schuld ewig als ihre Schuld ansehen? Was wäre passiert, wenn Altmann die Entführung überlebt hätte? In seinem Zorn hätte er vielleicht das ganze Unternehmen und damit auch ihre Karriere ruiniert. Altmann war ein Versager gewesen, das hatte sie früher erkannt als andere.
Als sie wieder in ihrem Auto saß, blickte sie zufrieden auf das Display ihres iPhones. Der Täter war gefunden, alle Medien berichteten darüber. Ausgezeichnet, dachte sie, es gibt sogar schon einen Sünder für meine Taten. Als sie in jener Nacht an einem brennenden Wagen vorbei gefahren war, hatte sie die Idee gehabt. Wieso sollte sie Altmann helfen? Der hatte mich doch schon auf der Abschussliste, dachte Sutter. Der wusste, dass ich in den Westen zurück wollte und mich bei der Konkurrenz beworben hatte. So etwas spricht sich leider schnell herum in der Branche. Aber jetzt bist du tot und ich bin die Chefin. Mir kann nichts mehr passieren und nur darum geht es im Leben. Ich bin oben und ich bin sicher. Nur dieser alte Herr Busch gefällt mir nicht. Für den lieben Kollegen muss ich mir also etwas Besonderes einfallen lassen. Vielleicht eine kleine Dienstreise zu unseren Geschäftsfreunden auf dem Balkan?
Sie steckte ihr Telefon in die Jackentasche, startete den Wagen und fuhr in Richtung Innenstadt. Heute würde sie sich mit einem Menü bei Borchardt in der Französischen Straße in Mitte belohnen, dem Treffpunkt der Schönen und Reichen der Hauptstadt. Das Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat soll dort vorzüglich sein. Wieso sollte sie sich ewig schuldig fühlen? Sie war endlich frei und führte das Unternehmen nach ihren Vorstellungen. Vor Glück und Erleichterung hätte sie schreien können, als sie auf der Schwanenallee in Richtung Glienicker Brücke fuhr. Dieses Gefühl war unglaublich, es war besser als alles was sie jemals erlebt hatte. Das Leben lag in ihren Händen, alles lief bestens.
Lützenkirchen - Drei Tage Wach. https://www.youtube.com/watch?v=EYG-cqyMdgs

Mittwoch, 30. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 1

Es war später Vormittag und bereits jetzt musste ein Sonnenschirm die beiden Männer vor der gleißenden Sonne schützen.
„Siehst du, Dimitri. In Zehlendorf residiert man, in Pankow wohnt man und im Wedding haust man.“
Gruschenko entblößte sein teures Gebiss und sah zu seinem Gefolgsmann hinüber. Der Berliner Südwesten war auf charmante Weise überaltert. Hier kamen drei Beerdigungsinstitute und fünf Apotheken auf einen Spielzeugladen. Wenige Meter unter ihnen schob ein dürres altes Männlein seinen Rollator in Zeitlupe über den Bürgersteig. Einige schlohweiße Haarbüschel umwehten seinen Kopf wie Wolkenfetzen.
Dimitri saß in T-Shirt und Jogginghose am Frühstückstisch. Die Wunde am Oberarm war von einem Arzt ihres Vertrauens fachmännisch desinfiziert, mit fünf Stichen genäht und verbunden worden. Kollege Andrej traf sich in Köpenick gerade mit einem polnischen Lieferanten, der eine Ladung Partypillen aus einem Warschauer Labor brachte.
Die Altbauwohnung am Mexikoplatz lag in einem ruhigen Teil der Stadt und war dennoch verkehrsgünstig gelegen. In die Penthouse-Wohnung am Solonplatz in Weißensee konnten sie nicht mehr zurück, sie war zu heiß geworden. Die Scheiben waren zerschossen, die Möbel und Wände zersiebt. Außerdem hatte die Polizei alles gründlich unter die Lupe genommen und auf dem Dach die Waffen der Angreifer gefunden.
Ob Nazis oder Maximum – Gruschenko brauchte Abstand, um seine Geschäfte in Ruhe weiterführen zu können. Über den Mietvertrag würden sie nicht an ihn herankommen, der lief über eine Briefkastenfirma. Und aus dem Bordell war er als einfacher Kunde heraus spaziert, als die Polizei gekommen war. Offiziell hatte das „Chez Boris“ nichts mit der eleganten Wohnung auf dem Dach des Gebäudes zu tun. Ein separater Aufzug führte von der Penthouse-Wohnung auf den Hinterhof – und wenn man auf den Alarmknopf drückte, fuhr er hinab in den Keller, wo ein Versteck für Notfälle eingerichtet war, das von den restlichen Kellerräumen nicht zu erreichen war. Hier hatten der verletzte Dimitri und Andrej ausgeharrt, solange die Polizei noch im Gebäude war. Andrej hatte seinem Kollegen einen provisorischen Verband angelegt, um die Blutung zu stillen. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde. Wodka und Schmerztabletten halfen Dimitri bis zum Morgengrauen.
Gruschenko nippte an seinem Tee und sagte: „Was denken sich diese Scheißdeutschen eigentlich, wie sie uns behandeln können? Sie versuchen uns, bei dieser Immobiliengeschichte übers Ohr zu hauen. Verkaufen uns eine Etage für fünftausend Euro den Quadratmeter und bauen dabei auf Sand. Sind wir Idioten, nur weil wir nicht in diesem Land geboren wurden? Kann man uns mit Lügen hinhalten, als wären wir kleine Kinder? Und dann werden diese Ratten auch noch frech und schicken uns ihre gesammelten Dilettanten auf den Hals! Wir machen die Drecksarbeit in dieser Stadt, wir versorgen dieses hochnäsige selbstgefällige Pack mit Drogen und Nutten. Aber wenn es um ein ehrliches Geschäft geht, dann glauben sie, uns verarschen zu können.“
Dimitri nickte grimmig. „Niemand zockt uns ab, sonst nimmt uns in dieser Stadt keiner mehr ernst“.
„Ganz richtig, Dimitri. Der Respekt vor uns ist unser größtes Kapital. Der schiefe Turm von Pankow – einfach lächerlich.“ Gruschenko verschwieg, dass er außerdem einer sehr teuren Ex-Frau Unterhalt zahlen musste und eine Tochter in einem exklusiven Schweizer Internat untergebracht hatte.
Dimitri nickte und fragte: „Was sollen wir jetzt machen, Boss? Die Bullen sind immer noch an den Maximum-Leuten dran. Im Augenblick wäre das zu gefährlich.“
„Wir warten ab. Das Geld haben wir ja wieder. In einem halben Jahr, wenn keiner mehr daran denkt, wirst du diese Schlampe liquidieren. Wie heißt sie noch mal?“
„Marion Sutter.“
„Genau, dieses miese Drecksstück. Und den alten Sack, den Gehilfen von Altmann, den erledigst du gleich mit.“ Gruschenko lächelte breit.
„Verstanden.“
„Wir reden im Winter darüber. Jetzt muss erstmal Gras über die Sache wachsen. Und wenn diese Nazi-Lümmel noch mal auftauchen sollten, werden sie lernen, was es heißt, gegen uns Krieg zu führen.“
Dimitri lachte: „Den Nazis haben wir in Berlin doch schon 1945 den Arsch versohlt. Wir werden ihnen ihre Lektion mit Eisenstangen einprügeln, wenn es sein muss.“

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 2

Er schloss die Augen und betrachtete das marmorierte Orange seiner Augenlider. Dieses Orange war seine Lieblingsfarbe: mit geschlossenen Augen ins helle Sonnenlicht blicken. Mardo hörte dem Trubel zu, der aus dem Mauerpark zu ihm herauf schallte. Wieder einmal war am Sonntag die Hölle los. Auf dem Flohmarkt drängte sich ein Menschenwurm an den Ständen vorbei. Studenten und Familien saßen auf der Wiese, tranken Bier und Bionade, hörten den vielen Musikern zu oder machten selbst Musik. Bald würde der verrückte Ire mit seiner Karaoke-Anlage angeradelt kommen und es würde richtig laut. Mardo mochte die entspannte Party-Stimmung, wenn am Wochenende der Park voll mit Leuten aus aller Welt war. Er selbst ging selten hinunter, wenn fünfzigtausend Leute die Wiese bevölkerten. Solche Menschenmassen kannte er von Rockkonzerten, das war nicht seine Welt.
Seine Welt war das Brunnenviertel, nur einen Steinwurf von der In-Meile Kastanienallee und der Szene-Hochburg Oderberger Straße entfernt. Sein Kiez wirkte im Vergleich zum extrem angesagten und luxussanierten Prenzlauer Berg wie Aschenputtel, wie das hässliche Mädchen aus dem Nachbarhaus, das zur Party des Jahres nicht eingeladen wurde. Zwischen beiden Vierteln lag nur die Bernauer Straße, wo früher die Berliner Mauer gestanden hatte. Aber die paar Meter trennten ganze Welten. War irgendwo in der Hauptstadt der Unterschied zwischen zwei Kiezen so krass? Das Brunnenviertel war so leise und normal, es hätte auch eine Trabantenstadt in den Außenbezirken Berlins sein können. Aber die explodierenden Mieten hatten ein paar dieser coolen Prenzlauer Berger in seine Straße hinüber geweht. In der Wohnung eines älteren türkischen Ehepaars zwei Stockwerke unter ihm, das zurück nach Izmir gezogen war, lebte inzwischen ein Bildhauer. Im Haus gegenüber war ein Musiklehrer aus Amberg mit seiner Familie eingezogen. Außerdem gab es einzelne Schulen und Kitas, die bereits fest in der Hand der Bionade-Deutschen aus Wessiland waren.
Wenn in der Brunnenstraße die Spielhallen dichtmachen und der erste Biosupermarkt aufmacht, wird auch hier ein anderer Wind wehen, hatte Mardo noch vor wenigen Monaten gedacht. Jetzt gab es einen, nicht weit von ihrem Lokal entfernt. Aber mit unserem vegetarischen Restaurant setzen wir ja auch auf diesen Trend. Die Brunnenstraße in Richtung Alexanderplatz war schon längst tourismuskompatibel, an der nahen Gedenkstätte Berliner Mauer wurden täglich dutzende Busladungen mit Amerikanern, Spaniern und Chinesen ausgespuckt. Lag es da nicht nahe, ein wenig von diesem nahrhaften Strom der globalen Reise- und Vergnügungsindustrie auf seine Mühle umzulenken?
Julia schlief noch. Gestern hatte sie erst nach Mitternacht das „Seven Heavens“ schließen können. Auch heute Nacht hatte sie schon geschlafen, als Mardo wieder nach Hause in die Graunstraße gekommen war. Aber er hatte im Kühlschrank eine Tupperdose mit der Aufschrift „J-Pack“ gefunden. Dankbar hatte er die Teigtasche am Küchentisch hinunter geschlungen und mit einer Flasche Bier nachgespült. Ein bisschen scharf, aber lecker gewürzt, außen knusprig, innen grün und orange. Ein guter Anfang.
An diesem herrlichen Tag würde er in den Zoologischen Garten gehen. Wie es Mungo Jerry wohl ging?

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 3

Marion Sutter, Walter Busch und die Empfangsdame saßen an einem Esstisch in Klein-Machnow. Der Tisch war Teil der Einrichtung einer Musterwohnung in der Stadtrandsiedlung, die eigentlich schon zu Brandenburg gehörte.
Die neue Chefin der Berliner Maximum-Dependance lächelte eine wenig zu lang und zu oft, als ob sie sich schon eine Million Mal gesagt hätte: „Lächeln!“ Aber es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Psychologisch betrachtet ist unsere Arbeitswelt nichts anderes als eine Reise nach Jerusalem. Wer die Nerven verliert, wer zusammenbricht oder durchdreht, verliert seinen Platz.
Die Büros lagen immer noch in Trümmern, allerdings hatte die Polizei den Schauplatz des Anschlags inzwischen frei gegeben. Ihre Privatwohnungen waren nach dem gescheiterten Angriff des österreichischen Killerkommandos auf Gruschenko und seine Leute bis auf weiteres ein eher ungünstiger Aufenthaltsort. Lars Buchholz, ihr Mitarbeiter, hatte per SMS gekündigt und war bereits auf dem Weg nach Westdeutschland. Die Immobilienbranche boomte gerade in Deutschland, Sachwerte waren in Zeiten der Wirtschaftskrise immer gefragt. Buchholz würde schnell eine andere Arbeit finden. Den Verlauf der Aktion von Derfflinger und Swoboda hatte sie sich aus dem Internet zusammen recherchiert. Hasso Otzenköttl, der oberste Chef der Maximum AG, war sicher auch schon informiert. Also versuchte sie, Business as usual zu machen. Die Geschäfte mussten weiterlaufen. Ihre Gehälter waren von der Rendite abhängig, die sie erwirtschafteten. Ohne Bonuszahlungen konnte sich keiner von ihnen seinen derzeitigen Lebensstil leisten.
„Diese Kretins mit ihrem Gentrifizierungsgeschrei, die haben doch keine Ahnung, was wir für diese Stadt tun. Mit unserem Kapital werten wir herunter gekommene Stadtteile auf, wir erneuern die Stadt, wir lassen die hässlichen Narben von Krieg und Teilung verschwinden. Wer, wenn nicht die privaten Investoren? Wie würde der Prenzlauer Berg heute aussehen? Die herrlichen Altbauten wären endgültig verfallen, Verwahrlosung und Kriminalität wären die Folge. Der Staat hat sich längst aus dem Wohnungsbau zurückgezogen, wir bauen neue Wohnungen für junge Familien. Will man uns ernsthaft vorwerfen, dass wir die derzeitigen Mieten und Kaufpreise am Markt erwirtschaften?“
Busch, der alte Kämpe, pflichtete ihr bei. Auch er wollte nicht über die vergangenen Ereignisse sprechen. „In Berlin gibt es immer noch zu viele sozialistische Traumtänzer. Die Preise entstehen auf dem Markt, nicht an der Wahlurne oder in der Bürokratie. Diese Stadt wäre ohne den permanenten Kapitalzufluss von außen schon längst verrottet. Und Ost-Berlin zuerst. Zu DDR-Zeiten hat man ganze Stadtviertel wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain aufgegeben, wir haben ihnen wieder Leben eingehaucht. Oder gefällt es diesen Salonbolschewisten nicht, dass wir Marmorbäder und Aufzüge einbauen? Wer im Dreck sitzt, hat wohl immer Recht!“
„In Neukölln müssen wir anders vorgehen. Da setzen wir gleich Security ein, damit uns die paar Spinner nicht die Käufer und die Mieter verscheuchen. Auch die größeren Baustellen müssen wir sichern. Die halten sich wohl für die Kiezpaten, die uns erzählen wollen, wo und wie wir unser Eigentum sanieren dürfen. Wenn wir solche Typen unter den Altmietern haben, werden die konsequent entsorgt. Strom und Wasser abstellen, Handwerkerbesuche – das ganze Programm.“
„Jawohl, Frau Sutter. Notfalls setzen wir erst einmal Polen in die Wohnungen.“
„Ich habe nichts gegen Polen. Die Polen sind so, wie wir uns die Türken immer gewünscht haben: unauffällig und fleißig. Aber wir brauchen diesen Standort unbedingt. Der stillgelegte Flughafen in Tempelhof ist der größte zentrale Entwicklungsschwerpunkt in dieser Stadt. Hier sind gigantische Wertsteigerungen zu erwarten, das wird der Central Park von Berlin werden.“

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 4

Kommissar Leber war gerade aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Eine merkwürdige Sache. Zwei Österreicher, einer mit einer russischen Kugel im Bein, einer mit ausgekugelter Schulter. Beide mit Schmauchspuren an der Kleidung. Zwei Schusswaffen auf dem Dach eines Hauses, das an einen Russenpuff grenzte. Zwei Paar feinste Lederhandschuhe im Treppenhaus, achtlos weggeworfen. Die beiden Männer waren mehr als verdächtig, die Sache stank zum Himmel. Aber immer noch besser als der tote vietnamesische Zigarettenhändler, mit dem sich Laschka gerade an seinem Schreibtisch beschäftigte. Berichte schreiben war nicht Lebers Fall.
In Sachen Altmann und Brandserie gab es nichts Neues. In der Nacht hatten einige Fahrzeuge in Niederschöneweide und in Charlottenburg gebrannt. Es wurden aber keine Festnahmen gemeldet. Die Presse tobte und forderte ungeduldig Ergebnisse, während die Brandstreifen der Berliner Polizei und der Bundespolizei nur zwei dusselige österreichische Ganoven angeschleppt hatte. Vermutlich irgendeine Fehde mit den Russen. Aber der Druck lastete jetzt auf Sonleitner vom LKA 5. Lebers Ärger über die hochnäsigen Kollegen vom Staatsschutz war längst der Erleichterung gewichen. Die hatten gestern Nachmittag etliche linke Demonstranten zu verhören und im Augenblick kümmerten sie sich vermutlich um zwei Neonazis, die sie gestern mit Hilfe eines V-Manns im Prenzlauer Berg hochgenommen hatten. Dazu hatten sie sicher sämtliche Anwohner befragt, die in der Nähe des ausgebrannten Porsche wohnten. Und trotzdem hatten sie noch keine heiße Spur, sonst wäre über den Flurfunk schon irgendetwas durchgesickert. Bei ihren spärlichen Erfolgen waren die Jungs doch immer sehr redselig.
Egal, dachte Leber. Morgen und übermorgen habe ich frei, und den Rest des Tages bleibe ich schön hier im Büro. Es ist einfach zu heiß. Zu heiß, um Verbrecher zu jagen, und zu heiß, um Verbrechen zu begehen. Selbst die üblichen Messerstechereien, die es Sonnabendnacht in den U-Bahnhöfen gab, waren diesmal ausgeblieben. Wenn Dragoner, sein Chef, ihn schon hier versauern ließ, um eine Bereitschaft zur Kooperation zu dokumentieren, die Sonleitner offenbar für unnötig hielt. Kein Problem – Überstunde war Überstunde und wurde gnadenlos abgebummelt.
Dann klingelte plötzlich sein Handy in der Hosentasche. Ohne auf die Nummer zu sehen, meldete er sich mit einem knappen „Ja?“
„Mungo Jerry.“

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 5

Mardo stieg am Bahnhof Zoo aus der U 9. Auf dem Hardenbergplatz, wo Taxis und Busse auf Fahrgäste wartetten, kletterte gerade die goldene Wirtschaftswundergeneration aus einem Reisebus und blinzelte traumblöde in den Berliner Sonnenhimmel: er mit schwerem Bauch im karierten Hemd, sie hellbraun onduliert im cremefarbenen Blazer.
Der Privatdetektiv betrat den Zoologischen Garten durch das Löwentor. Zunächst war er nach links abgebogen, am Panzernashorn vorbei, um zu den Flusspferden zu gehen. Im vergangenen Herbst hatte die Herde Nachwuchs bekommen. Das Kleine lag oft auf der Felseninsel in der Mitte des Beckens, eifersüchtig von der Mutter und den anderen Familienmitgliedern bewacht. Mardo zwinkerte immer den Flusspferden zu, wenn sie ihn ansahen. Inzwischen zwinkerten manche von ihnen auch zurück, so ging es drei-, viermal hin und her. Dann führte ihn sein Rundgang an Eisbären, Pinguinen und Fischottern vorbei. Langsam, aber sicher näherte er sich seinen Lieblingen. Bei den Primaten waren es die Totenkopfaffen, die er aus alten Filmen kannte, in denen ein Piratenkind sich selbst erzog, und die Springtamarine, weil diese beiden Arten einfach nett anzuschauen waren. Außerdem interessierten ihn die Bonobos und Orang-Utans, weil ihr Verhalten ihn an die anderen Bewohner dieser Stadt erinnerte. Ihren Kindern sah er gerne beim Spielen zu, die Kommentare der Menschenkinder auf seiner Seite der Scheibe waren nicht weniger interessant.
Dann war es Zeit, den Kommissar anzurufen. Er hatte es nicht weit bis zum Zoo, höchstens zehn Minuten zu Fuß bis zum Elefantentor. Und Mungo Jerry wohnte nicht weit von diesem Eingang entfernt. Nachdem er das Stichwort durchgegeben hatte, ging er hinüber ins Raubtierhaus. Im Keller, der den Nachttieren vorbehalten war, ging er achtlos an Wüstenfüchsen und Erdferkeln vorbei zu den beiden Plumploris. Sie saßen gerade in der Nähe der Scheibe und untersuchten den Boden nach eventuell vorhandenen Würmern und Käfern. Mardo lächelte und legte die Fingerspitzen an die Scheibe. Das kleinere Weibchen legte seine Pfote, deren lange nackte Finger Nägel wie eine Menschenhand aufwiesen, ebenfalls an die Scheibe und sah ihn an. Vor einigen Monaten, als er eine Auftragsflaute hatte und er mit Julia noch kein Restaurant führte, war er jeden Tag gekommen. Irgendwann hatte sich das Männchen bei seinem Anblick mit geradezu atemlosem Tempo, für seine Verhältnisse natürlich, auf den Weg zur Futterschale gemacht, weil er Mardo wohl für einen der Tierpfleger gehalten hatte. Jetzt kletterten sie durch die Äste und beachteten ihn nicht mehr. Als eine russische Familie näher kam, verließ Mardo seinen Platz und ging die Treppe hinauf ins Licht.
Es roch furchtbar nach ungewaschenen Löwen, als er zur Heimstätte des Ringelschwanzmungos ging, der direkt neben den Erdmännchen wohnte, die wie immer von Scharen alleinerziehender Mütter belagert wurden. Dann kam Kommissar Leber. Es war ungewohnt, ihn ohne Jacke zu sehen, er hatte den Kragen seines hellblauen Hemds sogar zwei Knöpfe weit geöffnet.
„Tag, Mardo. Hoffentlich haben Sie gute Nachrichten.“
„Habe ich. Und eine Telefonnummer nebst Adresse.“
„Dann lassen Sie mal hören.“
Während sie dem Ausgang in Richtung Pandabär entgegen schlenderten, erzählte Mardo dem Kommissar von seinem Verdacht. Die Kontaktdaten von Elias Merck hatte er auf einen Zettel geschrieben. Sie hatten bei ihrem letzten Gespräch vereinbart, keine Daten über Handy oder Internet weiterzugeben.
Leber runzelte die Stirn und blickte den Privatdetektiv skeptisch an. „Das reicht nicht für eine Verhaftung. Und observieren kann ich den Kerl nicht ohne offizielle Unterstützung durch meine Dienststelle. Und wenn ich eine Observierung beantrage, nehmen mir die lieben Kollegen vom Staatsschutz die Sache aus der Hand.“
Mardo überlegte eine Weile. „Und wenn wir Merck eine Falle stellen?“
„Eine Falle?“ Leber grübelte.
Sie liefen schweigend in Richtung Landwehrkanal und überquerten ihn auf einer hölzernen Fußgängerbrücke. Auf der anderen Seite gab es noch ein kleineres Gelände mit diversen Huftieren, Mardo kannte es nur flüchtig. Irgendwo unter der Brücke war die Gedenktafel für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angebracht, deren Leichen hier 1919 gefunden wurden.
Plötzlich hellte sich die Miene des Kommissars auf. „Heute Abend findet draußen in Schmöckwitz die Geburtstagsfeier des Polizeipräsidenten statt. Wegen der aktuellen Sicherheitslage in Berlin hat das niemand an die große Glocke gehängt. Erstens feiert man nicht so ausgelassen, wenn die Lage beschissen ist, zweitens haben wir gar keine Leute, um die Gäste zu bewachen. Da gibt es höchstens den persönlichen Bodyguard von Wowereit, falls der überhaupt kommt, und ansonsten ein bisschen inoffizielle Security. Es ist sowieso höchstens die Lokalprominenz da, eigentlich aber nur Freunde und Kollegen. Ich bin natürlich nicht eingeladen“. Leber grinste gut gelaunt beim letzten Satz. Wer von den Kollegen eingeladen wurde, galt als Streber und Karrierist. „Das wäre doch ein gefundenes Fressen für einen größenwahnsinnigen Brandstifter, der auf seine Serie noch einen draufsetzen will.“
Mardo nickte zufrieden. „Das klingt gut. Ein fetter Köder. Haben Sie da eine genaue Adresse?“
Sie gingen an der Rückseite der spanischen Botschaft vorüber, die unmittelbar an das Erweiterungsgelände des Zoos angrenzte.
„Lassen Sie mich nachdenken.“ Leber grübelte ein wenig. Als Laschka ihm von der Party erzählt hatte, musste ihm sein Assistent gleich das Grundstück bei Google Maps und Street View zeigen. Endlich konnte man sich stressfrei die Häuser anderer Leute anschauen. Das Internet war gar nicht so übel.
„Daniel Burckhardt, Windwallstraße 15.“
Dann verabschiedeten sie sich voneinander. Leber ging zuerst und Mardo betrachtete noch eine Weile die japanischen Waldziegen.

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 6

Acht Uhr abends im Neuköllner Schillerkiez. Woran erkannte man einen Armutsbezirk in Berlin? An der Hundescheiße pro Quadratmeter auf dem Bürgersteig und dem Anteil der Raucher an den Passanten. Ein Mann in einem knöchellangen schwarzen Wickelrock, Ledergürtel mit angehängtem Beutel, Wams und Lederkäppchen kam vorbei, eine Mischung als Mittelalter und Modenschau. Ein Bus rollte vorüber, ausdruckslose Gesichter, die einander schweigend gegenüber saßen. ‚Klopapier ist alle‘, dachte eine ältere Frau in einem admiralblauen Mantel, ‚Morgen wieder Arbeit‘ eine jüngere Frau mit Foliensträhnchen. Bei KIK gab es das „Neukölln-Survival-Kit“ im Angebot für neun Euro neunundneunzig: Badelatschen, Schirmmütze und Freizeithose aus Fallschirmseide. Er kam an einem Schuhgeschäft names „Schuhbidu“ vorüber, direkt neben einem Laden für „interkulturelle Energiesparberatung“.
Dazu die ortsüblichen Wandbeschriftungen: „Keine Bullen, kein Krawall“, „Integrier dich, Yuppie", „Mieten runter, Löhne rauf" und "No More Rollkoffer" als kleinen Gruß an die Touristen. Namenlose Künstler sind die Aristokratie der Gosse, dachte Mardo. Sie dürfen noch auf Erlösung hoffen. Hier wohnten vor allem arabische, türkische, albanische und jugoslawische Familien. Aber auch hier veränderte sich das Leben: Aus einem ehemaligen Spielcasino war die Studentenkneipe „Frollein Langner“ geworden, hippe Cafés und Delikatessengeschäfte eröffneten im Monatstakt. War das schon die gefürchtete Gentrifizierung? Nach Mardo definierte sich die Sache so: Langweilige Menschen mit Geld suchten die Nähe von interessanten Menschen ohne Geld. Sie zogen also in dieselbe Gegend, weil sie sich die Erlösung von der Langeweile erhofften. Aber die interessanten Menschen mussten wegziehen, weil sie sich die Gegend jetzt nicht mehr leisten konnten. Dann waren die langweiligen Menschen wieder allein mit ihrem Geld und der Kreislauf begann erneut. An einer Haustür hing ein Angebot für die Neuvermietung einer Wohnung: „Ideale, ruhige Mitmieter. Anspruchsvolle und hilfsbereite Mitbewohner. Deutscher Hauswart. Eisbein mit Sauerkraut statt Döner.“ Und an der Innenseite eines Autofensters, es war ein alter Subaru, stand folgender Text: „An die Eigentümer teurer Autos, wie Mercedes, BMW, Audi, Porsche, usw.! Für meinen sehr bescheidenen Lebensunterhalt benötige ich dieses Auto. Meine derzeitige finanzielle Situation macht es mir nicht möglich ein anderes Auto zu kaufen. Auch habe ich nicht die Möglichkeit eine teure Vollkaskoversicherung abzuschließen. Deshalb fordere ich sie auf, Ihre Autos in einem weiträumigen Sicherheitsabstand zu parken. Für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass Ihre Autos angezündet werden, möchte ich verhindern, dass mein Auto mit abbrennt. Den Verlust meines Autos würde ich nur schwer ausgleichen können. Danke“. Die Angst vor dem Brandstifter war in der ganzen Stadt zu spüren.
Ein Mann in hellgrauer Jogginghose und dunkelblauem Kapuzenpullover ohne Aufschrift ging auf der anderen Straßenseite, mächtiger Bauch, kurze Schritte, Kippe in der Hand, Haar vorne schütter, hinten halblang: Das sogenannte Prekariat, wie die Unterschicht von der Mittelschicht gerne genannt wird, damit man das Elend auch sprachlich gar nicht erst anfassen muss. Seine ganze Körperhaltung drückte Unsicherheit aus, so als ginge er mit vollgeschissener Hose über einen Schulhof.
Heute trafen sich die Helden der Revolution im Infoladen Lunte in der Weisestraße zum „anarchosyndikalistischen Tresen“. Die Welt wurde nämlich in diesen Kreisen – wenn überhaupt - erst gegen Abend verändert. Hier fanden aber mittwochs auch das „Erwerbslosenfrühstück“ und die Beratung der „Roten Hilfe Berlin“ statt. Gestern hatte hier noch das ZK gesessen, „Zusammen Kämpfen Berlin“, und ihre Demo „Weg mit den Paragraphen 129 – Freiheit für Özlem Yildirim“ organisiert, die übermorgen vor der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Lichtenberg stattfinden sollte. Die Türkin war angeblich Mitglied der in der Türkei und in Deutschland verbotenen marxistischen »Revolutionären Volksbefreiungspartei/-front« (DHKP-C) und saß seit Monaten im Gefängnis. Auch die „Anti-Nationale Neuköllner Antifa“ und die „Initiative gegen Ausgrenzung und Verdrängung in Nord-Neukölln“ tagten hier regelmäßig. Die Frauen hatten heute ihre eigene Sitzung der Fantifa, der feministischen Antifa, im benachbarten Graefekiez.
Es ging in der Diskussion um den Schillerkiez, dem angeblich ein ebenso brutaler Bevölkerungsaustausch drohte wie dem Prenzlauer Berg. Seit der Flughafen Tempelhof geschlossen worden und kein Fluglärm mehr zu hören war, hatte das Viertel an Attraktivität gewonnen. Ein neues Baufeld am östlichen Rand des früheren Rollfeldes war bereits geplant, alle im Kiez waren dagegen.
Magnus Kirsch trug ein lavendelfarbenes „Vneck Pocket Tee“, ein T-Shirt mit Brusttasche und V-Ausschnitt, von Sub_Urban RIOT: „Die Sozialtanten vom Quartiersmanagement kannst du doch vergessen. Da schickt uns der Staat ein paar Animateure und Pausenclowns vorbei, um von den wirklichen Problemen abzulenken. Da werden irgendwelche Scheißblumen um die Bäume rumgepflanzt, nach dem Motto ‚Unser Dorf soll schöner werden’, während die Leute ganz andere Probleme haben. Arbeitslosigkeit, Stress mit dem Job-Center und anderen Behörden, steigende Mieten, Gentrifizierung und Diskriminierung. Die Leute werden mit Straßenfesten und Töpferkursen ruhig gestellt. Inzwischen krallen sich die Spekulanten die Häuser und setzen die Altmieter unter Druck. Aber diese Quartiersmanagerinnen, alles natürlich biodeutsche Akademikerinnen aus der Mittelschicht, keiner aus dem Kiez und keiner mit Migrationshintergrund, machen nix dagegen. Sitzen in ihrem Büro, verschanzen sich hinter ihren Aktenordnern und quatschen und kichern den ganzen Tag wie Fünfjährige.“
Ben Brauser hatte ein T-Shirt von Levi’s mit weißen und orangefarbenen Querstreifen an: „Mit denen kannst du über die politischen und ökonomischen Zusammenhänge im Kiez gar nicht reden. Dafür gibt’s über jeden Scheiß eine Broschüre. Die machen sogar eine eigene Zeitung, nur reden tun sie nicht mit uns. Weder mit der Antifa, noch mit den Kurden oder den Palästinensern. Nur mit den paar handzahmen Eingeborenen, die für kleines Geld die Handlangerarbeiten für die Sozialtanten machen dürfen. Ich sag dir, erst kommen die Quartiersmanager und dann die Spekulanten. Die wollen uns hier einfach weg haben, irgendwo unsichtbar am Stadtrand oder besser gleich ganz raus aus Berlin.“
Tim Kuhn trug ein schwarzes T-Shirt von Chunk mit Darth Vader als Motiv: „Kenn ich. Meine Freundin wollte mal ehrenamtlich bei der Redaktion von dieser Kiezzeitung mitmachen. Diese Tussis haben da ernsthaft diskutiert, ob man ein Sektglas auf einem Foto sehen darf oder nicht. Die meinten, damit würde man Moslems diskriminieren, weil die doch angeblich keinen Alkohol trinken. Und das Wort ‚türkisch’, also wenn man sagt ‚eine türkische Familie’ oder so, das wäre auch diskriminierend. Hat Susanne dann gefragt, ob es auch diskriminierend wäre, wenn es ‚eine schwedische Familie’ heißen würde. Da sind die richtig sauer geworden und haben sie zusammen geschissen, als ob sie schon mit einem Bein in der rechtsradikalen Szene stehen würde. Als sie mal was über die Gentrifizierungsprozesse hier im Kiez schreiben wollte, haben sie das Thema gleich abgewürgt. Sie ist nie wieder hingegangen. Und die Türken, denen wir das erzählt haben, konnten es gar nicht fassen. Die haben Tränen gelacht. Diese Sozialtanten haben keine Ahnung von der Realität im Kiez.“
Leo Streiwieser, mit einer roten Adidas-Trainingsjacke, einem weißen T-Shirt und einer dreiviertellange Trekkinghosen bekleidet: „Du musst dir nur die anderen Gegenden anschauen, in denen es Quartiersmanagement gegeben hat, zum Beispiel im Prenzlauer Berg. Diese Pseudo-Gutmenschen sind die Vorhut der Gentrifizierung. Erst erzählen sie ihre Gender-Scheiße, um die staatlich finanzierten Jobs für irgendwelche Kampflesben zu sichern, dann steigen die Mieten und die Leute werden in irgendwelche Stadtrandghettos in Marzahn oder Spandau abgeschoben.“
Elias Merck trug an diesem Abend einen anthrazitfarbenen Hoodie von Carhartt. Hoodie war die liebevolle Abkürzung für ein „Full Zip Hooded Sweatshirt“, einen Kapuzenpullover mit Reißverschluss. Und auch die Streetwear der Marke Bench war vertreten – wenigstens die Bekleidungsindustrie ging auf die Bedürfnisse der jungen urbanen Protestgeneration ein. „Genau: Reden von Gender Diversity und am Ende hast du eine Weibermonokultur. Reden von Multikulti, aber die Deutschen bestimmen, wer die Fördergelder bekommt.“
Mardo war genervt von dem endlosen Gelaber. Wie hielten die Studenten das den ganzen Tag aus? Hatten Sie nichts Besseres zu tun? Natürlich waren die Neonazis wesentlich unangenehmer, gerade für ihn als Migranten. Von denen mochte man wirklich niemanden kennenlernen. Aber eigentlich hatte er schon nach den wenigen Tagen in der linken Szene die Schnauze voll von Politik. Vor allem die Berliner Lokalpolitik hatte ihn ja ohnehin noch nie intertessiert. Da ging es auch nicht um die großen Fragen, sondern um Dinge, die bis zur Unerträglichkeit konkret waren wie Parkraumzonen und Baugenehmigungen. Hier musste man schon die Fähigkeiten eines Loriot besitzen, um bei den verschiedenen Parteien noch die entsprechenden Positionen zu erkennen: mausgrau, staubgrau, aschgrau, steingrau, bleigrau und zementgrau.
Tim Kuhn ergriff wieder das Wort: „Wir müssen die Gentrifizierer und Spießer abschrecken. Wir alle können jeden Tag Widerstand ohne Gewalt leisten. Hässliche Fassaden, miese Klamotten, Dreck auf der Straße. Das ist unsere Antwort.“
Während Kuhn redete, beobachtete Mardo fasziniert, wie ein grünes geflügeltes Insekt seinen Kragen entlang lief, unbemerkt eine Gesichtsbacke überquerte und dann in sein Ohr kroch – was zu hektischen Zuckungen und Kratzbewegungen seitens des Agitators führte. Leute wie Kuhn fand Mardo komisch: Sie meckerten gegen Gentrifizierung und waren selbst Teil davon. Sie waren als Studenten in den Kiez gezogen und vorher hatte wahrscheinlich ein Hartz IV-Empfänger in ihrer Bude gewohnt. Die Arbeitslosenquote lag hier über vierzig Prozent. Auch die Studenten gehörten zur Mittelschicht, die hier ins Viertel strömte. So hatte Julia es ihm erklärt: Als Wegbereiter der Mittelschicht ziehen zunächst Studenten und Kreative in einen Stadtteil. Sie sind die Vorhut der Lehrerfamilien und gutbezahlten Angestellten. Man hat es im Kiez immer mehr mit Studentenkneipen, schrägen Läden und lustigen Vögeln zu tun, und immer weniger mit Ausländern, trostlosen Eckkneipen und besoffenen Schlägertypen. Dann wohnten hier Leute, die für die drei Meter bis zu ihrem nächsten Chai Latte natürlich eine Trekking-Jacke von Jack Wolfskin benötigen, die man auch im nepalesischen Winter tragen könnte. Und da redeten diese Mittelschichtkinder von Revolution. Die Mittelschicht hat noch nie eine Revolution gemacht, dachte Mardo. Sie hat zu viel zu verlieren. Und wer etwas zu verlieren hat, macht auch keine Revolution. Nur wer nichts mehr zu verlieren hat, wird mutig.
Er beschloss, sich eine Weile aufs Klo zu setzen, bis das Gespräch weiter mäandert war. Alles kam darauf an, den Köder für den Brandstifter im richtigen Augenblick auszuwerfen. Nach einer Viertelstunde stand er am Waschbecken und reinigte gründlich seine Hände. Diese Gebläse in öffentlichen Toiletten sind die reinsten Brutstätten für Bakterien, dachte Mardo. Genauso gut könnte man sich von einem Tuberkulosekranken die Hände trocken husten lassen. Im „Seven Heavens“ in der Brunnenstraße hatten Julia und er die guten alten Papiertuchspender aufgehängt.
Als er wieder zurück im Versammlungsraum war, ging es gerade um den neuen Polizeichef, der für diesen Kiez oder „Abschnitt“ zuständig war. Er hatte bereits in Gorleben als Einsatzleiter gearbeitet und war maßgeblich an der Räumung der Liebig 14 beteiligt gewesen.
Die Hausbesetzerszene lebt doch auch nur noch von ihren Erinnerungen und ihrer Folklore, dachte Mardo. Seit den frühen Neunzigern war kein Haus dauerhaft besetzt. Sie haben vielleicht weniger Miete gezahlt, okay. Aber sie haben natürlich ihren Strom und ihr Wasser genauso zahlen müssen wie alle anderen Hausbewohner. Im Laufe der Zeit sind sogar viele ehemals besetzte Häuser in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Mit zwanzig Jahren waren die Bewohner noch Besetzer, jetzt sind sie längst über vierzig, haben einen festen und oft auch einen gut bezahlten Job, haben eine Familie gegründet und ein Auto vor der Tür. Diese Leute finden es inzwischen Scheiße, wenn ihr Eigentum mit Graffiti beschmiert wird. So ändern sich die Zeiten, aber die Figur des „Hausbesetzers“ ist inzwischen genauso ein Teil des Berliner Traditionslebens wie der Trachtenjankertyp in Oberbayern.
Und dann legte er los: „Die Bullen machen heute eine Riesenparty. Habt ihr schon davon gehört?“
Alle schauten ihn an und schüttelten nur stumm die Köpfe.
„Hab ich von meinem Kumpel Marek gehört. Der Polizeipräsident feiert seinen Geburtstag und alle Oberbullen kommen vorbei. Vielleicht kommt sogar Wowi und die anderen Mitglieder des Politbüros.“
„Wie geil! Wo treffen die sich denn?“
„In Schmöckwitz. Das liegt Richtung Müggelsee. Windwallstraße 15. Der Polizeipräsident fährt übrigens einen schwarzen 7er BMW.“
Alle lachten.
„Da wimmelt es aber mit Sicherheit vor Polizei. Da kriegen wir jede Menge Ärger.“ Tim Kuhn war ein vorsichtiger Mensch geworden, seit ihn die Russen in der Mangel gehabt hatten.
Aber in Mercks Augen sah Mardo ein Leuchten. Der Brandstifter lächelte versonnen. Vielleicht dachte er über die Krönung seiner Serie nach? Der landesweit bekannte und gesuchte Feuerteufel geht direkt auf den Polizeipräsidenten los und fackelt ihm seine Limousine vor der Haustür ab – an seinem Geburtstag und im Beisein der lokalen Politprominenz. Was für eine Geschichte!
„Das schafft keiner. Das ist zu gefährlich. Vergesst es einfach“, sagte Mardo und winkte ab. Er wusste, dass Merck den Köder geschluckt hatte.
Jetzt musste er nur noch abwarten.

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 7

Berlin bei Nacht: Es glitzerten Geschäfte und Bars, schemenhafte Gestalten in schwarzen Lederjacken, blitzende Lichter und dunkle Umrisse, kurze Szenen des Glücks und des Verbrechens, es blieb keine Zeit zur Interpretation, nur der Rausch einer flüchtigen Wahrnehmung, es ging weiter, die vorläufige Pause einer roten Ampel verwirrte mehr als sie aufklärte. Die Stadt als ganzes blieb unbegreiflich und geheimnisvoll. Hier trafen sich Menschen, um einige Tage später ein Paar fürs Leben zu werden oder sich zu ermorden. Im Vorbeifahren verwischte alles zu einem Kaleidoskop der Möglichkeiten, das jede Wahrnehmung in ihre Einzelteile explodieren ließ. Die Welt schien weit entfernt, Lichtfetzen, verzerrte Formen, überlagert von der Musik aus den Boxen hinter ihm.
Gut gelaunt hatte er um siebzehn Uhr dreißig Feierabend gemacht und pünktlich um achtzehn Uhr saß er am Abendbrottisch mit seiner Frau. Die kleinen Scheiben einer „Vollkornsonne“ hatte er dick mit Butter bestrichen und doppelt mit Bierschinken belegt. „Was denn? Kein Bier zum Essen?“ hatte seine Frau erstaunt gefragt.
„Ich muss nachher noch mal weg.“
„Wohin?“
„Ist dienstlich“, hatte Leber geantwortet und sich einen Riesenbissen in den Mund geschoben, um in der nächsten Minute nicht weitersprechen zu müssen.
„Was ist denn so geheim, was du deiner eigenen Frau nicht sagen kannst?“
Der Kommissar hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt.
Sie hatte ihn entrüstet angeschaut. „Andere Beamte sagen ihren Frauen doch auch, woran sie gerade arbeiten.“
„Wer?“ hatte Leber schwer verständlich genuschelt.
„Sag ich nicht. Du sagst mir ja auch nichts.“
Dann hatten sie eine Weile schweigend gegessen, besser: leise keuchend. Zwei Menschen, in den fünfziger Jahren geboren, die Körper voller rätselhafter Schwermetalle und Kunststoffe.
„Nimmst du unseren Wagen?“
Er nickte und biss wieder ein großes Stück von seinem Vollkornbrot ab.
„Ich hoffe, deine Dienststelle bezahlt dir den Sprit für deine Abenteuer. Weißt du eigentlich, wie teuer das Benzin geworden ist? Wahrscheinlich nicht.“
Sie hatte vorwurfsvoll geklungen, aber Leber war es egal gewesen. Er freute sich diebisch darauf, im Alleingang eine Aktion durchzuführen, die den lieben Kollegen Sonleitner vom Staatsschutz hoffentlich sehr alt aussehen lassen würde. Nach Sonnenuntergang, um neun Uhr abends, machte er sich auf den Weg und trat auf die Meierottostraße hinaus, wo der weiße Toyota Carina abgestellt war. Er konnte sich gar nicht vorstellen, die Fahrt in dem mickrigen Elektro-Smart zu machen, die ihm seine Dienststelle unfreundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte.
Früher gehörte die Nacht den Eulen und Fledermäusen, und in der Stadt gehörte sie den Nachtwächtern, Nachtschwärmern und Ganoven. Während die braven Bürger in ihren Betten lagen, war die Szenerie auf das Wesentliche reduziert: Auf den nächtlichen Straßen waren nur Jäger und Gejagte unterwegs, es galt das Gesetz der Natur, Fressen und Nicht-Gefressen-werden. Die Bürger wurden von den Räubern verfolgt, die Räuber von den Nachtwächtern. Jede Begegnung konnte das Schicksal wenden, nachts war niemand ohne Schuld und ohne Angst, denn alle kindliche Unschuld und Sorglosigkeit schlief bereits tief und fest in den dunklen Häusern. In der Nacht gab es keine Familien, keine fröhlichen Straßenlärm, es gab nur einsame Wanderer mit ihren Laternen. Alles Leben schien von der Finsternis verschluckt. Inzwischen hatte das Licht die Stadtnacht verändert, aber der Kommissar liebte immer noch das Abenteuer, die Einsamkeit und den Schutz, den die Dunkelheit bot. Er war wach, er wachte, während alles schlief. Eine romantische Vorstellung aus der Frühzeit seines Polizeidienstes. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er fühlte sich großartig. Er spürte, wie seine Nerven sich anspannten. Er oder ich, dachte er. Ein Klassiker. Keine Akten, keine langen Gespräche, keine Vorgesetzten und keine Untergebenen. Wenn es die Berliner Verwaltung schon vor zehntausend Jahren gegeben hätte, wäre noch nicht mal das Rad erfunden worden. Es würde immer noch als Projektantrag in irgendeiner Schublade schlummern, weil für die Umsetzung momentan leider keine Mittel zur Verfügung stünden. Heute Nacht war alles ganz einfach: Nur er und ich.
Jetzt lief „Neonlicht“ von Kraftwerk: „Neonlicht, schimmerndes Neonlicht. Und wenn die Nacht anbricht, ist diese Stadt aus Licht.“ Die Musik seiner fernen Jugend. Rund um die Gedächtniskirche war alles Lärm und Bewegung, die ganze Stadt eine Explosion in Zeitlupe. „Ich freue mich, dass es diesem Unglücksnest endlich gelingt, Weltstadt zu werden“, hatte einst Friedrich Engels über Berlin geschrieben. Dieser Platz war schon immer ein Ort für Selbstdarsteller gewesen, hier traf man Menschen, die den Planeten retten wollten oder ihm ewige Verdammnis prophezeiten. Früher traf sich hier die Alternativszene, die Hippies oder „Gammler“, wie sie von den verängstigten Spießbürgern und ihren Presseorganen genannt wurden. Inzwischen gab es in der West-City jedoch nur noch Touristen, die andere Touristen nach dem Weg fragten. Auf dem Ku’damm das übliche Alphabet der Firmenschilder, vom „Bulettenkönig“ bis zum Gasthaus „Zum goldenen M“. Schon in den 1920er Jahren gab es auf dem Ku’damm amerikanische Fastfoodrestaurants namens „Quick“. Auf diesem Boulevard war die Stadt auf angenehme Weise oberflächlich. „Für eene Mark kann ick erwarten, dett an meene niedersten Instinkte appelliert wird“, lautete eine Berliner Kinoweisheit aus alter Zeit.
Leber erinnerte sich an das alte Berlin vor dem Mauerfall. Damals war alles ganz anders gewesen: die Kriegskrüppel, die Witwen, die Ruinen. Schrippe fünf Pfennig. Hickelhäuschen auf dem Bürgersteig spielen. Das war heutzutage ungefähr so angesagt wie Weinbrandbohnen oder Usambaraveilchen. Es gab nur drei Eissorten: Vanille, Erdbeer und Schokolade. Und nur drei Brotsorten: Weißbrot, Graubrot, Schwarzbrot. Damals hatten die Männer noch Kämme in ihrer Hosentasche und das Regierungsviertel war noch kein steriler Ort der Medienwelt gewesen, sondern ein Urwald, der nach Einbruch der Dunkelheit den Hippies und Homosexuellen, den Kiffern und Liebespärchen gehört hatte. Hier konnte man, nur selten durch Polizeistreifen oder die Jeeps der alliierten Militärpolizei gestört, sein Lagerfeuer machen, während auf der anderen Seite der Spree der gespenstisch erleuchtete Todesstreifen lag.
Er fuhr über den Wittenbergplatz auf die Kleiststraße. Vor ihnen stauten sich die Autos, um diese Uhrzeit sehr ungewöhnlich. Aber die Nacht, die Musik und die Geschwindigkeit machten Leber für einen langen Augenblick betrunken, so dass er gar nichts bemerkte, bevor ihn das abrupte Bremsen des Wagens vor ihm in die alltägliche Zeit der banalen Handlungen und Worte zurückholte. Dann sah er die Ursache: eine Polizeisperre.
Wenige Minuten später beugte sich ein uniformierter BGS-Beamter, die MP im Anschlag, zur Fahrerin hinunter. Eine Taschenlampe beleuchtete unruhig das Wageninnere.
„Den Ausweise, bitte!“ In dem schmalen und fahlen Gesicht des Beamten stach eine große Nase hervor, die wie ein eigenständiges Lebewesen wirkte.
Leber zeigte stumm seinen Dienstausweis. „Dann wünsche ich noch viel Erfolg, Kollege.“
„Danke, Herr …“ Der Polizist war verwirrt.
Leber nickte nur kurz zum Abschied und fuhr weiter.
Er hatte es nicht eilig. Der Täter würde bestimmt nicht um diese Uhrzeit losschlagen. Jetzt saß er sicher noch mit den anderen Chaoten in einer Versammlung und tobte gegen die Ausbeuterschweine. Kreuzberg: Yorkstraße, Gneisenaustraße. Neukölln: Karl-Marx-Straße. An der Grenzallee fuhr er auf die Stadtautobahn. Dann war er im ehemaligen Osten. Leber erinnerte sich an die Reisen über die Beton-Autobahn der DDR, wenn sie nach Kassel zu Verwandten gefahren waren. Der hypnotische Rhythmus der überfahrenen Fugen zwischen den Platten, der einschläfern, aber auch aggressiv machen konnte, wenn man auf das nächste Geräusch wartete: Be-tong, be-tong, be-tong. So ging es zwei bis drei Stunden lang, bis man schließlich in der alten Bundesrepublik angekommen war.
Nach endlosen und langweiligen Kilometern bog er von der Autobahn ab. Das entsprechende Lied von „Kraftwerk“ hatte ihn zumindest einige Minuten getröstet. Hier war er tief im Wald, wo er sich nicht mehr auskannte. Zumindest nicht nachts. Als er auf einer Straße namens „Adlergestell“ Richtung Grünau fuhr, fühlte er sich wieder sicher. Hier war er schon einmal mit seiner Frau spazieren gewesen. Am Ufer standen noch die alten Tribünen der Regattastrecke von den Olympischen Spielen 1936. Ein herrliches Ausflugsziel, die Tramlinie durch den Wald von Grünau nach Schmöckwitz war bei Touristen sehr beliebt.
Der Kommissar erinnerte sich an die wenigen Ausflüge, die er zu Mauerzeiten in den Ostteil der Stadt gemacht hatte. Da gab es vor allem zwei Dinge, die er sehr sympathisch fand. Zum einen waren die Städte nicht mit Werbung für irgendwelche Produkte und Konzerne zugepflastert wie in seiner Heimat. Es gab vielmehr aufmunternde Sprüche für die Werktätigen, die unermüdlich für den Frieden und den Sozialismus gearbeitet haben. Man hatte den Eindruck, irgendwelche Motivationskünstler von McKinsey hätten das ganze Land mit positiven Botschaften voll gepflastert. Zum anderen gab es in der DDR überall Parkplätze, selbst in der Innenstadt und vor wichtigen Sehenswürdigkeiten. Alles war ein bisschen anders und trotzdem sprachen alle die gleiche Sprache wie im Westen, dachte er. Wenn es um den wichtigsten Unterschied im historischen Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Ost und West geht, wird vieles ins Feld geführt: Irgendwelche Wirtschafts- und Sozialordnungen, die von unterschiedlichen Bürokratien ausbaldowert wurden, der Stand der Computerspieltechnik, die Zahl siegreicher schnurrbärtiger Speerwerferinnen oder irgendwelche Scheißargumente, die sowieso keiner hören will. Warum der Osten wirklich verloren hat, wurde ihm bei seiner ersten Reise hinter den sogenannten „Eisernen Vorhang“ Anfang der Achtziger deutlich. Er hatte am Grenzübergang Bornholmer Straße De-Mark in Ostgeld tauschen müssen und mit dem Spielgeld ging es dann in Kneipen und Restaurants, um es wieder auszugeben. Da gab es kulinarische Besonderheiten, die leider in Vergessenheit geraten sind: Grilletta - Honeckers Antwort auf den BigMäc. Ein gewagtes Product-Placement in einer ketchup-freien Zone. Oder Krusta, die viereckige Pizza für die Helden der Planübererfüllung. Und irgendwann hatte er einfach zu viel gefressen und gesoffen, dann war er auf das erste kommunistische Scheißhaus seines Lebens gegangen. Das Klopapier war einfach nicht zum Aushalten, das ging echt gar nicht. Wenn du die Wahl hast zwischen dreilagigen Analzärtlichkeiten im güldenen Westen und dieser Zonenmischung aus Raufasertapete und Schmirgelpapier, dann fällt dir die Entscheidung zwischen zwei Systemen nicht schwer. Und als die Mauer 1989 fiel, war es nur eine Frage der Zeit, bis alle es begriffen hatten. Der Rest ist Geschichte.
Gegen zehn Uhr war er an seinem Zielort angekommen, wie es das Navigationssystem ausdrücken würde, das ihm sein Schwager zu Weihnachten geschenkt hatte und das immer noch unausgepackt in ihrem Wohnzimmerschrank lag.
Die Uferseite des Grundstücks Windwallstraße 15 war hell erleuchtet, man hörte laute Musik. Auf der Straßenseite lag eine Reihe von großkalibrigen Limousinen im Dunkeln. Mercedes, BMW, Audi. Die Leibspeisen des Brandstifters. Teuer und deutsch.
Leber fuhr langsam an den silbernen und schwarzen Fahrzeugen vorüber. Ein Mann löste sich aus dem Dunkel und kam auf ihn zu. Leber hielt an und kurbelte die Scheibe hinunter.
„Leber, Kripo Berlin“, sagte er und hielt seinen Dienstausweis ans Wagenfenster.
Der große Mann mit den kurz geschorenen Haaren beugte sich zu ihm hinunter. Nach einem kurzen Blick auf das laminierte Dokument sagte er: „Schurack, Security. Wir bewachen hier den Parkplatz.“
„Sehr gut“, sagte der Kommissar. „Es könnte sein, dass hier eine oder mehrere verdächtige Personen auftauchen. Deswegen bin ich hier. Melden Sie mir sofort, wenn sie etwas sehen. Ich werde am Ende der Straße parken und in meinem Auto bleiben. Von dort aus habe ich alles im Blick.“
„Verstanden, Herr Kommissar.“ Manfred Schurack, auch „Hermann“ genannt“, deutete mit der rechten Hand einen militärischen Gruß an und verzog sich zurück in die Dunkelheit zwischen den parkenden Autos.

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 8

Eigentlich ist die Gentrifizierung ein Kompliment für Menschen wie mich. Wegen kreativer Köpfe wie mir, so lese ich allenthalben, ziehen irgendwelche Schwaben aus der Provinz nach Berlin und geben eine Mörderkohle für schicke Eigentumswohnungen aus. Sie haben ja auch Recht: Was für eine Stadt! Da gibt es Schriftsteller und Kunstmaler, Musiker und Schauspieler. Alle unter dreißig wollen was mit Medien machen, alle über dreißig haben demnächst eine Vernissage in New York oder machen eine Lesereise für das Goethe-Institut. Total aufregend, wie man nicht müde wird, nach Hause zu mailen. Aber dann scheint man irgendwann genug von seinem neuen Berlin-Dasein zu haben, die postmaterielle Metropolenexistenz bekommt erste Risse und spätestens mit den Kindern kommen die erlernten Verhaltensmuster der Vergangenheit – finsterster Schwarzwald mit Kehrwoche und gesetzlich garantierter Nachtruhe – wieder zum Vorschein. Dann müssen im Prenzlauer Berg die angesagten Clubs ihre Türen für immer schließen. Sie waren zu laut. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Dann kotzt einen der anstrengungslose Wohlstand des Studentenpärchens in der Nachbarwohnung an oder die spätrömische Dekadenz einer Partygesellschaft, die im Haus gegenüber bis in die frühen Morgenstunden lacht und tanzt. Graffiti sind kein Ausdruck von künstlerischer Freiheit, sondern eine akute Wertminderung der eigenen Immobilieninvestition. Man will die ganzen Typen nicht mehr sehen, die ihren No-Name-Dreck bei Aldi kaufen. Man will auch Aldi nicht mehr, aber alle fünf Meter muss die Grundversorgung des Neubürgers mit Latte macchiato und Sechskornbrötchen durch Neueröffnungen von Geschäften gesichert werden. Schließlich hat man mal so ein Buch von einem dieser sogenannten Schriftsteller gelesen. War gar nicht so doll. Und der Autor hat nach Schnaps gestunken – auch Intellektuelle sollten mal über Hygiene nachdenken. Die Bilder auf der Ausstellung letztes Jahr – jetzt mal im Ernst: Wer kauft so einen Scheiß? Eines Tages sind dann die Zugereisten unter sich. Der Hölle im eigenen Kopf entkommt niemand, Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam.
Merck saß in der S 46, um diese Uhrzeit waren nur noch wenige Menschen unterwegs. Morgen war wieder ein Arbeitstag und es war schon nach zehn. Er war am S-Bahnhof Hermannstraße eingestiegen und fuhr nach Südosten an den Rand der großen Stadt. Für eine Fahrradtour war es zu weit, außerdem waren unbeleuchtete Fahrräder in den Vororten um diese Uhrzeit zu auffällig. Er hatte sich den Weg auf seinem Smartphone genau angeschaut, später würde er das Gerät abschalten. Solange es auf Empfang geschaltet war, konnte er jederzeit geortet werden.
Mich werdet ihr nicht aus Neukölln vertreiben. Ihr könnt nicht gegen jemanden gewinnen, der nichts zu verlieren hat. Ich werde in meinem Kiez bleiben und euch einen Kampf liefern, den Ihr feinen Pinkel nie vergessen werdet. Ihr werdet mich nicht brechen und zu einem Sklaven eures Systems machen. Mein genetischer Auftrag heißt: Leben. Von Arbeit hat keiner was gesagt.
Am Bahnhof Eichwalde stieg er aus. Der Mond sah schrundig und alt aus, wie die Haut eines Buckelwals. Die kleine Schlafstadt machte nicht den Eindruck, als ob sie zur Metropole Berlin gehören würde. Und tatsächlich war hinter den letzten Häusern irgendwo die Grenze von Berlin und Brandenburg. Eichwalde gehörte offiziell zum Umland, Schmöckwitz offiziell zu Berlin. Jotwede war beides. Die Vorortstraßen waren ruhig, kein Mensch war auf dem Bürgersteig zu sehen. In den Häusern waren einige Fenster erleuchtet und man sah das blaue Flackern der Fernseher. Wahrscheinlich hatten die Spießer in ihren schicken Immobilien alle den „Tatort“ gesehen und ließen sich jetzt von Günter Jauchs Talkshowgästen in den Schlaf lullen.
Es waren etwa drei Kilometer, die er gehen musste. Aber es war erst halb elf und die Party war sicher noch in vollem Gange. Eine einmalige Gelegenheit! Sonst waren diese Bonzenkisten in Garagen versteckt und von Alarmanlagen bewacht, jetzt standen sie irgendwo auf der Straße und keiner achtete auf einen jungen Mann, der zufällig hier vorbei kam. Elias Merck fühlte sich stark und mächtig, als er auf dem Weg nach Schmöckwitz war. Er trug seinen Lieblingskapuzenpulli von Carhartt, Farbe „Asphalt“, und hatte genügend Grillkohleanzünder in den Känguruhtaschen seines Hoodies.
Sie erwischen mich nie, dachte er und ballte die Fäuste. Gute Planung und gute Nerven sind alles. Alles eine Frage der Intelligenz, dachte er. Die Idioten, die Amateure sitzen im Gefängnis. Aber die guten Leute, die Profis, die klugen Köpfe sind alle noch draußen. Sie sind frei und bewegen sich in der Gesellschaft wie die Fische im Wasser. Das hat Mao gesagt: Der Revolutionär soll sich in der Gesellschaft bewegen wie der Fisch im Wasser. Ich bin unsichtbar. Sie erkennen mich nicht. Ich kann als Gaffer neben dem Feuerwehrwagen stehen und mit meinem Handy Fotos machen. Ich kann direkt neben einem Polizisten stehen. Die Menschen in dieser Stadt sind wie ein dichter Urwald, in dem ich mich verstecken kann. Und wenn sie hinter mir her sein sollten, muss ich nur den kleinen Beutel mit den Grillkohleanzündern wegwerfen. Ich hinterlasse keine Spuren. Ich habe nur ein Feuerzeug dabei. Und das ist nicht verboten. Schwarze Klamotten sind nicht verboten. Nachts unterwegs sein ist nicht verboten. Sich erwischen lassen – das ist verboten.

Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 9

Manfred „Hermann“ Schurack hatte ein Gesicht wie ein Lederportmonnaie nach zehn Jahren Gesäßtasche. In seiner Jugend, zu DDR-Zeiten, war er Diskuswerfer gewesen, hatte aber die Leistungsnormen für die großen Wettkämpfe nicht geschafft. Nach Jahren auf Baustellen und Motorrädern war seine Haut an Wind und Wetter gewöhnt. Besser, als jetzt am Eingang der Villa den Türsteher spielen müssen wie Ronny, dachte Hermann.
Da alle Einsatzkräfte für die Jagd nach dem Brandstifter in der Innenstadt gebraucht wurden, hatte der Polizeipräsident ein paar verlässliche Kräfte des Köpenicker Fußballvereins Union rekrutiert, die für hundert Euro pro Nase die Security übernommen hatten. Die vier Jungs hatten keine Vorstrafen und kein Stadionverbot. Da musste Daniel Burckhardt vorsichtig sein, sonst würde sich die Presse wie eine Meute Geier auf ihn stürzen. Notfalls waren ja auch noch er selbst und etliche Gäste erfahrene Polizeibeamte. Hier draußen in Schmöckwitz war es ruhig, der eine oder andere Selbstmord, sonst nichts.
Sie waren zu viert: einer an der Haustür, einer auf dem Parkplatz, einer auf dem Rasen an der Wasserfront und einer als strategische Reserve, falls jemand auf Toilette musste oder krank wurde. Hermann war der Älteste von ihnen und ärgerte sich über die jungen Leute. Zu faul zum Arbeiten und zu jung zum Sterben, dachte er. Die Jungs hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, ansonsten nur Saufen und Fußball im Kopf. Dabei hatten sie in ihrem Alter noch alle Möglichkeiten. Er verstand nicht, wie man sein Leben so wegwerfen konnte.
Er stand im Dunkeln zwischen den Wagen und dachte an den Kommissar, der am Ende der Straße in einem uralten Japaner hockte und auf irgendetwas wartete. Wieso ging der Mann nicht zu seinem Chef auf die Party? Hatte wohl keine Einladung, war nicht wichtig genug, traute sich nicht. Auch so ein kleines Rädchen, dachte Hermann. Auch so einer, der sich irgendwie durchschlägt und sich wegduckt, wenn es nicht anders geht.
Auf dem Rasen hinter dem Haus ging es hoch her. Laute Musik, Gelächter, gelegentlich ein hysterisches Weiberkreischen. Hermann war froh, dass er nicht bei dieser aufgedrehten Partygesellschaft stehen musste. Da war ihm seine Arbeit am Zapfhahn im braunen Haus in der Weitlingstraße lieber. Da musste man nicht den hohen Herrn in den Arsch kriechen, da wurde Klartext gesprochen. Und es war nicht so ein Lärm. Der Krach machte einen auf Dauer ja ganz verrückt. Er beschloss, eine kleine Runde zum Ende der Straße und zurück zu drehen. Vielleicht noch zwei Stunden, dann wäre es geschafft. Sicher würden die Security-Leute noch die Reste vom Buffet und ein paar Flaschen Bier mit nach Hause bekommen. Darauf freute er sich schon. Morgen konnte er gemütlich im Bett bleiben, freier Tag.
Er ging fast bis zum Toyota des Kommissars, nickte kurz ins dunkle Innere des Wagens und ging dann zurück.
War da nicht was? Hatte er nicht gerade eine Bewegung gesehen? Seine Augen waren nachts nicht mehr so gut, aber er hatte sich geschworen, niemals zu einem Optiker zu gehen. Brillen sahen einfach schwul aus und Kontaktlinsen waren nichts in seinem Geschäft. Abends hätte er bei seinen Promillewerten die Kontaktlinsen ohnehin nicht mehr aus den Augen bekommen.
Zwischen zwei Fahrzeugen flammte ein kleines Licht auf. Als hätte jemand ein Streichholz angezündet. Er ging auf das Licht zu.
Auf dem Vorderreifen eines schwarzen BMW der Siebener Reihe brannte etwas. Er zog hastig ein Messer und schob das brennende Ding vom Reifen. Dann trat er es aus.
Plötzlich hörte er durch den Partylärm ein Geräusch, das ganz nah war. Auf dem Kies des Parkplatzes knirschte es. Er drehte sich um und sah einen Schatten davon huschen.
Die dunkle Gestalt lief zwischen zwei Wagen hindurch und wollte auf die Straße. Hermann rannte instinktiv los und schrie: „Halt!“
Die Gestalt blieb stehen und zeigte Hermann ihr Gesicht. In den Händen hielt sie ein Feuerzeug und ein Stück Grillkohleanzünder.
Hermann kam näher, doch der bärtige junge Mann blieb einfach stehen und richtete sich sogar auf.
Das ist er, schoss er Hermann durch den Kopf. Das ist die Sau!
„Hab ich dich endlich erwischt. Du hast Altmann auf dem Gewissen.“
„Dieses rechtsradikale Bonzenschwein? Geschieht ihm Recht.“
Hermann ballte zornig die Fäuste. „Dafür wirst du büßen, du Ratte!“
Merck lachte nur verächtlich. „Bist du alleine? Ihr Rohrkrepierer fühlt euch doch nur in der Gruppe stark. Wo ist deine Verstärkung?“ „Fang an, um dein Leben zu laufen. Ich krieg dich sowieso.“
„Du aufgedunsenes Stück Schweinescheiße kriegst mich doch nie im Leben.“ Mercks Tonfall war hochnäsig geworden, er fühlte sich unangreifbar.
„Das muss ich auch gar nicht. Wir machen euch alle fertig, einer nach dem anderen.“
„Ihr wollt Krieg gegen uns führen? Euch fehlen die Leute, die Waffen und euch fehlt schlicht die Intelligenz.“
Hermann lachte kurz auf. „Du bist doch nur ein Blender, ihr habt gar nichts. Seit Jahren nur ein bisschen Sprengstoffanschläge auf Bahnstrecken, das ist doch albern. Wir schaffen Fakten. Ich sage nur: Dönermorde.“
Merck wurde wütend. „Wir töten keine Menschen, weil wir gesehen haben, dass uns die Gewalt nicht weiter gebracht hat. Aber wir sind immer noch jederzeit in der Lage, innerhalb von achtundvierzig Stunden jedes Personenziel in dieser Republik zu liquidieren, wenn wir das wollen. Du glaubst nicht, wie schnell wir eine unserer Kommandoeinheiten aktiviert haben.“
„Das ist doch nur Geschwalle, ihr seid doch seit der RAF tot. Nur noch Schwätzer.“
„Das kannst du ja gerne mal ausprobieren. Euer versoffener Sauhaufen hat sich ja vorgenommen, die Dönerstände einzeln zu bekämpfen. Viel Spaß, ihr Holzköpfe.“
„ Mit Demonstrationen erreicht ihr doch nichts, das habt ihr doch schon gemacht, als ich noch ein kleines Kind war. Gebracht hat es nichts.“ Hermann würde ihm gleich die Faust in seine arrogante Fresse donnern und ihn dann persönlich beim Polizeipräsidenten abliefern. Diese Plaudertaschen hatten doch keine Ahnung von Nahkampf.
Merck redete sich in Wut. „Wir haben eure Adressenlisten, deine Adresse haben wir bestimmt auch schon. Eure Internetseiten zu hacken ist ja nicht schwer. Wenn ihr richtig Krieg wollt, könnt ihr das haben. Ihr kriegt ein paar Hundert Deppen auf die Straße, wir garantiert zehntausend. Wir werden Euch jagen wie Ratten und wenn du glaubst, dass du hier glücklich wirst, dann täuscht du dich gewaltig. Du wirst nicht unter uns wohnen und du wirst deine Kinder nicht mit unseren Kindern großziehen. Wir werden dich und deine Familie kaputt machen und wir werden nicht damit aufhören, bis du endlich von hier verschwunden bist. Verpiss dich einfach von hier, du asoziales Stück Rattenscheiße aus der Gosse. Nazi-Ungeziefer sollte sich eh nicht fortpflanzen.“
Hermann blieb unbeeindruckt. „Ihr seid doch nur Feiglinge, linker Polackenabschaum. Was wollt ihr denn gegen uns machen?“
„ Wir kommen einfach zu deinem Haus. Immer wieder. Und egal, wie oft du uns verjagst – wir kommen zurück. Wir sind schlimmer als Zigeuner, wir holen unsere Familien und unsere Freunde dazu. Es wird immer aggressiver und es hört nie auf. Und dann gehen wir zu deiner Schwester, dieser arischen Hure. Deine Nichte spielt völlig unbewacht, hast du darüber mal nachgedacht? Du musst lebensmüde sein, wenn du gegen die militante Antifa in den Krieg ziehen willst. Kein Mensch kann dir dann noch helfen. Wir werden dich Tag für Tag in deinem versifften Dreckloch zermürben und wenn du vor die Tür gehst, sind immer zwei von uns bei dir. Sie setzen sich zu dir an den Tisch im Restaurant, sie stehen in der Supermarktschlange hinter dir und sie fragen dein kleines Kind auf dem Spielplatz, ob es durstig ist. Hast du es verstanden? Wir wollen hier keine Nazis!“ Er blickte ihn wütend an, seine tränengefüllten Augen glänzten wie Leuchtfeuer.
Hermann sah über die Schulter von Merck. Vom Haus näherte sich einer von den Jungs, der den Streit offenbar gehört hatte. Er redete einfach weiter. „Mach dich doch nicht lächerlich. Wie viele seid ihr denn?“
„Wir sind überall und es gibt für dich und deine verpissten Kameraden auch überall einen Ansprechpartner in Sachen aufgesetzter Genickschuss.“
„Guck dir doch mal deine dämliche Hackfresse im Spiegel an, du Ungeziefer! Welcher Hund hat eigentlich deine Mutter gefickt, dass du so eine Visage hast?“
Kommissar Leber hatte längst mitbekommen, dass der Brandstifter tatsächlich in die Falle gegangen war. Da stand der Mann, den ganz Berlin suchte, und stritt sich mit einem Parkplatzwächter herum.
Ganz langsam war er aus dem Wagen gestiegen. Das Öffnen der Tür ging im Partylärm unter. Er schlich gebückt an den hinteren Rand des Parkplatzes, wo ein hoher Lattenzaun das Grundstück des Polizeipräsidenten vor unliebsamen Blicken schützte. Dann pirschte er sich Meter für Meter in den Rücken des Täters, der mit dem Security-Menschen lautstark diskutierte.
Als er in der richtigen Position war, sprang er von hinten auf den Mann in der dunklen Kapuzenjacke zu und trat ihm die Beine weg. Bevor sich der Täter noch einmal bewegen konnte, kniete Leber schon auf ihm und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
„Keine Bewegung! Polizei! Sie sind verhaftet.“
Dann legte er dem Brandstifter die Handschellen an.
In Hermanns Blick sah man die Enttäuschung. Er hätte den Typen gerne mit den Jungs fertig gemacht, bevor sie ihn der Polizei übergeben hätten.
Fettes Brot – Jein. https://www.youtube.com/watch?v=tcV7VN3l3bY

Dienstag, 29. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 5, Szene 1

Die Vöglein zwitscherten durchs offene Fenster hinein und der Himmel war so richtig himmelblau, anders konnte man es nicht sagen. Es sei denn, man hieß Leber, war Kommissar und betrachtete schlecht gelaunt den Minutenzeiger einer Wanduhr, der sich langsam nach Süden bewegte. Gleich würde es siebzehn Uhr dreißig sein und ein unerfreulicher Arbeitstag wäre endlich beendet. Den ganzen Tag hatte er lustlos in aktuellen Ermittlungsakten geblättert, während sein Assistent Laschka unterwegs war, um Verwandte des toten vietnamesischen Zigarettenhändlers zu vernehmen. Es würde vermutlich alles im Sande verlaufen. Die Vietnamesen trauten den Behörden nicht, sie wollten keinen Ärger mit anderen Banden oder lösten ihre Probleme intern, dazu kam ein wenig buddhistischer Fatalismus. Karma, Herr Kommissar. Vielleicht wird Nguyen Minh Giang ja als Tabakpflanze wiedergeboren, dachte Leber und war im gleichen Augenblick von seinem Zynismus angeekelt. Ich muss hier raus!
Einige Minuten später war er auf der Keithstraße und spazierte in Richtung Gedächtniskirche. Ein bisschen Bewegung würde ihm gut tun, obwohl es heiß war und sein Übergewicht ihm zu schaffen machte. Ich werde nicht nach Hause gehen, mit meiner miesen Laune gibt es nur Krach mit meiner Frau. Und wenn ich meinen Frust an ihr auslasse, wird sie die nächsten Wochen ihre Launen an mir auslassen. Also lieber Überstunden vortäuschen, ein nettes Lokal aufsuchen und ein gepflegtes Pils trinken, dachte Leber. Den ganzen Tag hatte er darauf gewartet, in Sachen Mordfall Altmann von den Kollegen des LKA 5 angesprochen zu werden. Aber niemand machte sich die Mühe, ihn nach seinen Einschätzungen zu fragen. Dabei hielt er es für fahrlässig, nur in eine Richtung zu ermitteln. Aber die Staatsschützer waren One-Trick-Ponys, sie konnten nur politische Extremisten jagen. Und das leider mit sehr bescheidenem Erfolg, was die Kollegen noch verschwiegener und eigenbrödlerischer machte, als sie ohnehin waren.
Aus einem kroatischen Restaurant drang Musik. Die – zwar nicht laute, aber dennoch auf heimtückische Weise ohrenbetäubende – Polka prügelte jeden komplexen Gedankengang augenblicklich aus seinem Kurzzeitgedächtnis ins Nirwana seiner Synapsen. Leber war es gewohnt. Er war ein gebürtiger Berliner, eigentlich gebürtiger West-Berliner. Das war nicht selbstverständlich in einer Stadt, die seit seiner Geburt Millionen Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt aufgenommen hatte und von Millionen verlassen wurde. Etwas an dieser Stadt zog die Menschen an, anderes stieß sie ab. Jeder fand etwas in Berlin: Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Aufregung und Stumpfsinn, Aufstieg und Fall.
Ein alter Mann kam vorüber. Sein Gesicht sah aus wie ein zerknülltes Blatt Papier, Tommy Lee Jones nix dagegen, kein Quadratzentimeter unzerknittert. Die Leberflecken auf seinem kahlen Schädel sahen aus wie eine Sternenkarte. Vor ihm ging eine ältere, korpulente Frau. Sie schwenkte beim Gehen ihre breiten Hüften wie ein Krokodil an Land. Berlin war schon immer eine Stadt der einfachen Menschen gewesen. In Hamburg oder München mochte sich mancher im Supermarkt schämen, wenn er arm war. In Berlin waren es die Wohlhabenden, die sich in der Warteschlange an der Kasse unwohl fühlten. Das alte West-Berlin hatte in der sogenannten „freien Welt“ das Image der heldenhaften Frontstadt, eine Art Fort (inklusive US-Kavallerie) im kommunistischen Indianerland. In Wirklichkeit war dieser Teil der Stadt ein Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft gewesen, am Leben gehalten durch die Subventionen aus Westdeutschland. Heute fragte man sich, warum in arglose Wohnviertel ganze Autobahnkreuze hineinbetoniert wurden und wieso man Hitlers Hauptstadtpläne in Form einer gigantischen Nord-Süd-Achse fortführte, obwohl doch rundherum immer gleich die Mauer kam? War es wirklich nur die Baumafia, mit deren Hilfe sich die Subventionsmilliarden aus der BRD problemlos in die eigene Tasche umleiten ließen? Oder waren es Laufräder für die eingesperrten Westberliner, in denen man wenigstens mal kurz den fünften Gang benutzen und Vollgas geben konnte? Sicherlich war an beiden Versionen etwas dran.
Der Kommissar kam am Elefantentor vorbei und dachte an Mungo Jerry. Der Eingang des Zoologischen Gartens war im Stil einer ostasiatischen Pagode gestaltet. Das Dach war aus rotem Holz und mit grünen Ziegeln gedeckt. Vor dem Eingang lagen zwei lebensgroße Elefanten aus Sandstein.
„Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber ich befinde mich leider in der unangenehmen Situation, völlig ohne Bargeld zu sein. Ob Sie mir wohl bitte freundlicherweise mit ein wenig Kleingeld aushelfen wollen?“ Sein Deodorant hieß vermutlich „Kalkutta“ von Calvin Klein.
„Aber selbstverständlich, mein Herr.“ Wer ihn mit solch ausgesuchter Höflichkeit ansprach, dem gab er gerne etwas Geld. Leber kramte ein paar Messingmünzen hervor und gab sie dem Obdachlosen. Wenn alle Menschen in Berlin so freundlich wären wie die Bettler, würden wir im Paradies leben, dachte er, als er in das strahlende Gesicht des Alten blickte. Die lavendelfarbenen Äderchen auf seinen Wangen sahen aus wie ein Flussdelta.
Vor dem Bikinihaus, das gerade aufwändig saniert wurde, roch es nach Frittierfett. Auch der süßliche Gestank faulender Kotze lag in der Luft, das war der Preis touristischer Attraktivität. An der Fußgängerampel gegenüber der Gedächtniskirche stand ein schick ausstaffierter Gimpel, rasselte selbstgefällig mit seinem Schlüsselbund und dröhnte in sein Telefon: „Für jede Minute Gespräch habe ich ihm fünf Euro berechnet.“ Man musste Unternehmensberater und Rechtsanwälte einfach lieb haben. Schöne Menschen sind beliebt, schöne Menschen haben Erfolg, schöne Menschen brauchen keine Philosophie. Sicher wohnte er im Waldorf Astoria, der neuen Nobeladresse der Berliner Hotellerie.
Am Bahnhof Zoo stieg Leber die Stufen zur U-Bahn hinab. Mit der zu dieser Uhrzeit vollbesetzten U 9 fuhr er ein paar Stationen in Richtung Süden. Normalerweise stieg er an der Station Spichernstraße aus, um nach Hause in die Meierottostraße zu gehen. Heute fuhr er jedoch bis zum Bundesplatz. Hier lebte das alte Berlin noch, das „Wirtshaus zum Nussbaum“ war ein gutbürgerliches Lokal und so normal, dass es in keinem Reiseführer vorkam. Die bis auf halbe Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände vermittelten die sogenannte Gemütlichkeit des Vor-Ikea-Zeitalters. Der typische Berliner, der hier anzutreffen war, verfügte über einen Seehundschnauzbart und eine Halbglatze plus schlohweißen Haarkranz. Er aß Eisbein mit Erbspüree oder Kalbsleber mit Zwiebeln und trank dazu seine Molle, wie er das Bier zu nennen pflegte. Es gab jedoch auch herrlich altmodische Gerichte wie Rührei, Spinat und Kartoffeln auf der wechselnden Wochenkarte. Gelegentlich konnte man auch am Nachbartisch den Lebenserinnerungen eines Mannequins (so nannte man die Models früher) aus den fünfziger Jahren lauschen. Das Publikum bestand am Wochenende ohnehin fast ausschließlich aus reiferen Herrschaften.
Leber setzte sich an einen der freien Tische und bestellte ein Budweiser vom Fass. Dann ließ er seinen Blick über die Gäste schweifen. Zwei ältere Damen fielen ihm auf. Sie hatten lange, platinblond gefärbte Haare und ihre Gesichter waren durch etliche Schönheitsoperationen regelrecht entstellt. Sie mussten weit über fünfzig Jahre alt sein und wirkten wie Pornostars aus den Siebzigern. Nichts ist schlimmer als ein solches Gesicht, dessen letzte Modellierung Jahre zurück liegt. Die gelbliche Haut war wieder erschlafft und gealtert, aber es sah im Wortsinne unmenschlich aus. Sie wirkten gruselig, wie groteske Masken des Menschlichen. Die Falten und Wülste saßen an unnatürlichen Stellen in ihren grellbunt bemalten Gesichtern, dazu die wurstförmig aufgepumpten Lippen. Leber musste an Zombies denken. Die Beine hatten sie in längst aus der Mode gekommene Karottenjeans gezwängt, an den verwelkten Armen klimperte Talmi und Tinnef in rauen Mengen. Dazu Brüste, die nichts Brustförmiges hatten, sondern wie angeschraubte Lampen wirkten. Leber hatte sie schon öfter hier gesehen. Zwei traurige Gestalten, die den Männern aufreizende Blicke zu warfen, ein beschämendes würdeloses Schauspiel voller Tragik und Altersmelancholie.
Nach dem ersten Schluck Bier, das Glas war halb leer, nahm der Kommissar den Gedankengang wieder auf. Warum verschicken diese Vollidioten keine Bekennerschreiben? Warum haben wir nur Bekennerschreiben von Trittbrettfahrern bekommen? Oder ist das Teil ihrer Strategie? Wieso wollen sie nicht, dass wir ihre Gründe für die Anschläge erfahren? Normalerweise sind Linke in der Begründung ihrer Taten immer sehr geschwätzig. Ich versteh das nicht, dachte er. Oder ist es ein Einzeltäter? Vielleicht hat er auch gar nichts mit den Linksradikalen zu tun? Berlin brennt jede Nacht und wir tappen im Dunkeln.
Ein Handy klingelte und nervte Leber beim Nachdenken. Warum gab es nicht gleich eine Yamba-Toilettenspülung, die immer eine neue Melodie spielte, wenn sie betätigt wurde? Aber diese Frage war wirklich dumm und überflüssig. Es gibt keine dummen Fragen, hörte er im Geiste seine Frau am Abendbrottisch sagen. Wenn ich so einen Scheiß schon höre! Es gibt eine Million dumme Fragen und sie werden meistens von den Leuten gestellt, die behaupten, es gäbe keine. Das ist so eine Sozialpädagogenweisheit und wenn man den Blödsinn tausendmal wiederholt, dann stimmt es eben: Es gibt keine dummen Fragen. Warum eigentlich?
Zornig trank er sein Bier aus und wedelte mit dem leeren Glas in Richtung Kellnerin. Als sie wenige Minuten später mit einem frischen Pils an seinen Tisch kam, bestellte er noch Berliner Bollenfleisch mit Salzkartoffeln. Bollenfleisch war ein traditionelles Schmorgericht aus Lammfleisch und Zwiebeln, das mit Bärlauch und Kümmel gewürzt wurde.
Die Flitzpiepen vom Staatsschutz haben leicht reden, dachte der Kommissar, als er das zweite Bier in der Hand hielt. Die führen einfach jedes Verhör noch mal und am Ende wird sich keiner mehr an deine Arbeit erinnern. Aber die Entführung passte nicht ins Bild. Wenn es um Mord gegangen wäre, hätten es die Linksradikalen nicht so kompliziert gemacht. Wenn Altmann aus der Finanzierung der rechtsradikalen Szene aussteigen wollte, hätten sich die Neonazis erst recht nicht so eine umständliche Geschichte ausgedacht. Oder sie hätten ihn einfach erpresst. Wer konnte noch ein Motiv haben, Altmann zu entführen? Vielleicht hatte es etwas mit seinen Geschäften zu tun? Mit seinen Immobiliengeschäften oder mit anderen Geschäften, von denen Leber nichts wissen konnte?
Irgendwo ertönte die Erkennungsmelodie der Deutschen Telekom. Verdammte Handys, fluchte der Kommissar. Kann man nicht einmal in Ruhe einen Gedankengang zu Ende führen, einmal am Ende eines Gedankens ankommen? Die älteren Damen blickten neugierig zu ihm hinüber. Das war sein Telefon! Er kramte beidhändig in seinen Jackentaschen und zerrte ein altertümliches Mobiltelefon hervor.
„Ja?!“
„Hier Laschka. Ich bin mit den Verhören durch. Keine neuen Erkenntnisse.“
„Sehr gut“, sagte Leber zerstreut. „Aber zurück zum Fall Altmann. Sie haben doch die Unterlagen geprüft. Gab es da im Bereich der Firmenkunden irgendetwas, dass Ihnen aufgefallen ist?“
Falls Laschka von der Frage überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. „Da gab es ein Immobilienprojekt in Pankow, bei dem es wohl Schwierigkeiten gab. Insgesamt waren acht Kunden daran beteiligt.“
„Und? Ist Ihnen da was aufgefallen?“ fragte der Kommissar ungeduldig.
„Sieben Geschäftsleute aus Deutschland, Dänemark und Österreich. Nichts besonderes, keine Schufa-Einträge, keine Vorstrafen. Sie sind mit ihren Unternehmen im Handelsregister eingetragen. Aber ein Investor ist eine Briefkastenfirma in Französisch-Buchholz. Dazu gibt es keine weiteren Informationen.“
„Ausgezeichnet, Laschka. Wie haben Sie das so schnell hingekriegt?“ Leber klang begeistert.
„Eine kurze Datenabfrage, die von der Kollegin Hirsch durchgeführt wurde.“
Französisch-Buchholz, dachte Leber. Was für Firmen könnte es denn in diesem verschlafenen Vorort im Norden Berlins geben?
„Wie heißt denn die Firma?“
„Chez Boris Entertainment GbR“.