„Die Nacht tut ihm wohl. In seinen Zimmern angekommen, setzt er sich, entschlossen, bis zur Raserei zu arbeiten, an den Schreibtisch.“ (Robert Walser: Kleist in Thun)
Ungarische Gaststätte, Eschengraben 41. Wenn Sie mal sehen wollen, wie der Prenzlauer Berg war, bevor die Besserverdiener aus Westdeutschland eingeritten sind, gehen Sie in diesen Kiez. Gehen Sie in diese Kneipe. Sie könnten auch in einer x-beliebigen Kleinstadt in Deutschland sein. Im kleinen Gastraum hängt das Wildschweinfell neben dem Feuerlöscher, das Blechreklameschild von anno dunnemals neben den schmiedeeisernen Garderobenhaken. Ein Pandämonium teutonischer Gemütlichkeit. Wenn aus dem Radio „Slave to Love“ von Roxy Music dudelt und die verblühte Wirtin das Lied mitsummt, während sie mir ein böhmisches Schwarzbier zapft, bekomme ich glänzende Augen. Genau deswegen bin ich Schriftsteller geworden, um diese kostbaren Augenblicke, diese Perlen eines Berliner Sommernachmittags für Sie, liebe Lesende, festzuhalten. Das Essen ist lecker und die Preise sind sensationell: für zwei große Bier, ein ungarisches Gulasch mit hausgemachten Nockerln, einen Palatschinken mit Zucker und den abschließenden Aprikosenbrand zahle ich nur sechzehn Euro. Als „Blue Eyes“ von Elton John läuft, wird die Wirtsfrau traurig und schnieft vor sich hin. An was erinnert sie das Lied? Aber ich kann sie nicht fragen, obwohl ich der einzige Gast im Hause bin. Wir hatten über die Spatzen gesprochen, die sie im winzigen Biergarten mit Brot gefüttert hat, über das bevorstehende Unwetter und ihren arthrosekranken Hund, der unter einem Tisch liegt und den sie aus dem Tierheim hat. Aber nach ihren Gefühlen kann ich sie unmöglich fragen. Zwei verlorene Seelen in einem rätselhaften, unendlich schönen, unendlich tragischen Universum.
Elton John – Blue Eyes. https://www.youtube.com/watch?v=4CiyKeSnSxk
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