Donnerstag, 6. April 2023

Die Straße der Erinnerung

 

Als Kind hatte ich bestimmt dreißig Autos. Ich lebte im Luxus. Dazu meine ganzen Armeen: die Deutschen aus dem Ersten Weltkrieg, die Fremdenlegion und die Amerikaner in klein, die Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg, die Russen, die Japaner und die Briten in groß. Dazu Kriegsschiffe, Panzer und Flugzeuge als Modelle. Bei mir war jeden Tag Krieg, ich fand’s toll und keinen hat’s gestört.

Meine Mutter rauchte damals Kim. Die gibt’s heute gar nicht mehr. Die Schachtel hat zwei Mark gekostet. Oft bekam ich von den Erwachsenen Geldmünzen geschenkt. Auf der Zwei-Mark-Münze war Adenauer abgebildet. Sie sagten, ich soll es in mein Sparschwein tun. Habe ich natürlich gemacht. Das Plastikschwein wurde nie voll. Jahre später habe ich gemerkt, dass meine Mutter immer das Geld für ihre Zigaretten aus meinem Sparschwein genommen hat.

Benzin war praktisch umsonst. Wir fuhren manchmal einfach stundenlang durch die Gegend. Damals waren die Windschutzscheibe und der Kühlergrill immer voller Insekten und Singvögel. Im Hochsommer hatte man auch die Scheibenwischer an, wenn es nicht geregnet hat. Aber es hat im Sommer oft geregnet. Nicht nur so’n bisschen. Manchmal regnete es den ganzen Tag.

Das Fernsehprogramm war lustig. In „Väter der Klamotte“ wurden Ausschnitte aus alten Stummfilmen gezeigt. Da haben sich die Leute immer gegenseitig in die Fresse gehauen, und es gab wilde Verfolgungsjagden. Leute wurden aus dem Fenster geschmissen oder fuhren ungebremst gegen eine Häuserwand. Das haben wir dann am nächsten Tag auf dem Schulhof oder auf einer Wiese nachgespielt.

Ich hatte jede Menge Freunde, und den Erwachsenen war es egal, was wir machten. Man musste nur zum Abendbrot wieder zuhause sein. Es gab eigentlich immer dasselbe. Wurstbrot. Käse mochte ich damals nicht, die stinkenden Fischkonserven verursachten bei mir Brechreiz. Vater trank Bier und rauchte anschließend seine Pfeife, Mutter räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr.

Spielzeug gab es nur an Weihnachten und zum Geburtstag. Aber in der Zeit dazwischen gab man uns den Müll zum Spielen. Aus einer leeren Packung Erfrischungsstäbchen, drei Zahnstochern vom Käseigel und ein bisschen Zeitungspapier baute ich ein Schiff. Ich erinnere mich auch noch an Toast Hawaii. Der war damals groß in Mode. Das war die große weite Welt. Aber schön mit Dosenananas von Libby’s. Meine erste echte Ananas habe ich erst mit 23 gesehen.

Die Erwachsenen haben oft vom Krieg geredet. Eine Menge Leute waren „gefallen“. Als ich mal meine Mutter gefragt habe, warum sie nicht wieder aufgestanden sind, sah sie mich nur mit eisigem Schweigen an. Ihr Vater war in der Sowjetunion erschossen worden, als sie drei Jahre alt war. Mein lebender Opa war in Kriegsgefangenschaft. Bei Kriegsende wurde er, obwohl Grubenarbeiter in einem „kriegswichtigen Betrieb“, zum Volkssturm eingezogen. Er bekam nur eine Armbinde und eine Panzerfaust. Er hat die Waffe nie benutzt und wurde in einem Weinkeller am Rhein gefangen genommen.

Auf der anderen Straßenseite gab es einen Laden, da konnte man bei einem mürrischen alten Mann mit Zigarrenstummel im Mundwinkel Süßigkeiten ab zwei Pfennig kaufen. Comics, Buntstifte und Stofftiere. Spielfiguren: Cowboys, Indianer, Ritter und Soldaten. Keine Büroangestellten, keine Bauarbeiter, keine Krankenschwester. Gab es überhaupt weibliche Spielfiguren? Die Mädchen hatten ihre Puppen. Aber was haben sie sonst gemacht? Damals hat noch kein Mädchen Fußball gespielt oder ist auf einen Baum geklettert.

Im Nachbarhaus wurde mal das Zimmer eines Freundes neu gestrichen. Er hat alle Kinder aus der Nachbarschaft eingeladen und wir durften einen Nachmittag lang die Wände bemalen, bevor am nächsten Tag die Handwerker kamen. Das war ein Riesenspaß. Mit demselben Freund und seiner Mutter bin ich mal nach der Schule in einer „Ente“ nach Wiesbaden gefahren, wo wir in einem Möbelhaus waren, wo wir Schnitzel gegessen haben. Offenbar hatte ich zuhause nicht Bescheid gesagt, denn mein Vater suchte die ganze Stadt nach mir ab. In einem Sporthaus gab Fritz Walter gerade Autogramme. Er kam ohne mich nach Hause, aber mit einem Autogramm.

Einmal waren wir sogar in Spanien. Die Autofahrt mit dem Opel Kadett hat zwanzig Stunden gedauert. Wir hatten eine Ferienwohnung in Benidorm. Meine Mutter hat jeden Tag für uns gekocht. Wir hatten einen Sack Kartoffeln und eine ganze Palette Gulaschkonserven im Kofferraum. Der Strand war brechend voll. Eis am Stiel. Frauen oben ohne. BILD-Zeitung zwei Tage alt. Kam wohl auch mit einem Opel.

Alles war sagenhaft billig. Die lustigen Geldscheine. Pesetas. Für eine Mark hast du bestimmt tausend Peseten bekommen. Davon konntest du ein Brot und eine Flasche Wein kaufen. Erst viele Jahre später habe ich die Sympathie der Franco-Diktatur für die deutschen Urlauber begriffen. Alles in allem war es schön.   

P.S.: Ich sehe die ARD-Sportschau seit 1973, also seit fünfzig Jahren. In meiner Kindheit waren alle Bundesligaspiele samstags um halb vier, so wie Gott es gewollt hat.

 

7 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Sehr schön. An der Ostsee waren wir auch mal. Da trug man im Sommer noch einen knallgelben Friesennerz aus Plastik und einmal mussten wir vor einem Schwarm Bienen flüchten.

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    2. https://katzundgoldt.de/w_nordsee.htm

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  2. Ich bin ja einen Tacken jünger (Jahrgang 1974), aber ich habe auch noch frühkindliche Erinnerungen an sonntägliche ,,Sparzierfahrten'' (was man damals so als normal empfand).
    ,,Kriegsspielzeug'' gab es bei uns nicht, obwohl meine Eltern überhaupt nicht ,,grün'', ,,links'' oder gar friedensbeweg waren (eher ländlich-konservativ): Man hatte in der Familie durch den Krieg einfach genug gelitten, da sollten die Kinder so etwas nicht noch spielen. Blutige Schlachten zwischen ,,Cowboy und Indianer'' oder bis an die Zähne bewaffnete Piraten und Ritter waren aber ok. :-)

    Erinnerungen ...

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  3. Wer kennt noch die Spazierfahrten von Hänschen Frömming im Sulky? Kommentiert von Addi Furler. Da ging mir schon als Pimpf der Gaul durch.

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    1. Ja, damals gab es noch jede Menge Pferdesport und andere Sachen in der Sportschau, nicht nur Fußball.

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