Montag, 31. August 2015

Wir machen Politik

„Standing on a street corner waiting for no one is power.” (Gregory Corso)
Es ist Sommer und wir sitzen im Park. Du studierst Romanistik, ich Soziologie. Wir sind beide im ersten Semester. Gerade Zuhause ausgezogen. Wir diskutieren über Politik. Wir haben Ideen, wir wollen was verändern, wir wollen was machen. Da sind andere junge Leute im Park. Schließlich ist es eine ganze Gruppe, die über Politik diskutiert. Wir sind begeistert, und wir haben das Gefühl, gemeinsam etwas erreichen zu können. Da gibt es diese neue Partei, über die jetzt gerade so viel in den Medien berichtet wird. Wir beschließen, zusammen zum nächsten Treffen dieser Partei in unserer Stadt zu gehen.
Tatsächlich sind fünf von uns beim Treffen dieser Ortsgruppe. Es sind fast alles junge Leute, nur wenige sind älter. Aber wir fühlen uns wohl. Die Leute denken genauso wie wir. Sie wollen etwas verändern, sie erkennen dieselben Schwachstellen. Unsere Ideen passen zueinander. Alles ist etwas chaotisch, aber das finden wir gut. Das Treffen ist im Wohnzimmer einer WG. Wer möchte, hat sich etwas zu essen und zu trinken mitgebracht. Thermoskannen mit Tee, Dinkelbrot und Obst.
Es gibt keine Tagesordnung. Wir wollen einfach unsere Ideen sammeln. Mit Klebeband werden lange Papierbahnen an die Wand geheftet, die mit Filzstift beschrieben werden. Wir haben bereits vorher einige unserer Ideen aus dem Park notiert, die einer von uns vorträgt. Es gibt Menschen, die können in der Gruppe reden, und andere, die den Mund nicht aufbekommen. Jeder hat Ideen, aber die einen können einen geschliffenen Monolog halten, während andere – wie ich – zu schüchtern sind. Aber es wird alles aufgeschrieben.
Die Papierbahnen werden fotografiert. Drei Leute, die von der Parteiversammlung dazu bestimmt wurden, machen eine Zusammenfassung. Ein kurzes Protokoll der Sitzung. Das wird zusammen mit den Fotos an alle Teilnehmer geschickt und am Anfang der nächsten Sitzung besprochen. Auf diese Weise fassen wir unsere gemeinsamen Ideen zu einem einzigen Text zusammen, ohne dass etwas verloren geht. Über den Text diskutieren wir bei den nächsten Treffen der Ortsgruppe.
In der großen Stadt weit weg ist die Parteizentrale. Hier arbeiten die Leute, die besonders gut in der Gruppe reden können. Ich gehöre nicht dazu, aber ich würde mich in dieser Rolle auch nicht wohl fühlen. Meine Ideen sind ja Teil der Parteiarbeit. Ich finde sie im Programm der Partei wieder. Auf Seite 37 zum Beispiel. Ich habe meinen Anteil geleistet und werbe an der Universität für meine Partei. Es sind bald Wahlen zum Parlament.
Wir haben es geschafft! Wir sind tatsächlich ins Parlament gewählt worden. Sieben Abgeordnete unserer jungen Partei sind in der Hauptstadt und können dort hauptberuflich unsere Ideen umsetzen. Wir sitzen wieder im Park und feiern mit Rotwein unseren Sieg. In dieser Nacht sind wir glücklich, wir können etwas bewegen in diesem Land. Wir machen Politik. Wir reden nicht nur darüber. Unser monatelanges Engagement hat Früchte getragen. Ich rufe meine Eltern an, denn an diesem Tag bin ich stolz auf meine politische Arbeit.
Unsere Abgeordneten tragen im Parlament unsere Ideen vor. Sie haben nicht allzu viel Redezeit, aber unsere Ideen werden verbreitet. Die Regierungsbank ist leer und im Plenarsaal sitzen nur wenige Abgeordnete, die hauptsächlich mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Unsere Ideen landen im Protokoll des Parlaments, das nie jemand lesen wird. Hier enden meine Ideen. Die Ideen der anderen. Und die Regierung beschließt die Gesetze. So machen wir in unserem Land Politik.
Mother's Finest - Baby Love. https://www.youtube.com/watch?v=H4520hkB0vM

Sonntag, 30. August 2015

Blogstuff 9

„Wir sind eine der führenden Wirtschaftsnationen der Erde. Wir machen die Menschen nicht mehr selbst, wir importieren sie.“ (Birte Höllenrauch: Rede des Häuptlings Abahallo an den Dämon unter seinem Bett)
„Ich“ und „schnell“ sind die beiden wichtigsten Worte auf der Welt.
Hätten Sie’s gewusst? Einfach eine Stunde früher zum Arzttermin kommen – dann haben Sie mehr von den tollen Illustrierten.
Merkwürdige Bräuche der Jugend: Eine Zeitlang habe ich mit zwei Freunden regelmäßig am späten Nachmittag bei einem kleinen Getränkemarkt in Ober-Ingelheim einen Kasten Maisel’s Hefeweizen gekauft. Damit sind wir auf einen nahegelegenen Kinderspielplatz gegangen. Der langsamste von uns bekam nur sechs Flaschen Bier, die anderen beiden sieben. Dazu aßen wir grüne Peperonischoten aus dem Glas, um unseren Durst zu stimulieren. Am Ende kletterten wir dann nacheinander die Leiter der Rutsche hoch und kotzten die Rutschbahn runter. Im Anschluss an dieses Ritual verabschiedeten wir uns voneinander und gingen nach Hause.
Die "Geschichte" oder der "Fortschritt" ist ein besoffener Punk, der sich vor einer mannshohen Box sinnlos im Kreis dreht. Selbst wenn er eine Million Jahre alt würde, gäbe es keinen sichtbaren Erkenntnisgewinn.
Der Deutsche merkt erst, dass er abgehört wird, wenn während eines Helene-Fischer-Videos ein deutliches Husten oder Räuspern wahrnehmbar ist.
Werbung: Die Zeichensetzung wird Ihnen präsentiert von Kümmerling. Kümmerling, das Ausrufezeichen nach dem Essen!
In den Rheinauen bei Ludwigshafen ist jetzt ein Sumpfgebiet nach Helmut Kohl benannt worden.
„Er saß ganz entspannt in seinem Bürosessel, mit geschlossenen Augen und weit ausgebreiteten Armen. Lässig zurückgelehnt erklärte er seinen Rücktritt.” (Johnny Malta: Mein Jahr als Volleyballtrainer)
In den neunziger Jahren hat man Kerzen ins Fenster gestellt, heute liked man irgendwas im Netz. Was soll die Scheiße? Früher hat sich wenigstens die Geschenkboutique um die Ecke über den Umsatz gefreut, heute nur noch Facebook.
Die SPD wird zur Bundestagswahl 2017 erstmals einen Vize-Kanzlerkandidaten aufstellen. Es heißt, Frau Merkel prüfe derzeit noch die Vorschläge der Partei.
Wahlspruch der neoliberalen Globalisierung: „In girum imus nocte et consumimur igni“ („Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt“). Gefunden in der neuesten Ausgabe von „Palindrom aktuell“.
"Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie, heute gegen Stuttgart 21 demonstrieren, agitieren, die müssen sich dann auch nicht wundern, wenn sie übermorgen irgendwann ein Minarett im Garten stehen haben." (Alexander Dobrindt in seiner Rede am 29. Oktober 2010 in München auf dem Parteitag der CSU)
Promi-Tipp von Carolin Kebekus: Schweinemett mit Haarspray auf dem Brötchen fixieren.
Depeche Mode - A Question of Time. https://www.youtube.com/watch?v=-5ojJP8q__8

Samstag, 29. August 2015

Lupo Laminetti

„Das Ergebnis von 28.000 Semestern irgendwas, zusammengefasst in einem Satz, der auf der Seitenfläche einer Würfelzuckerverpackung Platz findet … - manchmal gruselt es mich vor mir selbst. Oder ist diese spezielle Mischung aus Mettbrötchen, Snickers und Müller-Thurgau der eigentliche Grund für meine Fähigkeit, wie eine Stalinorgel die letzten Weisheiten der Menschheit rauszuhauen?“ (Lupo Laminetti: Mein Leben zwischen zwei Brotscheiben)
Lupo Laminetti, bekannt für seine zügellose Verwendung von überflüssigen Adjektiven, leitet seit dreißig Jahren mit unvergleichlicher Unfähigkeit die Redaktion des Bad Nauheimer „Proletenecho“, das sich im Armenviertel der Stadt einer ungebrochenen Beleibtheit, nein, das ist falsch, einer ungebrochenen Beliebtheit erfreut.
Außerdem hat er den Spoken-Word-Award der Stadt Herne 2015 für die lautmalerische Umsetzung seines Sonetts „Der Zahnschmerz“ gewonnen, das er der Legende nach in einem Fahrstuhl auf dem Weg zur Tiefgarage geschrieben hat.
Er ist mit der Künstlerin Yolanda Halfpenny verheiratet, die aus Objets trouvés, die das Meer an den Strand von Bad Nauheim gespült hat, meterhohe Skulpturen herstellt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse der neoliberalen Spätmoderne kritisch hinterfragen. Wenn sie ausnahmsweise keine Lust hat, wird aus den Fundstücken ein Ready-made. Als „Her Slutiness“ tritt Yolanda auch als Performance-Künstlerin auf.
Sie erkennen Lupo Laminetti an seiner ferrariroten Piaggio Super Bravo, mit der er durch die Stadt rast, unermüdlich auf der Suche nach der nächsten heißen Story. Er ist nur 1,57 Meter groß und rümpft seine lange spitze Nase gerne über die Ungerechtigkeit der Welt. Seine langen schwarzen Koteletten bilden einen eigentümlichen Kontrast zu seiner hohen Stirn.
Er ist nicht einfach nur ein Schriftsteller und Journalist, sondern setzt als Mitglied der situationistischen Internationale (SI) bewusst die Methoden der Kommunikationsguerilla ein, d.h. er verknüpft in seinen Texten mit zermürbender Beharrlichkeit Information und Desinformation, um den Warencharakter des Menschen und den Fetischcharakter des Geldes zu entlarven.
Schon als Kind hat er keinen Wunschzettel für den Weihnachtsmann geschrieben, sondern einen Forderungskatalog aufgestellt, der mit einem Ultimatum verbunden war. Einmal hat er drei Tage lang die Fernsehfernbedienung versteckt, um von seinen Eltern das Lego-Set „Che Guevara“ zu epressen.
Er ist eigentlich trockener Alkoholiker, wird gegen Abend jedoch bisweilen von einer rätselhaften Amnesie befallen, bevorzugt in der Nähe des „Seven Arms“, einem spelunkenförmigen Mikrokosmos in der Badstraße, der zentralen Achse des Armenviertels, das die Einheimischen schlicht „die Bronx“ nennen.
Schon in jungen Jahren hat er den „Laminetti-Stil“ erfunden. Er notiert sich alles, was er für einen Text braucht, in einer Kneipe auf diverse Bierdeckel. Diese Deckel holt er am nächsten Morgen aus der Jackentasche, mischt sie einmal kräftig durch und verwendet die zufällige Reihenfolge der Textelemente als Grundstruktur einer Reportage, einer Erzählung oder was auch immer.
Lupo Laminetti beginnt eine Überschrift oder einen Text grundsätzlich nicht mit einem Vokal. Er sagt selbst dazu: „Wenn man schon Grundsätze hat, sollten sie vollkommen albern und nutzlos sein.“
Er wurde in Torre del Greco, einer Kleinstadt in der Nähe von Neapel geboren. Sein Vater leitete das berühmte Centro Mondiale della Poesia e della Cultura Giacomo Leopardi.
Leopardis kurzes Leben (1798-1837) war geprägt durch Armut und Einsamkeit. Er hatte nie eine feste Anstellung oder eine feste Beziehung. Nietzsche bezeichnete ihn als einen der vier Meister der Prosa des 19. Jahrhunderts. Er begleitete seine Zeit als melancholischer Skeptiker. Einige Sentenzen des vergessenen Meisters:
„Die Menschen schämen sich nicht des Unrechts, das sie tun, sondern dessen, das sie leiden.“
„Ich habe geweint, weil ich keine Schuhe hatte, bis ich einen traf, der keine Füße hatte.“
„Zwei Wahrheiten, die die Menschen nie glauben werden: dass sie nichts wissen und dass sie nichts sind. Man füge eine dritte hinzu: dass es nach dem Tod nichts zu hoffen gibt.“
„Kein Jahrhundert reiner Barbarei hat sich je für barbarisch gehalten, sondern jedes hat noch immer geglaubt, die Blüte der Jahrhunderte und das vollkommenste Zeitalter des menschlichen Geistes und der Gesellschaft zu sein.“
Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn es heißt: Vergessen Sie Andy Bonetti! Die Zukunft gehört Lupo Laminetti, einer hoffnungsvollen Nachwuchskraft von der dunklen Seite Bad Nauheims.
The Soul Survivors - Expressway To Your Heart. https://www.youtube.com/watch?v=K8M-J9_uQhU

Aktueller Trend

In ganz Deutschland werden jetzt präventiv die eigenen Turnhallen niedergebrannt, um den Einzug von Flüchtlingen zu verhindern. Das ist zu loben, denn erstens dokumentiert es für die gesamte Weltöffentlichkeit die unfassbare Blödheit der germanischen Stämme. Zweitens fördert es das Baugewerbe und schafft Arbeitsplätze bei der Feuerwehr. Drittens hasse ich Sport, und viertens mag ich dicke Kinder.
„Fett ist Anarchie“ hat der jüngst verstorbene Peter Kern einmal gesagt.
Deee-lite – What is love? https://www.youtube.com/watch?v=euUeCuwnZeU

Freitag, 28. August 2015

Love, Peace and Kinderschminken

„Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. (…) Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. (…)Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden‘ - sagen die letzten Menschen.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra)
Berlin lässt einen ja nicht los, wenn man über zwanzig Jahre dort gelebt hat. Es heißt, man hätte noch einen Koffer in Berlin. Eines Morgens wache ich auf, reibe meine kunterbunten Kulleraugen – und sehe, dass der Koffer mir gefolgt ist.
Ob Prenzlauer Berg oder Kreuzberg – du bist in Reiki Town. Lauwarmer Tee aus Rindenmulch und Hirsekekse. Sitar-Kurse für Dreijährige. Qi Gong gegen Blasenschwäche. Vollwerthüpfburgen. Peruanischer Neumondsalbei gegen Legasthenie. Bei schweren Fällen von Montagsallergie hilft gequirlter Guavengrind. Und wenn man teure Zuckerkügelchen Globuli nennt, helfen sie gegen alles. Wer seine Kinder impfen lässt, wählt auch FDP. Dein Herzchakra ist die Brieftasche, dein Hirnchakra ist der Aluminiumhut. Der ganze Esoterikwahnsinn lag hinter mir. Dachte ich.
Jetzt ist er wieder da. In meiner alten Heimatstadt, in der ich das Licht der Welt erblickt und, weil’s so schön war, auch gleich noch die nächsten 23 Jahre verbracht habe. Ingelheim hat einen Ort, der einem Hinterhof in SO 36 würdig wäre: das Seminarhaus Corina Ramona. „Cora bedeutet Herz, Ramona heißt ‚Die Beschützerin‘. Aus diesem Samen ist die Idee zum Seminarhaus entsprungen, die sich in Liebe entfalten darf. Jeder Besucher dieses Ortes wird Teil dieser Herzensenergie.“ Das kann man sich nicht ausdenken, sondern nur zitieren.
http://coramona.de/seminarhaus-corina-ramona/
Frau Ratzel, die Gründerin, beschreibt sich selbst so: „Schon seit ich klein bin, setzte ich mich für Menschen, Tiere und Umwelt ein.“ Was für ein Zufall, genau wie ich! Mit ein wenig Phantasie kann man sich die Kindheit dieser Frau zwischen Rhabarberlutscher und Vorschulyoga, selbstgebackenen Energiebällchen und gewaltfreiem Topfstreicheln vorstellen. „Auch wollte ich nicht ‚arbeiten‘ sondern ‚LEBEN‘. So bin ich schon immer meinem Herzen gefolgt was in dieser Gesellschaft nicht gerade immer einfach war bzw ist.“ Doch, liebe Frau Ratzel, das ist einfach, zumindest wenn man Metzger oder Immobilienmakler werden möchte. Und für die Esoterikfraktion ist es in den ausgedehnten Siedlungsgebieten des linksliberalen Bildungsbürgertums wie beispielsweise dem Rhein-Main-Gebiet sogar kinderleicht.
Sie hat eine Ausbildung als Sportlehrerin absolviert und als Fitnesstrainerin für diverse Etablissements der Ertüchtigungsbranche gearbeitet. Es folgte eine dreijährige Ausbildung in einer Clownschule. Jetzt darf sie sich – und das ist kein Witz, denn wir sind in Deutschland, wo alles seine Ordnung haben muss – „Diplom-Clown“ nennen. Und in ihrem eigenen Seminarhaus kann sie sich fürderhin dem modernen Dreikampf widmen: Selbstverwirklichung, veganes Kochen und Kinderschminken.
Sechs Menschen arbeiten im neuen Seminarhaus, das am 16. August eingeweiht wurde. Darunter auch Thomas. „Thomas war der erste Mensch, der mein Sein erkannte und mir erklären konnte, ‚was denn mit mir ist.‘ Er beschreibt es als: ‚Sie verfügt über ein aussergewönliches Zellen System und Wachtum das wahrscheinlich einzig artig ist. Sie bringt in jedem der sich ihr öffnet, sein eingenes Potentzial zum forschein‘.“ Und offenbar verfügt Thomas über eine ganz eigene Rechtschreibung, die sich von den gesellschaftlichen Zwängen der Verständigung längst gelöst hat.
Dem Päderastenkatholizismus, dem Burnoutprotestantismus und dem Kalaschnikowislam erwächst hier eine neue Konkurrenz. Mögen diesem Tempel der Liebe und des Friedens ein ewiges Leben und ebenso lange Fördermittel beschieden sein. Amen, äh: Ommmm …
The 5th Dimension - Stoned Soul Picnic. https://www.youtube.com/watch?v=a7L65em0d88

Donnerstag, 27. August 2015

Geld verdienen leicht gemacht

„Denn halbe Sachen waren nie deutsche Sachen ("totaler Krieg", "Vollkornbrot"); wegen ihrer Gründlichkeit werden die Deutschen in aller Welt ein wenig bewundert und noch mehr gefürchtet.“ (Deniz Yücel)
Wie scheffeln die Konzerne eigentlich ihre märchenhaften Milliardengewinne? Nehmen wir die Atomkraftwerke als Beispiel. Der Steuerzahler hat sie den Energieunternehmen kostenlos und schlüsselfertig hingestellt. RWE und Konsorten verkaufen uns den Strom, den die Meiler erzeugen, und werden reich. Anschließend stellen sie uns den Schrott vor die Haustür und wir müssen für die Entsorgung bezahlen. Das ist so, als ob Sie mir eine Waschmaschine schenken, dann wie in einem Waschsalon fürs Waschen in meinem Keller bezahlen, um am Ende das kaputte Gerät wieder abholen zu dürfen. Wie geht das? Man muss nur achtzig Millionen Vollidioten finden. Haben Sie da eine Idee?
Yazoo - Only You. https://www.youtube.com/watch?v=SdvZa46xb3M

Nr. 1000

„Meine Poesie wird aus einem einzigen Angriff bestehen, geführt mit allen Mitteln gegen den Menschen, diese reißende Bestie, wie auch gegen den Schöpfer, der solch ein Ungeziefer niemals hätte erschaffen dürfen. Bände auf Bände werden sich türmen bis ans Ende meines Lebens, und doch wird man darin immer nur diesen einzigen meinem Bewusstsein dauernd gegenwärtigen Gedanken finden.“ (Comte de Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror)
Das ist der tausendste Text in diesem Blog. Aus diesem Anlass veranstalte ich eine opulente Lotterie. Schicken Sie bitte Ihre Einsendungen zum Thema „Was Andy Bonetti der Welt zu sagen hat“ an folgende Adresse: ebi41@gmx.net. Gewinnen Sie wertvolle Preise!
1. Preis: Ein Mittagessen mit Andy Bonetti im Restaurant „Dschingis Khan“ in Bad Nauheim (großes Buffet + ein Getränk Ihrer Wahl)
2. Preis: Ein Exemplar von Bonettis neuen Dokudrama „Der Untergang der hessischen Brieföffnerindustrie“
3. Preis: Die Hosenträger, die Bonetti beim Besuch des Dalai Lama getragen hat
„Und wenn ich um die Wohnungen der Menschen streife, in den stürmischen Nächten, mit heißen Augen, mit vom Sturmwind gepeitschten Haaren, allein wie ein Stein inmitten des Weges, dann bedecke ich mein gebrandmarktes Gesicht mit einem Stück Sammet, schwarz wie der Ruß, der das Innere der Schornsteine bedeckt: es ist nicht nötig, das die Augen die Hässlichkeit schauen, die der Erhabene mir mit einem hasserfüllten Lächeln auferlegt hat.“ (Comte de Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror)
The Sisters of Mercy – Marian. https://www.youtube.com/watch?v=yVPx4zalkiM

Mittwoch, 26. August 2015

Das schwarze Notizbuch 4

Was bisher geschah:
Ein uns völlig unbekannter und scheinbar ahnungsloser Vertreter für chinesische Badezimmerarmaturen flüchtet vor dem amerikanischen Geheimdienst NBA, der irischen Mafia und einem bretonischen Auftragsmörder mit wellenförmig geflochtenen Cornrows. Er ist im Besitz eines äußerst geheimnisvollen Notizbuchs, das möglicherweise von unschätzbarem Wert ist, und sitzt in einem Zug mit unbekanntem Zielort. Es ist Mittwoch, die Temperatur beträgt etwa 7 Grad Celsius. Wir schreiben das Jahr 2015 post Christum natum.

Die Sonne ist längst untergegangen. In der Ferne sehe ich einige Lichter. Es sind nur wenige Menschen im Zug. Es ist still. Nur das monotone Geräusch des Zugs.
Aus dem Notizbuch werde ich nicht schlau. Auf der ersten Seite wird ein Finderlohn von 11.111 € offeriert. Das ist gut. Ich muss nur in eine Bar in Schwedt gehen und dort einen gewissen Carfriday Mousewindle treffen. Die anderen Seiten sind mit bunten Mandalas gefüllt. Ein Code? Oder ist das Ganze eine Falle?
Zufällig fährt dieser Zug nach Schwedt an der Oder. Zufall? Nach allem, was passiert ist? Ich glaube nicht an einen Zufall. Aber ich weiß, dass ich in diesem Zug sitze. Vielleicht schaue ich mir die Bar mal an. Ich muss ja nicht gleich mit dem Notizbuch herumwedeln und nach einem Carfriday Mousewindle fragen.
Am Bahnhof steigen nur zwei Menschen aus: Ich und Giovanni Bartolotti.
Sein magerer Hals ragt faltig aus einem schwarzen Hemdkragen. Wir sehen uns nur kurz in die Augen. Sein Blick ist so seelenlos wie das Lächeln eines Immobilienmaklers. Bartolotti, der uneheliche Sohn eines venezianischen Spiegelmachers, hat mit fünfzehn seinen ersten Mord begangen.
Ich gehe die düstere Bahnhofstraße hinunter und biege nach links ab, in Richtung Fluss. Es sind nur wenige Menschen auf der Straße. Bartolotti arbeitet gerne mit dem Messer. Ich muss ihn auf Distanz halten.
Dann stehe ich vor der Bar. „Hammer und Sichel“. Typisch Osten. Leben in der Vergangenheit. Und die Adresse ist ebenso merkwürdig: Kietz 99. Ich gehe hinein. Welche Wahl habe ich? Die Bar oder Bartolotti.
Der Barkeeper hat einen Rauschebart und trägt eine grüne Uniform wie Fidel Castro. Am Ende der Theke sitzen zwei Frauen, an den Tischen hocken ein paar Kerle mit Lederjacken und Nietenhalsbändern. Ich habe kein gutes Gefühl.
Bartolotti betritt die Bar und setzt sich auf den Platz an der Theke, der dem Eingang am nächsten ist.
Der Barkeeper sieht mich fragend an. Also bestelle ich einen Cuba Libre. Damit macht man in einer Bar mit diesen Namen sicher nichts falsch.
Als er das Glas vor mir auf den Tresen stellt, frage ich ihn nach Carfriday Mousewindle.
„Kenn ich nicht. Wer will das wissen?“
„Das kleine schwarze Notizbuch.“
Er grinst und winkt mich nach hinten durch.
In einem Hinterzimmer wartet eine junge Frau und lächelt mich an. Der Barkeeper schließt die Tür. Sieht alles normal aus. Ein langer Tisch. Stühle. Vermutlich der Raum für Familienfeiern.
Die junge Frau geht zu einem Schrank und öffnet beide Türen. Ein Fahrstuhl. Sie lockt mich mit ihrem Zeigefinger heran. Erst jetzt sehe ich, dass ihre schrägen Katzenaugen gelb sind. Ich steige ein. Sie lächelt und für einen kurzen Augenblick sehe ich ihre gespaltene Schlangenzunge. Dann schließt sich der Fahrstuhl und ich fahre allein nach unten.
Die Tür öffnet sich automatisch. Vor mir ist ein langer Gang, der nur spärlich beleuchtet ist. Ich gehe einfach weiter. Jetzt ist ohnehin alles zu spät.
Der Raum, den ich betrete, ist prachtvoll verziert und riesig. Die Möbel können sich nicht entscheiden, ob sie noch Sofas oder schon Betten sind. Aber das merkwürdigste sind die Frauen. Sie sind flammend rot, haben Vampirzähne und lange dünne Schwänze.
Eine Frau steht auf und kommt auf mich zu. Sie legt die Arme um meinen Hals und sieht mir tief in die Augen. Ich weiß gar nicht, ob ich geil oder ängstlich werden soll.
„Wohin willst du, Süßer?“
„Ich habe hier was für Carfriday Mousewindle.“
„Komm mit.“
Sie nimmt mich an der Hand und führt mich durch einen langen gewundenen Gang in einen anderen Raum.
Er ist schwarz und wird nur von einigen Fackeln erleuchtet. Auf einem Sessel sitzt ein schneeweißer dicker Glatzkopf, flankiert von zwei breitschultrigen Monstern.
„Sind Sie Mister Mousewindle?“
„Ich bin sein Assistent. Du hast das Buch?“
„Ja. Bekomme ich von Ihnen den Finderlohn.“
„Natürlich.“ Der dicke Mann lacht.
Er lacht sehr lange.
Ich gebe ihm das Notizbuch.
„Bringt ihn in die Kammer“, sagt er zu seinen Bodyguards.
Sie packen mich links und rechts.
„Schau in seine Augen“, raunt mir die Vampirlady zu und lächelt mich an. Mit einem Zischen schießt ihre lange gespaltene Zunge heraus. Dann verlässt sie den Raum.
Ich werde in ein kleines Zimmer gebracht. Die Tür wird abgeschlossen. Zwei Sessel und ein kleines Rauchtischchen stehen in der Mitte des Raums. An der Wand hängt ein Lenin-Porträt.
Soll ich hier auf das Geld warten? Kommt Mister Mousewindle zu mir? Warum soll ich in seine Augen schauen? Ich sitze lange herum. Ich sehe mir das Bild an. Und endlich verstehe ich.
Ich folge Lenins Blick. Auf der gegenüberliegenden Wand ist ein roter Stern. Ich drehe ihn nach links und eine Tür öffnet sich.
Durch einen Gang krieche ich ins Freie. Ich bin auf einer Waldlichtung.
Wo bin ich? Ist das schon Polen? Ob die Leute hier Wasserhähne brauchen?
P.S.: Das Drehbuch zu dieser Geschichte ist bereits an die georgische Admiral-Gulashwili-Filmgesellschaft verkauft worden. Arbeitstitel: „From Dusk Till Schwedt.“
P.P.S.: Woher kennt Barley Malt seine Verfolger eigentlich so genau? Er hat sie alle bei einer Betriebsfeier seiner Firma getroffen. Ein kolumbianischer Themenabend. Ich erspare Ihnen die Details.
P.P.P.S.: Als Poeta doctus darf ich hoffentlich voraussetzen, dass nicht nur die vielen Logikfehler der Erzählung als Teil meiner Parodie erkannt wurden, sondern auch die tiefere Bedeutung des Namens „Barley Malt“.
Paul Van Dyk - Nothing But You. https://www.youtube.com/watch?v=y5nLpa6hGi8

Dienstag, 25. August 2015

Das schwarze Notizbuch 3

Tiergarten. Menschen, Tiere, Sensationen. Mich interessiert nur Jacques Fouquet, den ich irgendwie loswerden muss. Fouquet ist das bretonische Wort für Eichhörnchen und er sieht auch so aus: klein, unruhiger Blick, die Schneidezähne scheinen auf seiner Unterlippe festgeklebt. Und er ist wieselflink. Nicht so bescheuert wie die Iren, sondern hartnäckig. Und kaum zu sehen. Ich laufe quer über eine Wiese und drehe mich regelmäßig um. Nichts. Aber ich weiß, dass er hinter mir ist. Ich habe ihn auf dem Bahnsteig der U 3 gesehen. Diese widerliche kleine Klette.
Ich komme am Kanzleramt und am Reichstag vorbei. Hier gibt es so viele Polizisten in Uniform und Zivil, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Ich überquere die Spree und gehe in die gläserne Maschinenhalle des Hauptbahnhofs. Eine unwirkliche Geräuschkulisse. Ich sehe Fouquet, wie er die Brücke überquert. An solchen Stellen kann er sich nicht verstecken. Es gibt keinen anderen Weg zu mir. Alternativlos, denke ich und muss grinsen, als ich zum Kanzleramt hinüberschaue.
Auf der Rolltreppe werfe ich einen kurzen Blick auf die Anzeigentafel. Also gut, Monsieur Fouquet. Begeben wir uns zunächst an Gleis 12. Ein Regionalexpress ins Umland. Ich steige ein, laufe durch den ganzen Zug und setze mich in der Nähe der Tür. Er fährt erst in fünf Minuten. Aber ich habe nur noch zwei Minuten Zeit.
Ich renne los. Durch die Tür, die Treppe hinab. Ich renne auf der Rolltreppe, wo ich über diverse Koffer klettern und mich im Zickzack bewegen muss. Links heißt gehen, rechts heißt stehen. Die reisende Menschheit hat es vergessen. Das sieht man schon an den Wahlergebnissen.
Im Untergeschoss wartet der ICE. Noch dreißig Sekunden. Hoffentlich fährt er pünktlich ab. Ich springe hinein. Ich setze mich an einen Fensterplatz, schwer atmend.
Da! Fouquet kommt die Rolltreppe herabgesprungen.
Du bist zu spät, mein kleiner Freund. Die Türen sind geschlossen. Der Zug rollt an.
Aber er fährt nur bis zur nächsten Station. Endhaltestelle. Das macht nichts. Fouquet wird eine Weile brauchen, bis er am Bahnhof Gesundbrunnen ist. Ich steige die Treppen hinauf und stehe auf dem Vorplatz. Das Bahnhofsgebäude ist neu. Postmongolische Architektur.
Ich überlege. Zurück ins Hotel? Unmöglich. Raus aus der Stadt. Das ist das Beste. Und möglichst unauffällig.
Ohne nachzudenken, steige ich in den nächsten Zug. Es ist ein Regionalexpress. Ich setze mich in die obere Etage auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite, so dass man mich von dort nicht sehen kann.
Aber ich kann den Bahnsteig auch nicht sehen. Hat Fouquet einen Komplizen? Wer ist noch hinter mir her? Habe ich die anderen Teams wirklich abgehängt?
Hätte ich nur auf meine Eltern gehört, als sie mich davor gewarnt haben, Musikethnologie in Göttingen zu studieren. Dann müsste ich nicht diesen absurden und mies bezahlten Job machen. Chinesische Badezimmerarmaturen. Auf Provisionsbasis. Dann würde ich auch nicht in solchen Absteigen wie dem „Bonghole“ rumhängen. Und dann wäre ich auch nicht in dieser Scheiße gelandet.
Endlich fährt der Zug los. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Stunden sicher und hole das schwarze Notizbuch aus der Innentasche meines Mantels. Blödes Ding! War es den Stress überhaupt wert? Ich sehe mich ein letztes Mal um und schlage die erste Seite auf.
Lesen Sie morgen im vierten Teil:
Tödliches Duell im Tunnel.
Zweikampf am Rande eines unglaublich tiefen Abgrunds.
Die geheimnisvolle Lady mit den Schlangenaugen.
Was steht im schwarzen Notizbuch?
Wird es unser gut durchbluteter junger Held schaffen?
Wo endet das alles?
The Jesus and Mary Chain - Just Like Honey. https://www.youtube.com/watch?v=470HnRobKLc

Montag, 24. August 2015

Das schwarze Notizbuch 2

Auf dem Breitscheidplatz ist irgendein Volksfest. Buden und Kirmesmusik. Egal. Viele Menschen. Wichtig. Ich drängele mich durch die Massen der Schaulustigen in Richtung Europa-Center. Auf dem breiten Bürgersteig Richtung Wittenbergplatz kann ich endlich wieder Fahrt aufnehmen.
Ich drehe mich um. Nichts von den Amis zu sehen. Aber ich entdecke Lakeside Billy. Sicherheitshalber wechsle ich die Straßenseite. Mist. Das ist Roadside Joey. Das kann kein Zufall sein. Sie arbeiten beide für Big Bird Schmockinsky von der irischen Mafia, der seinen fetten Arsch noch nie aus dem düsteren Hinterzimmer des „Hole in the Wall“, einem altehrwürdigen Dubliner Pub in der Blackhorse Avenue, bewegt hat.
Ich gehe ins KaDeWe. Vor dem Eingang in Berlins bedeutendsten Konsumtempel vereinigen sich die beiden rothaarigen Kleiderschränke mit ihren identischen Tweed-Sakkos. Erst mal zu den Fahrstühlen. Es warten schon eine Menge Leute. Endlich öffnen sich die Türen. Lakeside Billy steigt mit ein. Die alte Masche: einer verfolgt mich, einer überwacht die Ausgänge.
Ich sehe Billy nicht an. Er sieht mich nicht an. Ich fahre bis in die oberste Etage und steige nicht aus. Wir fahren wieder abwärts. Im zweiten Stock steige ich aus und fahre wenig später mit einem anderen Fahrstuhl weiter. So geht es eine Weile, bis wir für einen Augenblick allein sind. Lakeside Billy und ich.
„Ich weiß, dass du es hast“, sagt er mit rauer Stimme. Seine fleischigen Ohren stehen im rechten Winkel von seinem Schädel ab und seine riesigen falschen Zähne glänzen wie Porzellan.
„Du weißt einen Scheiß. Ich hab gar nichts“, lüge ich tapfer und hoffe, dass in der nächsten Etage jemand zusteigt.
„Das kannst du deinem Urologen erzählen“, sagt er grinsend und seine behaarte Pranke greift nach mir.
Die Tür geht auf und ein Schwall Chinesen drängelt sich in den Fahrstuhl und drängt den verdutzten Billy an die Rückwand. Ich schlüpfe an der Seite hinaus und winke ihm noch zu, als sich die Tür schließt.
Ich gehe zu den Rolltreppen und fahre ein Stockwerk höher. An den Seiten sind lange Spiegel angebracht. Wenn Sie mich fragen: Um der Eitelkeit der Kundschaft zu schmeicheln. Ich sehe mich an und setze ein ganz entspanntes Ich-könnte-mal- wieder-ein-Buch-kaufen-Gesicht auf. Mit diesem Gesicht schlendere ich in angemessenem Tempo zu den Rolltreppen im hinteren Teil des Stockwerks und fahre zur Damenabteilung im ersten Stock hinunter.
In der Nähe der Umkleidekabine sehe ich nur eine ältere Dame in einem lavendelfarbenen Kostüm, Typ Zahnarztwitwe. Ich schaue mir einige Blusen an, bis sie verschwunden ist. Dann nehme ich irgendeine Bluse und gehe in eine Umkleidekabine. Um diese Uhrzeit ist im KaDeWe nie etwas los, höchstens in der Feinschmeckeretage, die permanent große Mengen von Touristen anzieht.
Ich warte eine halbe Stunde, dann gehe ich hinaus. Eine Frau um die Vierzig sieht mich erst erschrocken und eine Sekunde später streng an. Ich antworte mit einem anzüglichen Grinsen. Ich bin ein Transvestit und kaufe hier ein. Es funktioniert. Der Hauch eines verständnisvollen Lächelns. Die Geschichte wird sie später ihren Freundinnen erzählen, aber nicht ihrem Mann.
Die Bluse hänge ich zurück und gehe ins Treppenhaus. Wer benutzt schon das alte Treppenhaus, wenn es nicht brennt? Es führt zur Tiefgarage und zur Passauer Straße. Ich sehe mich kurz um. Kein Lakeside Billy und kein Roadside Joey zu sehen. Ich bewege mich von der belebten Tauentzienstraße weg, am russischen Supermarkt vorbei, zur Augsburger Straße.
Dort steige ich die Treppenstufen zur U 3 hinab. In der U-Bahn sitzen viele junge Leute, die zur Uni fahren. In Dahlem-Dorf und am Thielplatz steigen sie aus. Ich fahre bis Onkel Toms Hütte weiter. Es sind nur noch wenige Menschen in der Bahn.
Auf dem Bahnsteig wende ich einen alten Trick an, den ich aus einem Kriminalroman kenne. Ich setze mich auf eine Bank auf der gegenüberliegenden Seite, um herauszubekommen, ob mir noch jemand folgt. Ich warte in aller Ruhe, bis sich der Bahnsteig leert. Eine U-Bahn Richtung Innenstadt fährt ein. Menschen steigen aus, Menschen steigen ein. Die Bahn fährt ab. Ich warte noch eine Bahn ab und steige wieder nicht ein. Jetzt ist es nur noch ein einzelner Mann, der etwa fünfzig Meter von mir entfernt auf die Gleise starrt. Ich beobachte ihn nur aus den Augenwinkeln.
Es ist keiner der beiden Iren. Als ich in die nächste Bahn steige, tut er das gleiche. Spielen wir das Spiel, mein Freund.
Roxy Music - More Than This. https://www.youtube.com/watch?v=MEKXBZWk6B8

Sonntag, 23. August 2015

Das schwarze Notizbuch 1

Ich lehne meine Stirn an das kalte Glas der Fensterscheibe und sehe hinaus. Ein Hinterhof in Moabit. Die Wände der Häuser sind so alt, dass sie die Farbe der Erde angenommen haben. Es ist nichts zu hören. Das ist gut, denn ich bin müde.
Mein Name ist Barley Malt und ich verkaufe chinesische Badezimmerarmaturen. Den ganzen Tag habe ich den schweren Koffer mit den Muster-Wasserhähnen aus Shanghai durch die Stadt geschleppt, habe Bürohäuser und Hotels abgeklappert, und bin abends todmüde im Zimmer meines schäbigen eineinhalb-Sterne-Hostels angekommen, das in einem düsteren Hinterhof der Bochumer Straße liegt. In einer Halterung unter der Zimmerdecke kauert die TV-Briefmarke mit Röhrenbetrieb, wie ich sie als Reisender aus den amerikanischen Motels des vergangenen Jahrhunderts kenne.
Ich lege mich aufs Bett und erwache eine Stunde später hungrig und schweißgebadet. Neben dem Bett steht ein wackeliges Nachtschränkchen, in dessen einziger Schublade ich – statt dem üblichen Neuen Testament der Gideon-Brüder – die Flyer eines Pizzaservices vermute. Schließlich trägt das Hostel den Namen „Bonghole“ und ich kenne diese Art von Absteigen zur Genüge. Ich ziehe die Schublade heraus und habe das zerbrechliche Ding im nächsten Moment komplett in der Hand. Die Karte von „Peperoni Palace“ flattert auf den Fußboden. Etwas ratlos schaue ich die Schublade in meiner Hand an. An ihrem Boden ist ein Schlüssel mit einem Klebestreifen befestigt. Ich löse ihn ab. Es ist ein Schließfachschlüssel. Wie oft habe ich mein Gepäck in einem Schließfach gelassen? Aber zu welchem Bahnhof gehört er? Ich beschließe, am nächsten Morgen die Bahnhöfe der Stadt abzuklappern. Am Bahnhof Zoo werde ich anfangen.
***
Ich habe nicht gut geschlafen und das Frühstück war lausig. Was kann man beim Kaffeekochen alles falsch machen? Offenbar eine Menge. Ich mache meine Vormittagstour und schleife meinen Koffer durch etliche Hotels in Mitte und im Prenzlauer Berg. Hinterlasse Prospekte und Karten, nehme gelangweilte und genervte Blicke sowie eine Million dämliche Sprüche mit. Natürlich werde ich mich wieder melden, wenn 2030 die nächste Renovierung der Badezimmer ansteht. Es ist immer das gleiche. Nicht für sie, aber für mich. Ich stelle meinen Koffer im Hotelzimmer unter den Fernseher, der mich grau und stumm anglotzt. Das Schinkenbrötchen in meiner Manteltasche hat die Papiertüte schon an einer fettglänzenden Stelle durchweicht, als ich es hervorhole. Egal. Dazu ein Glas Leitungswasser aus dem Plastikbecher, den ich im Badezimmer aus seiner Folie pule.
Auf dem Bett finde ich keine Ruhe. Der Schlüssel. Komm, Alter, sage ich mir. Hat doch keinen Zweck, du musst los. Der Straßenlärm von Moabit geht mir einfach nur auf den Nerv. Das ist nicht multikulturell, das ist nicht witzig, das muss man aushalten können. In der U 9 ist gerade die Schule aus. Wieso müssen Kinder die ganze Zeit lachen und rumschreien? Können die nicht stumm in ihre Smartphones starren wie die Erwachsenen? Aber es sind nur zwei Stationen bis zum Bahnhof Zoo.
Im Gang mit den Schließfächern stinkt es nach Urin, Pennerschweiß und Hoffnungslosigkeit. Irgendwo in meiner Hosentasche zwischen dem Klimpergeld fühle ich den Schlüssel. Nummer 55. Gut. Bei meinem Glück muss ich sowieso gleich weiter zum Hauptbahnhof. Und dann stehe ich vor der 55 und muss mich noch nicht mal bücken.
Der Schlüssel passt. Ich öffne das Schließfach. Zuerst sehe ich nichts.
Auf dem Boden des Fachs liegt ein kleines, flaches, schwarzes Notizbuch. Das ist alles? Ich kann es gar nicht fassen. Wer legt denn ein Notizbuch in ein Schließfach und klebt anschließend den Schlüssel unter die Schublade eines Nachttischs im „Bonghole“? Ich nehme es heraus und betrachte es von allen Seiten.
„Sir, würden Sie uns bitte das Buch aushändigen“, höre ich eine Stimme hinter mir. Schwerer amerikanischer Akzent.
Ich drehe mich um. Zwei große Typen mit dunklen Sonnenbrillen und dunklen Anzügen stehen vor mir.
„Nein“, antworte ich spontan.
Den Kerlen wachsen kleine weiße Kabel aus den Ohren. Sie kommen auf mich zu.
Und ich renne los. Ich weiß gar nicht, warum ich es tue, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Es ist gut so. Ich renne.
An der Taxischlange vorbei, an den Bushaltestellen vorbei. Ich laufe instinktiv zu McDonald’s. Wie oft war ich schon in dieser Filiale am Bahnhof Zoo? Und es war immer das gleiche. Vielleicht deswegen. Sicherheit, die kleine Schwester von Routine und Langeweile.
Ich öffne die Tür. McDonald’s hat einen ganz eigenen Geruch. Aber es riecht nicht nach Essen. Vor mir sind die Schlangen der Kunden, die an der Kasse warten, bis pickelige Nachwuchskräfte das System begriffen haben.
In zwei langen Reihen stehen dort junge Menschen in identischen roten T-Shirts mit der Aufschrift „Praktikum 2015“. Ich stürze mich todesmutig in die Masse und reiße eine zweihundertfünfzig Pfund schwere Blondine mit dicken Zöpfen zu Boden. Tatsächlich fallen die beiden sagenhaft dämlichen Typen über die Frau.
Ich entwische durch den Hinterausgang und schlängele sich elegant durch die Menschenmengen auf der Tauentzienstraße. Zum Glück bin ich nicht groß - und ich habe ein Gesicht zum Vergessen.
Gregorian Scarborough Fair. https://www.youtube.com/watch?v=JvbQE5tygXk

Samstag, 22. August 2015

Seien wir ehrlich

„Plaudite cives, plaudite amici, finita est comoedia.”
„Applaudiert Bürger, applaudiert Freunde, die Komödie ist zu Ende!“
Machen wir uns nichts vor: Wir haben die Bilder geschaffen, die Menschen aus aller Welt in dieses Land locken. Wir haben die Medien erfunden, die diese Bilder und Verlockungen in alle Welt ausstrahlen. Wir haben die Transportmittel erfunden, mit denen die Menschen in dieses Land kommen können. Wir haben mit unseren Kriegen und unserer Raffgier die Heimat dieser Menschen zerstört.
Seien wir für einen Augenblick ehrlich: Wir haben die gleißende Vision erschaffen, hier sei ein Ort des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands. Wir haben auf dem Jahrmarkt dieser Welt einen der schönsten Stände aufgebaut, ein goldenes Zelt mit strahlenden Lichterketten. Und es ruft dem Besucher zu: Tritt näher, komm herein!
Und Millionen verfallen den Sirenenklängen. Sie sehen die Bilder, sie hören unsere selbstverliebte Werbung: Deutschland ist schön! Wer möchte nicht in diesem herrlichen Land leben? Bei den reichen Bayern und Schwaben, bei den hippen Kölnern und Berlinern? Geld? In Frankfurt schießt es in hohen Fontänen aus den Fördertürmen des Kapitalismus. Unsere Supermärkte platzen vor Köstlichkeiten, unsere Shopping Malls quellen über vor Klamotten und Elektronik. Was brauchst du? Einfach ein kleines Bild im Internet anklicken und es kommt an deine Haustür.
Wir haben ein Schlaraffenland geschaffen. Und jetzt kommen die Menschen in dieses gelobte Land. Wären wir tatsächlich ehrlich gewesen, hätten wir die Menschen in aller Welt rechtzeitig gewarnt. Wohlstand gibt es nicht für jeden. Wer in dieses Land kommt, darf für das Herrenvolk putzen und kochen. Und für seine Arbeit wird man nur mit dem Lebensnotwendigsten entlohnt.
Wir hätten zugeben müssen, dass unsere Demokratie nur Fassade ist, ein Trugbild, hinter dem sich die alten Herrschaftsverhältnisse verbergen. Wir hätten sie vor den Rassisten und Mördern warnen müssen, die überall auf sie warten. Wenn wir ehrlich gewesen wären, hätten wir sie vor dem Neid warnen müssen, dem Hass, der Selbstgerechtigkeit, dem Egoismus, der Missgunst, dem Hedonismus, der Leere, der Angst, der Verzweiflung, die in dieser grellbunten Zirkusbude lauern.
Seien wir ehrlich. Sie sind betrogen worden. Wir sind betrogen worden. Sie wollen so wie wir leben. Wir wollen nicht so wie sie leben. Jetzt treffen wir uns. Ihnen ist ihre Armut peinlich. Uns ist unser Reichtum peinlich. Eine unangenehme Situation. Hoffentlich gibt es in den Medien bald ein neues Thema. Denn Ehrlichkeit ist nicht gerade unsere Stärke.
Joy Division – Atmosphere. https://www.youtube.com/watch?v=1EdUjlawLJM

Freitag, 21. August 2015

Die zehn goldenen Regeln des Glücks

„Wer glaubt, es gäbe universelle Antworten auf individuelle Fragen, sollte sich in der nächsten Bahnhofsbuchhandlung mit den üblichen Sammlungen von Gemeinplätzen eindecken.“ (Lupo Laminetti)
„Wenn ich eins hasse, dann sind es Listicles.“ (Johnny Malta)
1. Mach keine Pläne. Woher weißt du, worauf du in zwei Stunden Lust hast?
2. Sei freundlich zu netten Leuten, sei unfreundlich zum Rest.
3. Es sollten immer genug Süßigkeiten in deiner Nähe sein.
4. Trinke Alkohol nur in Gesellschaft.
5. Sorge regelmäßig für ausreichend Gesellschaft.
6. Medien sind kein Ersatz für Gesellschaft – die „sozialen“ schon mal gar nicht.
7. Löse dich von der Welt der Zahlen (Frauenquote, Body-Mass-Index, Rentenalter, Kontostand, Richtgeschwindigkeit, Datum, Uhrzeit usw.).
8. Stell keine überflüssigen Fragen, dann bekommst du auch keine unnötigen Antworten.
9. Gib keine unnötigen Antworten auf überflüssige Fragen.
10. Raum für eigene Eintragungen:
Sie sind neugierig geworden? Sie möchten mehr wissen? Kaufen Sie „Die zehn goldenen Regeln des Glücks“ von Andy Bonetti! Jetzt mit fünf Bonus-Regeln. Neu! In Ihrer Bahnhofsbuchhandlung. Oder im Bonetti Superstore in Bad Nauheim.
Serdar Somuncu – Nightwash-Auftritt. https://www.youtube.com/watch?v=AZI75PufN7E

Donnerstag, 20. August 2015

Kapitalismus ist doof

„Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“ (Ingmar Bergman)
Kapitalismuskritik ist die neue Trend-Belanglosigkeit. Dazu möchte ich Ihnen heute eine Diskussionshilfe für den nächsten Mädelsabend im Sushi-Restaurant oder die nächste Tresenrunde mit den Jungs geben.
Nach Elisabeth Kübler-Ross gibt es fünf Phasen im Umgang mit dem Kapitalismus: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz.
„Ich werde nicht ausgebeutet. Markwirtschaft gibt es seit zehntausend Jahren. Anderen geht es noch schlechter.“
„Warum werden eigentlich immer die Unfähigsten befördert? Ich könnte den ganzen Saftladen in die Luft sprengen.“
„Wenn ich mit dem Chef rede, könnte ich freitags früher gehen. Und die Reisekostenabrechnungen soll der Neue machen.“
„Mein ganzes Leben habe ich in diesem verschissenen Büro verbracht. Wozu lebe ich überhaupt?“
„Wenn ich mir die Jugend anschaue, kann ich froh sein, dass ich in zehn Jahren in Rente gehe. Und ich kriege wenigstens noch was, bevor die Rentenkasse den Bach runter geht.“
Okay, Kübler-Ross ist Sterbeforscherin und hat sich mit dem Tod beschäftigt. Aber wo ist da der Unterschied?
Was können wir gegen den Turbokapitalismus machen? Nichts. Gar nichts. Und das meine ich jetzt gar nicht zynisch. Komplett aussteigen. Dauerstreik. Nicht mehr am System teilnehmen. Keine "Erwerbstätigkeit", keine Steuern zahlen (bis auf die unvermeidliche Sektsteuer, Branntweinsteuer usw.). Wählen sowieso nicht.

Aber den Mut zur Untätigkeit bringen wir nicht auf. Wir sind es gar nicht gewohnt, nichts zu tun. Gerade Deutsche sind hoffnungslose Fälle, wenn es um die einzige Strategie geht, mit der man den Leistungswahn und die Gewinnsucht, den Ehrgeiz und die Gier besiegen kann. Bei sich selbst schon mal gar nicht. Wie dann bei anderen? Stattdessen stellen wir uns jeden Abend, wie besoffen von unserem grenzen- und gnadenlosen Narzissmus, die Frage, warum ausgerechnet wir nicht reich und berühmt geworden sind.
Hatten Sie ein angenehmes Gespräch über das Thema Kapitalismus? Wie war das Sushi? Hat das Bier geschmeckt? Morgen gehen Sie wieder ins Büro, oder? Sehen Sie. Kapitalismuskritik ist die neue Trend-Belanglosigkeit.
P.S.: Vergessen Sie catcontent. Der neue Trend: loricontent.
https://www.youtube.com/watch?v=18-xvIjH8T4
Nächste Woche: wombatcontent.
Comeback Kid - Because Of All. https://www.youtube.com/watch?v=mMysbcuZnUs

Wir unterbrechen das Programm für eine kurze Verbraucherinformation

Neu! „Ich bin Selfie – zur Ikonographie des zeitgenössischen Selbstporträts“ von Andy Bonetti. Die ersten hundert Käufer erhalten einen Selfie-Stick mit Swarovski-Schmucksteinen.
Lesen Sie auch:
http://www.berliner-kurier.de/panorama/fast-im-atlantik-ertrunken-dramatisches-video--selfie-stick-rettet-16-jaehriger-das-leben-,7169224,31191890.html
Mit einem spitzen Stock hätte das nicht geklappt. Ich finde auch gut, dass Begriffe wie Elitesoldat, Surfside Beach, Lebensgefahr und Rettung in dem Bericht vorkommen.

Deutschsprachige Songs

Die Nummer funktioniert immer. Gemähte Wiese. Geschnittenes Brot. Haken dran. Läuft. Nehmen Sie einen Ausländer und lassen Sie ihn grässliche deutsche Schlager singen. Das ging in den Sechzigern los. Chris Howland. Wencke Myhre. Mireille Mathieu. In den Siebzigern Costa Cordalis. Bata Illic. Roberto Blanco. Heute Xavier Naidoo. Helene Fischer. Andreas Bourani. Botschaft: Deutsch ist so toll. Und deutsche Lieder singen macht ganz doll viel Spaß. Und wir sind so weltoffen. Echt jetzt! Kommen Sie, staunen Sie. Wir vergasen niemanden mehr. Versprochen! Ich bin schon auf den ersten syrischen Flüchtling gespannt, der in Lederhosen oder Dirndl bajuwarisches Liedgut zum Besten gibt.
Matt Bianco - Yeh Yeh. https://www.youtube.com/watch?v=gVYR1Iw4JU8

Mittwoch, 19. August 2015

Da lacht der Finne

Kalauer der Völker, Teil 33: Nordskandinavien.
Okay, here we go:
Schuheinlagen der Lappenbank – Achtung! – rentieren sich nicht.
Ein echter Burner.
Mega-Brüller.
Ich weiß.
Kann selbst kaum das Wasser halten vor Lachen.
P.S.: Politisch korrekt heißt es inzwischen übrigens nicht mehr Lappenbank, sondern Samenbank. Und wer jetzt lacht, ist ein Rassist.

MAD

Mein erstes publizistisches Highlight außerhalb der Schülerzeitung war die Veröffentlichung eines Leserbriefs von mir in MAD. Im Heft Nr. 165 (1982) finden Sie auf Seite 3 unter der Rubrik „Fragen Sie Alfred“ folgenden Text: „Lieber Alfred! Wie ich höre, sind die Störche vom Aussterben bedroht. Ist dadurch nicht der Nachwuchs der Menschheit gefährdet? Matthias Eberling, Ingelheim.“ Und jetzt halten Sie sich fest: „Alfred antwortet: Keine Angst. Störche sind zum Glück nicht die einzige Art von Vögeln, um Kinder zu kriegen.“ Hammer, oder? So lustig waren die frühen Achtziger. Vielleicht hat Herbert Feuerstein höchstpersönlich zur Feder gegriffen, um meine Mörderpointe noch zu toppen. The remains of the day, my friends …
Was finde ich noch in den alten Unterlagen? Ein Absagebrief der Titanic-Redaktion, der ich eine Satire geschickt hatte. Datum: 8.8.1984, also kurz vor meinem 18. Geburtstag. Auszug: „Wo du dreister wirst, wird’s auch gleich komischer (…) – und noch komischer würde es wahrscheinlich, wenn du als Form nicht gerade die satirische Erzählung bzw. Glosse wählen würdest – die ist doch schon ziemlich verbraucht und darf heute nur noch mit größer Vorsicht eingesetzt werden.“ Tja, lieber Jörg Metes, nach über dreißig Jahren schreibe ich immer noch solche Texte. Zum Glück gibt es das Internet.
Cream - Sunshine Of Your Love. https://www.youtube.com/watch?v=zt51rITH3EA

Dienstag, 18. August 2015

An der Informationsfront

„Der Präsident trifft Entscheidungen. Er ist der Entscheider. Der Pressesprecher gibt diese Entscheidungen bekannt, und Sie, die Presseleute, tippen diese Entscheidungen ein. Entscheiden, bekanntgeben, eintippen. Nur kurz durch die Rechtschreibprüfung und Feierabend. Wieder mehr Zeit mit der Familie verbringen. Mit Ihrer Frau ins Bett gehen. Den Roman schreiben, den Sie schon lange im Kopf haben. Den über den unerschrockenen Reporter aus Washington mit dem Mut, der Regierung entgegenzutreten – Fiktion eben!“ (Stephen Colbert)
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und am Ende des riesigen Raums flimmerte immer noch der Fernseher. Meine Suite im siebten Stock. Natürlich. Im Belvedere Plaza. Richtig. In Bashikistan. Scheiße.
Ich räumte die leere Flasche Jack Daniel’s vom Nachttisch und zog das altmodische Telefon heran.
„Hallo? Ja, Zimmer 729. Ich hätte gerne zwei Cheeseburger und eine Flasche Cola. Eiskalt, bitte.“
Als der Etagenkellner klopfte, war ich schon angezogen und geduscht.
Er stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster, nahm mit ergebener Miene mein Trinkgeld entgegen und verschwand geräuschlos.
Die Colaflasche stand in einem Eiskübel, aber auf den Burgern fehlten der Salat und die Tomatenscheibe. Offenbar wurde das Hotel nicht mehr mit frischem Gemüse versorgt. Ich fragte mich, wann ihnen die tiefgefrorenen Burger-Patties ausgehen würden.
Ich sah aus dem Fenster. Tief unter mir lag der Pool. Zwei Männer in schreiend bunten Hawaiihemden, mit riesigen schwarzen Sonnenbrillen im Gesicht, saßen im Schatten an der Bar. Das mussten Bill und John sein. BBC und CNN.
Nach dem Essen schnappte ich mir mein Notebook und meine Sonnenbrille und fuhr mit dem gläsernen Aufzug in die Lobby hinunter. Viel Security in khakifarbener Uniform, ein paar Nutten und nur wenige Gäste. Ich ging hinaus in die grelle Sonne und lief zum Pool hinüber.
„Schmidt. Du lebst noch?“
John grinste mich an und hob sein Cocktailglas. Ich heiße gar nicht Schmidt, aber die beiden angelsächsischen Korrespondenten hatten sich darauf geeinigt, mich so zu nennen. Offenbar war es gestern wieder spät geworden. Ich bestellte mir eine Caipiroska und setzte mich zu ihnen.
„Was gibt’s Neues?“
„Um drei Uhr bringt die Pressesprecherin des Präsidenten Material vorbei. Können wir alles nutzen. Wer Lust hat, darf mit ihr ein bisschen durch die Stadt fahren“, sagte Bill und sog geräuschvoll an seinem Gin Fizz.
Aus der Ferne hörte man das Knattern automatischer Waffen. Brandgeruch lag in der Luft.
Ich klappte mein Notebook auf. Ich gab „Bashikistan“ als Suchbegriff ein und klickte auf News. Alle schrieben das gleiche. Der Präsident habe die Lage unter Kontrolle. Die Rebellen hätten einige Vororte besetzt. Außerhalb der Hauptstadt sei die Lage unübersichtlich. Ich sah mir die einschlägigen Blogs der Einheimischen an, die auf Englisch posteten. Der „Bashinator“ schrieb von heftigen Kämpfen am Verteidigungsministerium in der Nacht. Außerdem sei ein Munitionslager in die Luft geflogen. Ich hatte wirklich einen gesunden Schlaf. Von all dem hatte ich in meiner Suite nichts mitbekommen. „Wardog“ schrieb, die Hafenstadt Kandiri sei fest in Hand der Rebellen und einige regierungstreue Truppen seien zu ihnen übergelaufen. Ich klickte weiter. „Seite konnte nicht gefunden werden“. Ich versuchte es woanders. Immer das gleiche Bild.
„Sie haben das Netz abgeschaltet“, sagte ich.
„Dann kommen wir langsam zum Showdown“, sagte John. „Wird Zeit, dass wir hier wegkommen“.
Die Pressesprecherin hatte für jeden von uns einen Stick mit dreißig Minuten Bildmaterial, das wir vom Hotelserver aus an unsere Sender schicken durften.
Dann fuhren wir in einem gepanzerten Fahrzeug vom Boulevard der Freiheit, an dem das Hotel stand, ins Stadtzentrum. Durch die gepanzerten Scheiben war zwar nichts zu hören, aber in den Seitenstraßen sahen wir brennende Autos und Barrikaden.
Alle fünfhundert Meter war ein Checkpoint mit jungen Soldaten, die ihre Gewehre lässig von der Schulter baumeln ließen und Zigaretten rauchten. Sie winkten uns durch, ohne uns zu kontrollieren.
Als wir wieder im Hotel waren, hatte ich noch eine Stunde und zwei Whisky Sour Zeit, um meinen Text zu schreiben. Vor der blauen Wand im Showroom, der sich im Erdgeschoss befand, sprach ich meine einsdreißig vom Teleprompter. In der Nachrichtensendung würde man einige bewegte Bilder vom Präsidentenpalast im Hintergrund zeigen, die wir schon vor Wochen aufgenommen hatten. Shuffle-Modus. Sieht immer live aus.
Wie es heißt, sinkt das Interesse an Bashikistan. Rapider Zuschauerschwund. Aber in der frangelischen Republik (ehemals: Königreich Frangelia) soll es Unruhen geben. Vermutlich werde ich bald dorthin müssen. Und an der Hotelbar werde ich John und Bill treffen.
The Chameleons – Looking Inwardly. https://www.youtube.com/watch?v=MOFBdaZmUlI

Müßiggang Magazin

Ich möchte Ihre kostbare Aufmerksamkeit, die so unteilbar ist wie das Weltganze, für einen kurzen Augenblick auf eine neue Publikation lenken, die sich thematisch, um nicht zu sagen: philosophisch, ganz in der Nähe meines Blogs befindet. Es scheint mir, als möchten diese hoffnungsvollen jungen Menschen mit großer Sorgfalt, Übersicht und Ruhe auf das Kernproblem unseres Zeitalters hinweisen: den Verlust des Müßiggangs, den Verlust einer wertvollen Fähigkeit, die jeder Eidechse angeboren scheint.
http://muessiggang-magazin.de/
Darf es zur Lektüre noch ein Tässchen frische Musik sein?
AnnenMayKantereit - 21, 22, 23. https://www.youtube.com/watch?v=35XR9H8bGqQ

Montag, 17. August 2015

Zur Flüchtlingssituation in Rheinhessen

"Hier ist es fast schon schwer, einen Flüchtling zu betreuen. Weil es so viele Leute gibt, die sich kümmern wollen. Ich habe mich vier Mal beworben, bis es geklappt hat."
http://www.heute.de/in-mainz-sind-fluechtlinge-willkommen-und-ehrenamtliche-stehen-schlange-39047952.html

Der Planer

„Aber ich bin ein Mensch von Erziehung, ich trage saubere Wäsche und einen heilen Anzug, und ich finde schlechterdings keine Lust darin, mit ungepflegten jungen Leuten an absinthklebrigen Tischen anarchistische Gespräche zu führen.“ (Thomas Mann: Der Bajazzo)
Draußen vor der Stadt liegt ein Hügel und auf diesem Hügel steht eine Behörde. Sie ist schon von weitem gut sichtbar, aber nur wenige Menschen haben diese Behörde je betreten. In dieser Behörde wird die Zeit geplant, genauer gesagt die zeitlichen Abläufe sämtlicher Behörden der Stadt, die Termine und Fristen aller Abteilungen der städtischen Verwaltung, die kunstvoll ineinandergreifen wie die Zahnräder einer großen Maschine.
Z. wohnt in einer kleinen Dachgeschosswohnung im Zentrum der Stadt, in der sich die Häuser aneinander drängen wie Schafe, und kann von seinem Fenster aus die Behörde sehen. Jeden Morgen steigt er in den Bus und fährt zur Behörde hinauf. Er ist Zeitplaner und dieser Beruf verschafft ihm tiefe Befriedigung. Es ist seine eigentliche Bestimmung, auf die Minute genau die behördlichen Abläufe zu organisieren. Wenn alles geordnet ist, dann ist Z. beruhigt. Wenn Vorgänge gestört, wenn Termine nicht eingehalten werden, ist er beunruhigt. Er ist ein feinfühliger Mensch, den Unordnung und Unpünktlichkeit geradezu krank machen können. An der Wand seines Büros hängen ein riesiger Jahreskalender und ein Organigramm der städtischen Verwaltung. Seine Uhr geht nie falsch.
Viermal im Jahr, jeweils im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, fährt Z. mit dem Zug in ein kleines Dorf in den Bergen. Er reist allein, so wie er auch allein lebt, was die persönliche Planung erheblich erleichtert. Jeweils eine Woche lang belegt er ein Einzelzimmer in der gleichen Pension. Er steht um sieben Uhr auf, frühstückt um acht und begibt sich um neun auf eine Wanderung. Dazu zieht er Wanderbekleidung und Wanderschuhe an, er nimmt seine Taschenuhr und seinen Kompass mit. Nach einem Marsch von zwei Stunden kommt er im Gasthof an, es ist jeden Tag der gleiche, und bestellt ein Glas Bier. Nachdem er das Bier getrunken hat, bestellt er das Mittagessen. Dazu trinkt er ein zweites Glas Bier. Dann geht er zurück in seine Pension, um sich etwas auszuruhen. Um sieben Uhr isst er zu Abend, um acht sieht er die Nachrichten im Fernsehen und um zehn löscht er das Licht.
Es ist ein sehr ruhiges Leben, das nie zu Ende geht. Z. ist ein zufriedener Mensch. Nur das Feuerwerk zum Jahreswechsel ärgert ihn ein wenig.
Signor Rossi Theme (Viva La Felicità). https://www.youtube.com/watch?v=7Z_XxNbCo44

Sonntag, 16. August 2015

Ken-geki

„Erzählen ist das einzige Spiel, das zu spielen sich lohnt.“ (Federico Fellini)
Sie waren keine Feinde. Er wusste noch nicht einmal, warum sie die Schwerter in dieser Winternacht mit in den Park genommen hatten. Reiner Übermut, eine romantische Spinnerei. Sie mochten beide die alten Kurosawa-Filme. Schwarz-weiß. Kämpfende Samurai. Es lag tiefer Schnee und sie waren ganz allein. Sie hatten einen Zweikampf begonnen. Nur ein Spiel. Er sah es an seinem Gesicht. Sie wollten die Schwerter nur ausprobieren. Die Posen der Kämpfer aus dem Film. Die Klingen kreuzten sich. Das Geräusch, wenn das Schwert durch die Luft fuhr. Er war ganz entspannt. Kein wirklicher Kampf. Aber dann hatte er ihn am Hals getroffen. Er sah das erschrockene Gesicht seines Kollegen noch vor sich. Takashi rannte weg und verschwand in der Dunkelheit. Unschlüssig blieb er stehen. Dann folgte er den Fußspuren. Den Blutspuren. Und dann fand er ihn. Er war tot. Das Schwert hatte ihn an der Halsschlagader getroffen. Er konnte ihm nicht mehr helfen. Also ging er in dieser Nacht davon.
Am nächsten Tag beschloss er, eine Reise zu machen. Er buchte im Internet ein Ticket nach Europa. Er rief seinen Chef an und bat um Urlaub. In der Firma wusste man schon Bescheid. Die Leiche war gefunden worden. Da sie immer als Wachmänner zusammen Dienst gehabt hatten, schlug sein Chef vor, er solle die Mutter aufsuchen und im Namen aller sein Beileid aussprechen. Er sagte zu und fuhr zu der Adresse, die man ihm am Telefon gesagt hatte. Es war ein furchtbares Gespräch. Die Mutter lebte alleine. Sie war wie betäubt. Konnte es noch gar nicht fassen. Er konnte ihr nicht sagen, was wirklich passiert war. Er war froh, als er wieder auf der Straße war.
Als er in seiner Wohnung seine Sachen packte, fand er die Rechnung. Er hatte die Schwerter gekauft. Eigentlich schuldete der tote Kollege ihm noch das Geld für die Waffe. Das Schwert! Er musste es loswerden. Zunächst reinigte er es gründlich. Dann packte er es mitsamt der Schwertscheide in eine Sporttasche und ging an den Fluss. Er war noch nicht zugefroren und so warf er es ins Wasser. Dann ging er in den Park. Die Kinder spielten im Schnee. Sie bewarfen sich mit Schneebällen. In einiger Entfernung stand ein großer Schneemann. Daneben ein kleiner Schneemann und zwei winzige Schneemännchen. Eine richtige Familie. Er formte einen Schneeball und warf ihn nach dem Schneemann. Tatsächlich traf er ihn. Da drehte sich der Schneemann um und kam auf ihn zu. Es war ein Mann, der einen langen weißen Kapuzenmantel trug. Er lachte und hob ebenfalls etwas Schnee auf. Aber als er das erschrockene Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen sah, die ihn voller Entsetzen anblickten, drehte er sich wieder um und ging zurück zu seiner Familie.
Nachdem die Familie verschwunden war, verließ er ebenfalls den Park. In seinem Stammlokal wollte er einen Tee trinken. Auf dem Weg begegnete ihm eine Gruppe junger Leute mit Stöcken, an deren Spitze lange Nägel befestigt waren. Sie spießten Abfall auf und warfen ihn in blaue Säcke. Umweltschützer, dachte er. Und dennoch erinnerten sie ihn an die schreckliche Nacht, in der er Takashi getötet hatte. Dann war er endlich im Restaurant. Am Tisch gegenüber saßen drei junge Frauen, die über die Speisekarte kicherten.
Europäerinnen oder Amerikanerinnen. Sie zeigten sich gegenseitig die Bilder auf der Speisekarte und lachten. Am Tisch neben ihm saß ein Mann, der offensichtlich ein Steak bestellt hatte. Ein scharfes Messer mit schwarzem Griff lag vor ihm auf dem Tisch. Er ließ seinen Tee stehen, stand auf und ging an die Theke. Die Wirtin war ganz erstaunt, dass er schon gehen wollte, ohne etwas zu essen. Er wollte bezahlen und hatte seine Brieftasche in der Hand. Du brauchst nicht zu bezahlen, sagte sie. Du gehst doch jede Nacht durch unser Viertel und bewachst es. Widerwillig steckte er sein Geld wieder ein.
Du bist doch morgen Abend mit meiner Kellnerin verabredet, fuhr sie fort. Er hatte es ganz vergessen, aber er nickte. Sag die Verabredung bitte ab. Er nickte wieder und ging aus dem Lokal. Er war erleichtert. Am Abend würde das Flugzeug ihn weit weg bringen. Dann wachte er auf.
Paul McCartney & Wings – Goodnight Tonight. https://www.youtube.com/watch?v=DRCgueckAXE

Samstag, 15. August 2015

Immer was los

Haben Sie am Montag schon was vor? In Dörrebach, bei uns um die Ecke, ist Kerb. Hier ein Auszug aus dem Programm:
„11: 00 Uhr: Öffnung der Stände und buntes Treiben
11:00 Uhr: Frühschoppen am Stand der Freiwilligen Feuerwehr
17:00 Uhr: Luftballonwettbewerb und Vergabe der Preise an die Gewinner des letzten Jahres
17:30 Uhr: Freifahrten auf dem Karussell für die Kinder“
All diese wundervollen Details des Landlebens finden Sie im Amtsblatt der Verbandsgemeinde Stromberg. Auch die folgende Kleinanzeige: „Beate D. hat die Biermarke gewechselt. Hierzu und zu ihrem 71. Geburtstag gratulieren Schwolles & Janine“. Alles ist leicht. Ganz entspannt.
Und im Nachbardorf Genheim ist gerade Weinfest. Morgen Abend gibt es eine Verlosung. Der Gewinner wird in Wein aufgewogen. Außerdem treten die „Genemer Tanzmädels“ und „Die Hunsrücker Spitzbuwe“ auf, um 18 Uhr bittet die Naheweinkönigin zum Empfang. Julia Klöckner, die CDU-Chefin von Rheinland-Pfalz und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2016 (in die ein Freund von mir heimlich unheimlich verknallt ist, obwohl er eigentlich immer SPD wählt – bin gespannt, wie er sich nächstes Jahr entscheidet), war ja auch mal Weinkönigin. Sie ist die Tochter eines Winzers aus Guldental, einem Weindorf, das nur wenige Kilometer von Schweppenhausen entfernt ist.
Hier ist die Welt so klein – man träumt davon, die große Welt vergessen zu dürfen.
P.S.: Gestern bin ich mit dem Bus gefahren. Und der Busfahrer hält nicht einfach an der Bushaltestelle in Schweppenhausen, sondern fragt mich vorher, wo ich wohne. Und dann hat er mich tatsächlich an der Stelle unserer „Hauptstraße“ rausgelassen, die meinem Haus am nächsten liegt. Wir haben uns beim Aussteigen sogar voneinander verabschiedet. Das gibt’s in der Stadt nicht.

Planeten-Poker (1985)

Pssst! Kommen sie unauffällig rein! Gehen Sie durch die Bar in das verrauchte, düstere Hinterzimmer. Hier bleiben Sie mucksmäuschenstill und ängstlich im hintersten Winkel stehen und werden Zeuge des
PLANETEN – POKER
Die schäbige kleine Kneipe im Stil der zwanziger Jahre ist bereits zum Bersten gefüllt, obwohl es erst zwölf Uhr mittags ist – High Noon also. Da der Laden aber in einer Zeitblase schwimmt und es den ganzen Tag zwölf Uhr ist, macht es den Gästen wenig aus und die Drinks fließen mit schöner Regelmäßigkeit in die Mäuler der versammelten Unterwelt einer ganzen Galaxis. In diesem verrufenen Loch sitzen die bösartigsten Wesen mehrerer Zeitalter, die Finger ständig locker am Abzug – die Bestellung einer Flasche Limonade oder die Beanstandung des Wechselgeldes kann einen hier schon das Leben kosten.
Doch all diese kleinen Gangster sind noch kleinere Fische, denn im Hinterzimmer sitzen die Bosse – und pokern …
Hier aus unserem Winkel, versteckt hinter den breitschultrigen und bis an die Zähne bewaffneten Gorillas, die beim kleinsten Wink ihres Chefs zu morden bereit sind, können wir die beiden Rivalen erkennen. Zur Linken sitzt ein mächtiges, fettes, graurüsseliges Monster mit Schlauchbootlippen, das die Zeit bis zum Spiel damit verbringt, regungslos und nur gelegentlich gefährlich fauchend vor sich hin zu stinken. Zur Rechten sitzt ein älterer Herr mit langem, weißem Bart und noch längerem, noch weißerem Haupthaar, der einen eleganten Nadelstreifenanzug und monströse Ringe an den Fingern trägt. Er kaut bis zum Spielbeginn an einer dicken Zigarre und übt bereits den bösen Blick.
Da! Das Spiel beginnt. Teilnahmslos gibt das Monster die Karten aus. Als beide Spieler ihre Karten aufgenommen haben, tauschen sie noch einmal Karten aus, dann werden ihre Gesichter zu Eis.
Der Weißhaarige setzt zuerst: „Fuffzisch Penning.“
Es wird totenstill.
Vorher war es nur still.
„Seschzisch“, kontert das Monster.
Die stickige Luft ist angefüllt mit Gestank und Zigarrenqualm. Die Augen des Weißhaarigen werden zu schmalen Schlitzen, in der Dunkelheit schimmert sein gelbes Raubtiergebiss, das langsam die Zigarre zerbeißt.
„E Mak.“
Das Monster versucht, ein überlegenes Grinsen aufzusetzen, doch es misslingt ihm kläglich. „Mak zwansisch.“
Das einzige Geräusch, das man jetzt noch hören kann, ist ein leises Knistern. Die Spannung.
„Die Erde“, lässt der Weißhaarige die ängstlich wartende Umgebung wissen. Dann lacht er dröhnend: „Harr, harr, harr!“
Schlagartig verstummen sogar die Gäste in der Bar, voller Panik wartet der gesamte Planet den Ausgang der Partie ab. Alle Einwohner sind wie erstarrt.
„Isch geh mit unn will sehe!“ Das Monster scheint sich wieder gefangen zu haben.
Stille.
Nochmal Stille.
Dann ein lässiges „Okay“.
Der Weißhaarige wirft einen Royal Flash in Kreuz auf den Tisch und lehnt sich mit einem gewinnenden Blick in die Runde zurück.
Ungläubiges Staunen.
Das Monster macht eine kleine Pause, um die Spannung ins Unerträgliche zu steigern.
Dann präsentiert es seine Karten, indem es sie einzeln und gemütlich hintereinander auf den Tisch blättert.
„Fünf Asse!?!“
Der verblüffte Weißhaarige ist der erste, der nach Stunden des betretenen Schweigens die passenden Worte findet. Die meisten Leute haben sich vor Entsetzen erstmal flach auf den Boden gelegt und tief durchgeatmet.
„Scheiße. Schon wieder verloren. Dabei habe ich sechs Tage an dem Ding gearbeitet. Was wohl meine Frau dazu sagt?“ murmelt Gott vor sich hin, bevor er mit hängendem Kopf die Kneipe verlässt.
Tja, liebe Leser, sollte also demnächst ein Monster vor Ihrer Tür stehen und von Ihnen verlangen, als Sklave auf seiner Cocktailkirschenplantage zu arbeiten, dürfen Sie sich nicht wundern. Bedenken Sie, dass wir alle nur Teil eines großen Spiels sind. Und jetzt haben Sie auch die Erklärung dafür, warum in den letzten paar tausend Jahren so erschreckend wenige Dinge auf Ihrem Planeten wirklich rund gelaufen sind.
P.S.: Mein erstes Lieblingslied, von meiner ersten Lieblingsgruppe. Wir schreiben das Jahr 1976. The Bay City Rollers - Keep On Dancing. https://www.youtube.com/watch?v=-5c7f8ANifA

Freitag, 14. August 2015

Die schnelle Wanst-Away-Diät

Klappt jetzt am besten!
Literatur-Star Andy Bonetti verrät Ihnen weltexklusiv seine geheimen Tipps und Tricks.
Morgens: 1 Esslöffel Hüttenkäse auf 1 Scheibe Vollkorn-Knäckebrot streichen. Ohne Spiegeleier und Speck servieren.
Mittags: 1 kleine Packung passierter Tomaten mit ¼ Zwiebel, ½ Knoblauchzehe, 1 Prise Salz und Paprika köcheln lassen. Tomatensuppe auf einem riesigen flachen Teller anrichten.
Abends: Kräuter-Frikadellen aus Petersilie, Koriander, Basilikum und Spucke formen. Kurz anbraten.
Wichtig! Trinken Sie viel Wasser, möglichst 5-10 Liter, und machen Sie täglich mindestens einen Triathlon.
Demnächst in Ihrer Bahnhofsbuchhandlung: „Reich, schön und schlank mit Andy Bonetti“. Mit den coolsten Kitchen-Moves! The Bonetti-Way of Zwiebel-Cutting!!
Kaufen Sie auch: „Verschwörungspraktiker und Kollateralnutzen – in zehn einfachen Schritten zum Sprachgenie und Erfolgsautor“ von Andy Bonetti.
„Ohne Bonetti gehe ich nicht mehr aus dem Haus.“ (Seine Heiligkeit Karmapapa Eugen Bon Jovi)

Bonetti hilft gegen alles, von A wie Aftersausen bis Z wie Zalanditis.“ (Attila S. Bratfisch)

„Andy Bonetti ist das letzte Universalgenie der Menschheit.“ (Neue Frau, das Rätselmagazin mit dem Fernsehprogramm für die nächsten vier Wochen)
Jona Lewie - You'll Always Find Me In The Kitchen At Parties. https://www.youtube.com/watch?v=b9zdilFwHxY

Donnerstag, 13. August 2015

Unsere neuen Diener

Die Bilder, die wir in diesem Sommer von Flüchtlingslagern in Deutschland sehen, erinnern mich an die Bilder von der bundesdeutschen Botschaft in Prag 1989.
Mit den Menschen kommen neue Biographien in unser Land.
Der junge Mann als Mali, der am Checkpoint Charlie Sonnenbrillen an amerikanische Touristen verkauft. Bei der nächtlichen Fahrt durch die Sahara ist sein bester Freund, der mit ihm gemeinsam das Dorf verlassen hat, von der Ladefläche des Pick-up gefallen. Der Fahrer hat nicht angehalten.
Die junge Frau aus Afghanistan, die ohne Arbeitserlaubnis die Wohnung eines Rechtsanwalts in Krefeld putzt. Die Taliban drohten ihr mit Steinigung, weil sie Lesen und Schreiben lernen wollte.
Der Mann aus Syrien, der mit einem umgeschnallten Bratwurstgrill durch Frankfurt läuft. Auf dem Boot, in dem er mit anderen Flüchtlingen saß, waren auch seine beiden Kinder. Die Frau ist im Bürgerkrieg gestorben. Seine zweijährige Tochter hat man über Bord geworfen, weil sie nicht aufhörte zu schreien und die anderen Flüchtlinge Angst hatten, entdeckt zu werden. Sein kleiner Sohn wartet in der Wohnung, die er sich mit Fremden teilen muss, auf seine Heimkehr.
Die Frau, die in einer Münchner Einkaufsstraße auf dem Boden sitzt und bettelt. Sie könnte Ihnen aus der Hand lesen, wenn Sie Ihren Ekel überwinden und sich von ihr berühren lassen würden. Besser als jedes Horoskop! In Albanien hat man sie mit Steinen beworfen, wenn sie das Roma-Ghetto verlassen hat.
Wie verzweifelt muss man sein, wenn man sich danach sehnt, Dienstbote des weißen Mannes zu werden?
P.S.: Ich habe keinen Job, keine Freundin und noch nicht einmal ein Auto. Ich bin fett, faul und versoffen. Aber ich bin als gesunder deutscher Junge auf die Welt gekommen. Das reicht schon für ein gutes Leben. Seit 49 Jahren. Morgen habe ich Geburtstag und feiere mit guten Freunden und ebenso gutem Whisky. Übermorgen sitze ich zur Eröffnung der Fußballbundesliga im Stadion von Mainz 05, umgeben von großzügigen Freunden, die mir den Besuch bezahlen. Ich lese gerade „Snack Daddys abenteuerliche Reise“ des großartigen Gary Shteyngart und darf mich unbeschwert über mein amerikanisches Alter Ego amüsieren. Merkwürdiger Planet.

Der Wächter

„Sein Gesicht sieht aus, als hätte ihm das Leben verächtlich lachend mit voller Faust hineingeschlagen …“ (Thomas Mann: Tobias Mindernickel)
Ich sitze auf einer Bank am Bahngleis, als ein Mann vorüberschleicht. Er ist hochgewachsen und schlank, er hat einen honigfarbenen Vollbart und lange Haare, ein fein geschnittenes Gesicht und große dunkle Augen. Seine schwarze Jacke ist zerrissen, seine Socken haben Löcher, er starrt vor sich hin und wispert in einem endlosen Selbstgespräch sinnloses Zeug.
Jeder kennt ihn. Es ist der Friedhofswächter. Vor vielen Jahren wurde der alte Friedhof geschlossen und ein neuer Friedhof vor der Stadtmauer angelegt. Für den alten Friedhof wurde ein Wächter eingestellt, der in einem Haus an der Friedhofsmauer wohnt. Immer, wenn ein Besucher auf den alten Friedhof wollte, musste er durch das Haus des Wächters, denn das alte schmiedeeiserne Tor hatte man längst geschlossen. Wenn man das Haus betrat, musste man eine steile Treppe zum Zimmer des Wächters erklimmen. Das Zimmer war düster und bis zur Decke mit langen Bücherregalen gefüllt. Hier saß der Wächter und erzählte dem Besucher die Geschichten der Toten.
Wenn man selbst auf den Friedhof wollte, musste man auf den hölzernen Balkon hinter dem Sessel des Wächters treten und eine Wendeltreppe hinabsteigen. Auf dem Friedhof standen uralte Bäume mit ausladenden Kronen, die Wege und Grabsteine waren von Efeu und Schlingpflanzen überwuchert, so dass man kaum noch die Namen der Toten lesen konnte.
Es ist lange her, dass jemand den alten Friedhof besucht hat, und so ist der Wächter verrückt geworden und irrt noch heute durch die Welt.
The Black Keys - Ten Cent Pistol. https://www.youtube.com/watch?v=dBLjweU5iv4

Mittwoch, 12. August 2015

Der deutsche Professor – im Felde unbesiegt

„Ein guter Lehrer bleibt ein Schüler bis an das Ende seiner Tage.“ (Chinesisches Sprichwort)
Früher habe ich in meiner Ingelheimer Stammkneipe immer einen Typen namens Duffy getroffen. Der kleine Mann mit der quäkenden Stimme wusste alles besser. Er konnte endlose Vorträge über Stereoanlagen oder seine Lieblingsmusik (Jethro Tull!) halten und würgte Gegenargumente grundsätzlich mit dem Satz „Doch, das ist so“ ab. Und dann ist Sydney eben die Hauptstadt Australiens. Damals gab es noch keine Smartphones, um seine Thesen direkt am Tresen widerlegen zu können. Irgendwie ein bisschen wie bei Lucke, dem Weltökonom, der eine Partei nach der anderen gründet. Leider habe ich Duffy aus den Augen verloren. Er wohnt aber immer noch bei seinen Eltern und ist Schalterbeamter bei der Deutschen Bahn geworden. Alles andere wäre ja auch Quatsch gewesen.
Ich habe längst einen neuen Duffy. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an einer Fachhochschule am Rande der Galaxis, und ich habe die Ehre, mich regelmäßig seiner ausführlichen Erläuterungen zu den wesentlichen Fragen der Menschheit zu erfreuen. Er beherrscht seinen auswendiggelernten Theoriequark, den er seit Jahrzehnten zur Erbauung seiner Studentenschaft unverändert wiederkäut, selbstverständlich perfekt, gelegentlich hapert es aber an der Umsetzung in die Praxis. Die alte Geschichte: Theorie und Empirie passen beim deutschen Beamten nicht immer zusammen. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so. Was wäre, wenn die Duffys dieser Welt tatsächlich die Züge fahren und die Unternehmen leiten würden? Der deutsche Beamtenapparat verhindert vermutlich mehr Unheil, als wir ahnen.
Jetzt hat der VWL-Duffy ein praktisches Problem. Sein Kühlschrank ist kaputt. Nach acht Jahren. Deutsches Markenprodukt. „Familienunternehmen aus Tradition“, wie es auf der Homepage heißt. Also ruft er den Kundendienst an. Der Kundendienst kommt und stellt fest, dass der Kühlschrank repariert werden muss. Darauf wartet er nun seit Wochen. Und das in diesem Jahrhundertsommer (der wievielte eigentlich?). Keine kalten Getränke, keine kühlen Nahrungsmittel wie zum Beispiel Butter. In seiner winzigen Mansardenwohnung, die zu einer Zeit gebaut wurde, als Isolation noch als Begriff zur Umschreibung der deutschen Außenpolitik verwendet wurde, herrschen über dreißig Grad. Nach eigener Auskunft tropft ihm der Schweiß auf die Tastatur seines Notebooks.
Er wartet weiter. Ich rege den Kauf eines Ventilators an. Der Volkswirt erklärt mir, dass sich die Anschaffung eines Ventilators nicht rentiere, da es ohnehin nur an wenigen Tagen im Jahr überdurchschnittlich heiß sei. An den Klimawandel glaubt er im Übrigen nicht, der Geizonom hält das Phänomen für linke Propaganda (inklusive BILD und Weißes Haus) und plumpe Beschaffungsrhetorik der Klimaforscher, die anderen Fachrichtungen die wertvollen Forschungsmittel entzögen.
Ich diskutiere an diesen Punkt gar nicht erst, weil wir uns ansonsten vom spannenden Feld der Praxis entfernen würden und im uferlosen Bereich seiner Theorien landen, wonach die Volkswirtschaftslehre die „Königsdisziplin“ der Wissenschaft sei und weitaus bedeutender als etwa die Medizin. Ich frage einfach, wie er sich in dieser Hitze ernährt. Morgens hole er sich frisches Obst und mixe sich Smoothies, erklärt er. Abends ginge er in eine Pizzeria, wo man ihn inzwischen aufgrund seiner äußerst eingeschränkten Ernährungspräferenzen mit der Frage „Wie immer?“ begrüßen würde.
Seine Freundin habe ihm aber neulich erklärt, wie man eine Pizza telefonisch oder online bestellt. Mit leuchtenden Augen erläutert er mir ausführlich das Geschäftsmodell eines ortstypischen Lieferservice, das ihm selbstredend gänzlich neu ist und darum auf ihn regelrecht innovativ wirken muss. Ich erwähne nicht, dass es dieses Phänomen seit Jahrzehnten gibt und ich mich ungefähr ebenso lange auf diese Weise ernähre. Nein, ich lausche, mühsam die Contenance bewahrend, dem Referat des großen Entdeckers, der ganz im Banne der eigenen Feldforschung ist. Pizza – nach Hause! Einfach anklicken. Nein! Doch!! Nein!!!
Ich lasse ihn ausreden. Diese Leute werden irgendwann müde. Auch die Duffys und Luckes dieser Welt müssen gelegentlich mal einen Schluck trinken. Und so grätsche ich im richtigen Moment dazwischen. Man könne nicht nur Pizza online bestellen, sondern auch Kühlschränke und Ventilatoren. Ich hätte mir, da ich kein Auto besitze, meinen PC, meinen Fernseher, Schuhe, Klamotten, diverse Möbel und … - meinen Kühlschrank sowie den hollywoodesken Hochleistungsventilator auf diese Weise an die Haustür liefern lassen. Man müsse doch bei dieser Hitze nicht wochenlang auf den Kundendienst und eine Reparatur warten. Ein neuer Kühlschrank kostet etwa so viel wie die Wartung des alten Hobels plus Anfahrt.
Er überlegt einen Augenblick und sagt dann: „Doch, das ist so.“ Brauchen wir diese Art von Wissenschaft bzw. diesen Typus von Wissenschaftler eigentlich im 21. Jahrhundert noch? Überflüssig zu erwähnen, dass er alle Diskussionsbeiträge angelsächsischer Fachkollegen wie Krugman und Stiglitz, beide Nobelpreisträger, sowie die gesamte Fachpresse vom „Economist“ bis zur „Financial Times“ zur Griechenlandfrage für ausgemachten Blödsinn hält, den man nicht ernst nehmen müsse. Er selbst vertritt in Presse (FAZ u.a.), Funk (Deutschlandradio u.a.) und Fernsehen (ZDF-WiSo u.a.) natürlich die Schäuble-Doktrin.
Andererseits: Was machen diese Menschen, wenn sie den ganzen Tag draußen herumlaufen würden? Außerhalb ihrer Büros und Kinderzimmer? Ihr Kontakt zur Welt der Wirklichkeit ist längst abgerissen. „Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein.“ Indem wir Steuerzahler ihnen ein Leben zwischen Puppen und Legosteinen in einem Elfenbeinturm ermöglichen, halten wir sie uns vom Leib und können sie gleichzeitig betrachten wie Zootiere.
P.S.: Ich habe Ihnen ja noch gar nicht erzählt, wie die Geschichte mit dem Kühlschrank ausgegangen ist. Das Ende ist eigentlich das lustigste an der ganzen Sache. Vor einigen Tagen hat die Kühlschrankfirma den Herrn Professor angerufen und ihm erzählt, das Gerät sei nicht mehr zu reparieren. Man biete ihm aber ein Neugerät mit dreißig Prozent Rabatt an. Einer der ältesten Tricks der Welt. Sie bekommen Rabatt! Sie sparen bares Geld, wenn Sie jetzt unterschreiben!! Der Volkswirt fällt natürlich drauf rein. Ohne nachzudenken, willigt er am Telefon ein.
Eine kurze Recherche im Internet, z.B. bei Amazon (Dauer: 1 Minute), hätte ihm gezeigt, dass er – trotz Rabatt – mehr für den Kühlschrank gezahlt hat als für ein vergleichbares Gerät einer anderen Marke. Als ich ihn mit diesen Fakten konfrontiere, antwortet er lapidar, er hätte keine Zeit, um Preise zu vergleichen. Der Mann, der gerade Semesterferien und ab Oktober ein Forschungsfreisemester vor der Brust hat, der Mann, der in diesem Jahr nicht mehr arbeiten muss (und im nächsten Jahr erst wieder im März), hat also keine Zeit, um eine vernünftige Kaufentscheidung für ein Gebrauchsgut zu treffen, das ihn mehrere hundert Euro kostet und viele Jahre halten soll.
Danke! Solche Leute würden heutzutage in einem normalen Unternehmen noch nicht einmal die Probezeit überstehen. Und auf die Studenten, die von diesem Ökonom ausgebildet werden, darf sich die deutsche Wirtschaft jetzt schon freuen.
Pulp - Common People. https://www.youtube.com/watch?v=yuTMWgOduFM
Und hier die Version für Trekkies: https://www.youtube.com/watch?v=zI3UfxyIdgs
P.P.S.: In ein paar Tagen sehe ich Duffy Zwo (der in Wirklichkeit Harley Rübenbauer heißt) wieder. Ich weiß, dass er diesen Blog liest. Ich werde Ihnen berichten, wie er auf diese Majestätsbeleidigung, nein, das Wort ist zu schwach, auf diese Gotteslästerung reagiert hat. VWL ist bekanntlich eine Weltanschauung, keine Wissenschaft. Die Ökonomen sind den Theologen sehr ähnlich. Es fällt ihnen schwer, Kritik oder eine andere Meinung zu akzeptieren.

Dienstag, 11. August 2015

Das Gebiss der Schnecke

Es ist ja nicht so, dass es im beschaulichen Rheinland-Pfalz nicht auch mal einen Skandal gegeben hätte. Und natürlich handelte es sich um unser wichtigstes Produkt, den Wein. Die Peruaner bauen die Kokapflanze an, die Rheinland-Pfälzer die Weinrebe. Drogen gehen immer. Und wir schwören Stein und Bein, dass der Genuss unserer Drogen gut für die Gesundheit sei. Läuft. Praktisch wie von selbst. Bis auf 1985. Vor dreißig Jahren gab es den „Glykolwein-Skandal“, der bundesweit für Aufsehen sorgte.
Damals konnten wir Deutschen noch nicht die Vorteile des Klimawandels genießen und die Qualität des Weins war von Jahrgang zu Jahrgang höchst unterschiedlich. Manchmal war der Wein sauer. Und damals dachte der Laie noch: Je süßer der Wein, desto besser. Nein: desto Kopfschmerz. Aber das ist eine andere Geschichte. Was macht man also, wenn der Wein nicht süß genug ist? Man süßt ihn einfach nach. Mit Glykol. Die Österreicher, dieses deutschsprachige Balkanvolk, machten es vor und einige Weingüter in Rheinland-Pfalz kauften den alpinen Glykolwein, um damit ihre Produkte zu pantschen und aus ihrem Essig „Qualitätswein“ zu machen.
Berühmt wurde dabei die Firma Pieroth aus Burg Layen, nur wenige Kilometer vom idyllischen Weindorf Schweppenhausen entfernt, aus dem Sie diese Zeilen gerade erreichen. Nach dem Skandal wurde Pieroth, das als erstes das Direktmarketing von Wein in Deutschland einführte, in WIV Wein International AG umbenannt. Den Berlinern dürfte der Name Pieroth ein Begriff sein, denn Elmar Pieroth war von 1981 bis 1989 und von 1991 bis 1998 Senator in der Berliner Regierung. Fachgebiet: Wirtschaft und Finanzen. Zuvor saß er von 1969 bis 1981 für die CDU im deutschen Bundestag. Geschadet hat ihm der Skandal nicht, in den sein Familienunternehmen verwickelt war. Damals mussten Politiker wegen solcher Lappalien noch nicht zurücktreten.
Das Geschäft der hiesigen Winzer litt jahrelang unter dem Skandal, aber heute müssen wir uns um die Süße des Weins keine Sorgen mehr machen. Danke, liebe Autofahrer! Danke, liebe Industrie! Seit den späten achtziger Jahren ermöglicht der Klimawandel die Produktion von Weinen mit hohem Mostgewicht, gemessen in Grad Oechsle. Jeder Jahrgang der letzten Jahrzehnte war hervorragend. Das Weinanbaugebiet, das früher an der Mosel endete, konnte bis Großbritannien und Südschweden erweitert werden. Die Zeiten von Glykol und Pantscher-Pieroth, von Pantschen-Lama oder Sancho Pantscha, sind endgültig vorbei.
P.S.: „Schnecken besitzen kein Gebiss im herkömmlichen Sinn, verfügen aber über eine enorme Anzahl von Zähnen. Diese mikroskopisch kleinen Zähne sitzen auf dem zungenähnlichen Mundwerkzeug (Radula) der Schnecke und variieren in der Anzahl zwischen den verschiedenen Schneckenarten. Bei der Weinbergschnecke können es bis zu 40.000 sein.“ (http://www.unnuetzes.com/wissen/13286/schnecken/)
The Tremeloes - Silence is Golden. https://www.youtube.com/watch?v=n03g8nsaBro

Montag, 10. August 2015

Zur Flüchtlingssituation in meiner Heimatstadt

http://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/ingelheim/ingelheim/ingelheim-ist-nicht-freital-warum-es-in-der-rotweinstadt-keinen-sichtbaren-protest-gegen-fluechtlinge-gibt_15971693.htm

It’s the economy,stupid

„Die Menschen, die sich rühmen, ihre Ansicht niemals zu wechseln, sind Toren, die an ihre Unfehlbarkeit glauben.“ (Honoré de Balzac)
Wenn in diesen Tagen über Griechenland gesprochen wird, geht es immer nur um neue Kredite. Und es geht um die Forderungen der Gläubiger, die sich nicht mehr in den Modalitäten der Rückzahlung erschöpfen, sondern in massive innenpolitische Eingriffe ausarten. Griechenland ist nicht nur bankrott, sondern im Begriff, seine Freiheit zu verlieren.
Es wird ausschließlich über Finanzen gesprochen, aber nicht über Wirtschaft. Die Menschen in Griechenland brauchen aber keine neuen Kredite für den Staat, mit denen wiederum alte Kredite bedient werden. Sie brauchen Jobs. Sie brauchen Arbeit, mit der sich ein ausreichendes Einkommen erzielen lässt, um sich selbständig ernähren zu können. Massenarbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, ist das Hauptproblem. Im Augenblick ist Griechenland ein Junkie, der von seinem EU-Dealer abhängig ist. Die Drogen sind Kredite und Importe.
Mein Vorschlag: der kalte Entzug. Unabhängigkeit vom Dealer. Keine neuen Drogen. Ich will es an einem Beispiel erläutern. Wenn Sie heute in Athen einen griechischen Salat bestellen, bekommen sie ein Essen serviert, dessen Bestandteile nicht aus Griechenland kommen. Nur der Name ist griechisch, aber die Tomaten und Gurken kommen aus Holland, die Oliven aus Spanien, der Schafskäse aus Bulgarien, Paprika und Zwiebeln aus Ungarn, das Olivenöl aus Italien, Salz und Pfeffer aus der Türkei. Der Wiederaufbau der griechischen Wirtschaft fängt bei den Nahrungsmitteln an. Kein Schweinefleisch mehr aus Deutschland importieren, sondern eine eigene Landwirtschaft aufbauen. Die Geschichte der Zivilisation beginnt mit dem Ackerbau und mit der Arbeitsteilung. So fängt auch Griechenland wieder an. Keine Importe. So viel wie möglich selbst machen. Das schafft Jobs. Zunächst in der Landwirtschaft, dann in der Industrie. Warum gibt es keine griechischen Autos oder Computer?
Unabhängigkeit ist das Stichwort. Dazu gehört eine eigene Währung. Weg mit dem Euro, diesem falschen Versprechen. Die neue Währung würde im Vergleich zum Euro stark abwerten, was die Importe automatisch verteuern würde. Gut für die eigene Wirtschaft. Der eigene Salat ist plötzlich billiger als die holländische Importware. Der Übergang in eine selbständige Wirtschaft ist selbstverständlich sehr mühselig. Europa könnte über eine Entwicklungsbank den Aufbau einer neuen Wirtschaft bottom-up finanzieren. Unterstützung braucht Griechenland in jedem Falle. Egal, wer an der jetzigen Lage schuld ist. Der Junkie braucht Hilfe. Aber keine neuen Kredite an die Regierung, sondern eine Art autonomer Graswurzelökonomie, an deren Aufbau sich jeder beteiligen kann. Die Mikrokredite an Bauern, Handwerker und Kleinunternehmer in den Entwicklungsländern sind ein gutes Beispiel.
Ansonsten besteht für die verarmten Massen Griechenlands keine Hoffnung mehr. Dann bricht die Gesellschaft zusammen, dann geht das Land unter. Freiheit oder Tod. Das ist die Wahl, die Griechenland in diesem Sommer hat. Aber die Berichterstattung in den Medien erschöpft sich im finanzpolitischen Klein-Klein, in der bloßen Wiedergabe des diplomatischen Geplänkels im fernen Brüssel oder im verschlafenen Berlin und anderen Spielarten des systemkonformen Meinungsmanagements.
Wenn Sie also in Athen einen griechischen Salat bestellen, bekommen sie das Problem serviert – und die Lösung. Beim Essen hat man oft die besten Ideen.
P.S.: Generell wäre das Ende des Euro eine Befreiung für ganz Europa. Das Schisma Euro- vs. Nicht-Euro-Länder wäre aufgehoben. In Deutschland würde die neue Mark massiv aufwerten, was dem Exportwunder und dem vielfach kritisierten Außenhandelsüberschuss ein Ende bereiten würde. Dem Verlust von einigen hunderttausend Jobs in der Exportindustrie stünde ein Wohlstandszuwachs der gesamten Bevölkerung gegenüber, da die Importe plötzlich viel günstiger wären. Man bekommt mehr für sein Geld, das Benzin wird billiger, der Whisky, die Italienreise. Es wäre eine Gehaltserhöhung für alle. Und die neuen Arbeitslosen verschwinden durch den demographischen Wandel und den Bedarf in anderen Branchen ganz schnell aus der Statistik (Stichwort „Fachkräftemangel“).
Captain Sensible - Wot (Original 12 inch). https://www.youtube.com/watch?v=gOIsqWfHQOg