Sonntag, 18. August 2019

Hör! Mir! Zu!

Ich bin immer wieder erstaunt, mit welchem Detailreichtum und welcher Ausdauer manche Menschen ihr bedeutungsloses Leben beschreiben können. Ein Abend mit einer Berufsschullehrerin namens Sieglinde Dingsbums und ihrem Mann, der sich mit der Rolle des Stichwortgebers zufrieden gibt: Zunächst geht es um die beiden Söhne. Es gibt nur einen Bereich, in dem der Narzissmus und das Eigenlob noch größer sind als im Beruf: die Familie. Die aktuelle Elterngeneration ist die beste aller Zeiten und ihre Kinder sind die tollsten, die es je gegeben hat. Schon klar. Bloß nix sagen. Widerstand ist zwecklos.
Sohn Nr. 1 studiert auf Lehramt. Er wohnt noch zu Hause, bekommt 400 € Taschengeld, seine Mutter macht ihm die Wäsche, aber er muss jede dritte Tankfüllung des Autos zahlen, das er mitbenutzt. Sohn Nr. 2 war gerade ein Jahr im Ausland und geht noch zur Schule. Sie hätte auch über Blattspinat sprechen können. Niemand interessiert sich für die langweiligen Kinder anderer Leute.
Aber man hat den Eindruck, hier spricht Heidi Klum über ihr Privatleben und ganz Deutschland hat auf diese Enthüllungen gewartet. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Eltern in solcher Ausführlichkeit über mich und meine Schwester gesprochen hätten. Den Kindern geht’s gut. Punkt. Nächstes Thema. Sieglinde hat nach den Kindern allerdings noch ihren Beruf, den Rentenbescheid und ihren Garten zu bieten. Es nimmt kein Ende. Jeder Anruf bei irgendeiner Behörde wird im Wortlaut wiedergegeben.
Ein weiteres Thema sind natürlich die ausgedehnten Reisen des Ehepaars, das sich immer wieder an den Händen hält, während Sieglinde erzählt und ihr Mann gelegentlich eine kleine Arabesque anfügt, ohne zu merken, dass seine haarige Wampe seit einer Stunde vom Nabel bis zum äußerst südlich gelegenen Hosenbund freiliegt. Eine Aufzählung von Orten in aller Welt, ausnahmslos wunderschön, aber keine einzige Erzählung, kein Erlebnis, eine endlose Fahrt ohne Inhalt. Ich werde unfreiwillig Zeuge einer in ihrer Unglaubwürdigkeit geradezu absurden Harmonieshow, weil es eine Reise ohne Streit und ohne Regen nun einmal nicht gibt. Jedenfalls nicht über Jahrzehnte. Nebenbei bemerkt: Wer gibt im Jahr 2019 noch mit Kreuzfahrten und Langstreckenflügen an wie ein Sack Mücken?
Ich empfinde es regelrecht als Drohung, als Sieglinde bemerkt, sie hätte inzwischen ihre Fotos pro Reise auf siebzig „eingedampft“, wie sie es ausdrückt, damit die Präsentation beim Dia-Abend nicht so lange dauert. Solche Selbstdarsteller pumpen auch siebzig Bilder auf mehrere Stunden tödlich langweiliges Geschwafel auf. Niemand interessiert sich für drittklassige Fotografien und ein paar Anmerkungen zu Restaurants, in denen man selbst nie gewesen ist. Diese Erinnerungen haben nur für die Reisenden eine Bedeutung. Wurde deshalb nicht Instagram als Schutthalde und Endlager für solche Nullinformationen erfunden? Vor langer Zeit habe ich mal drei Stunden auf einem steinharten Holzstuhl in Kreuzberg gesessen und die Ägyptenreise einer Kulturhistorikerin überstehen müssen, Diakasten für Diakasten. Nie wieder!
Alle Gäste, die nicht Sieglinde heißen, sind still geworden. Die Smartphones werden gezückt, ich setze mich einfach mal zehn Minuten zwischendurch auf der Gästetoilette, um mich zu erholen. Sie stellt anderen Menschen keine Fragen, zeigt keinerlei Interesse und es ist mühsam, ihren Monolog zu unterbrechen. Wir sitzen stundenlang zusammen, aber sie will nicht wissen, wer ich bin, woher ich komme oder was ich mache. Sie saugt den ganzen Sommerabend in sich hinein wie ein schwarzes Loch. Nach und nach verabschieden sich an diesem Samstagabend die Gäste, es ist noch nicht einmal elf Uhr. Aber selbst der Abschied von Sieglinde zieht sich auf quälende Weise in die Länge. Wieso kann sie nicht einfach „Auf Wiedersehen“ sagen und mich in die Nacht, in die Freiheit entlassen?
Ich verbuche den Abend unter der Rubrik „Studien zur Mikrosoziologie des Banalen“. Die humanitäre Katastrophe, dieser soziale Totalschaden ist in West-Berlin geboren und hat die Stadt eigentlich nie für längere Zeit verlassen. Nach zwei Monaten im Hunsrück komme ich in die große Stadt zurück und staune, wie unerträglich und penetrant die Hauptstadtmenschen in ihrer Eitelkeit sein können. Zum Glück kenne ich noch viele andere Exemplare. Sonst hätte ich nach einem Abend mit Sieglinde von Berlin für alle Zeiten die Schnauze voll.
P.S.: Und jetzt kommt noch mein persönliches Highlight. Sieglinde erzählt von einer Hochzeit, bei der sie neben Albrecht von Lucke gesessen hat. Dem berühmten Politologen, der auch regelmäßig in Talkshows eingeladen wird. Vermutlich will sie mit der Personalie angeben. Ich erwähne beiläufig, dass ich mit Albrecht in der Grundschule, im Gymnasium und im Handballverein (HSC Ingelheim) gewesen bin, was vermutlich über ein kurzes Gespräch bei einer Familienfeier hinausgeht. Trotzdem erklärt Sieglinde mir, dem ebenfalls promovierten Politologen, wer Albrecht eigentlich ist und welche Positionen er vertritt. Kannst du dir nicht ausdenken. Ich lasse es widerspruchslos über mich ergehen und schreibe eben hinterher darüber, liebe Freunde des gepflegten Wahnsinns.
David Gilmour - Raise My Rent. https://www.youtube.com/watch?v=IuqqyhNO0Dk

9 Kommentare:

  1. DANKE ... für die unterhaltsame Frühstücks-Lektüre ;D

    Tag der schlechten Poesie 2019
    18. August 2019 in der Welt

    „Ohne Blumen, ohne Träume,
    ohne Spaß und Purzelbäume,
    ohne Schinken, ohne Speck
    hat das Leben keinen Zweck.“

    *Sonntags-GRUß*

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  2. Ich habe nur die 4 Jahre Pubertät benötigt um vom Humanismus über den Zynismus zur Misanthropie zu konvertieren.
    Jede Küchenschabe oder Kanalratte nötigt mir mehr Respekt ab.

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  3. Soviel Selbstdarstellung um sich der eigenen Existens zu versichern? Ich weigere mich inzwischen grundätzlich, mehr als ein Foto auf dem Handy anzuschauen, Essensbilder schon garnicht. Eigentlich friert mir, wenn ich mir die innere Einsamkeit vorstelle.
    Ich kenne auch Menschen die mir die bekannten Nachrichten erzählen,nur um von sich abzulenken? Ich werde da sehr ungeduldig.

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    1. Bonetti lässt sein Essen malen, dieser Bonvivant :)

      https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d2/Adriaen_van_Utrecht_001.jpg

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    2. Ein wunderbares Bild- ich wusste nicht, dass diese Tradition so fortgeführt wird!

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    3. Die Hummer ware damals noch riesig !
      Dafür der Schinken kleiner.

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  4. Uhh, gegen solche Leute hilft noch nicht einmal demonstratives Einschlafen inkl. Schnarchen. Quasseln einfach weiter. Selbst schon auf einer Geselligkeit erlebt (ich war natürlich nicht weggedämmert, sondern die Gastgeberin).

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  5. Ich weiss nicht, wie oft ich mich schon so gefühlt hab, wenn Leute (soziale Totalschäden) ausholen und vor einem ihr großartiges Leben aufrollen.
    "Eine endlose Fahrt ohne Inhalt."
    Alles drin. Alles da. Sogar Blattspinat.
    Und null Interesse für andere Menschen. Und jede Wette: wenn du dieser Person den Text vorliest, sie würde sich darin nicht erkennen. Sie würde sich selbst, im Chor mit den anderen Zuhörern, auslachen.

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