Es ist ein Phänomen, das sich seit Jahren epidemisch ausbreitet: Ich bin ein Opfer, ich werde verfolgt, ich brauche Hilfe und Solidarität. Steuerhinterzieher und andere Straftäter sehen sich als Opfer der Justiz. Nazi-Mörder und ihre Sympathisanten stellen sich als Opfer der Antifa und der drohenden „Umvolkung“ durch Migranten dar. Wer heute nicht aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner sexuellen Orientierung, seines geringen Einkommens oder seiner Religion diskriminiert wird, gehört zur bedauernswerten Restmenge der „alten, weißen Männer“.
In Deutschland gibt es Opfer, denen eine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die Überlebenden des Holocaust und ihre Nachkommen. Wenn diese Menschen sprechen, sollten wir schweigen und zuhören. Es ist das Mindeste, das man als Nachfahre von Nazis tun kann. Respekt und Anerkennung angesichts einer Schuld, die niemals abgetragen werden kann. Offen gegen die neuen Nazis in der AfD und gegen rechtsradikale Gruppierungen kämpfen.
Offenbar gibt es in einzelnen Fällen die Sehnsucht, in diese Opferrolle schlüpfen zu können. Sei es, um sich selbst aus der Masse der Durchschnittsbürger zu erheben, sei es, um sich das Mitleid und die Anteilnahme anderer Menschen zu erschleichen, sei es aus Karrieregründen. Ich denke an die Parteispendenaffäre der Ära Kohl in den neunziger Jahren, als die CDU Hessen unter Roland Koch Geld aus schwarzen Kassen als „jüdische Vermächtnisse“ deklarierte und jede Kritik empört von sich wies. Oder an Bruno Dössekker, der unter dem Namen Binjamin Wilkomirski eine fiktive Biographie als Holocaust-Überlebender veröffentlichte und aufgeflogen ist.
Jetzt hat auch die Blogger-Szene ihren Fall: Marie Sophie Hingst. Sie erfand eine jüdische Verwandtschaft, zu der auch angebliche Opfer des Holocaust zählten. Sie erzählte in ihrem Blog von ihrer Phantasie-Familie, hatte 240.000 Follower, wurde 2017 „Bloggerin des Jahres“ und war fortan mit Interviews und Gastartikeln auch in den großen Blättern vertreten. Sie hatte sogar die Chuzpe, 22 Opferbögen mit den Daten ihrer erfundenen Familie an die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zu schicken. Nebenbei betrieb sie angeblich auch noch eine Slumklinik in Indien, sie sah sich offenbar als eine mildtätige Nachfolgerin von Mutter Theresa.
Letzten Monat deckte der SPIEGEL den Betrug auf und entlarvte sie als Hochstaplerin. Die öffentliche Empörung traf sie wie ein Tsunami. Marie Sophie Hingst wurde vergangene Woche tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Es wird angenommen, dass sie freiwillig ihr Leben beendet hat. Am Ende war sie tatsächlich ein Opfer. Ein Opfer der perfiden Phantasiewelt, in die sie sich verstrickt hatte, und ein Opfer des real existierenden Medienbetriebs.
Also ich bin auch Opfer. Von irgendso einem doofen Blogger der eine geile Webseite betreibt, toll erzählen kann und dessen Themen nur noch von seinen Bildern übertroffen werden (ich sage nur Snickers).
AntwortenLöschenWer das ist sag ich nicht, sonst werden andere auch noch süchtig.
Zwinkersmiley.
LöschenEin Mensch, der sich geliebt und verbunden mit seinen Mitmenschen spürt, braucht diese Überhöhung der eigenen Person nicht. Er ist wichtig, ohne sich so darstellen zu müssen. diese tragische Geschichte zeigt einmal mehr, wie allein sich Menschen fühlen. Der einfachste Weg, um ins Gespräch zu kommen, ist einen Hund zu kaufen, auch z.B.ohne jede Schamgrenze werden Menschen im TV+ Medien bloßgestellt, tun viel, um "jemand zu sein". Was sagt das über unsere Gesellschaft?
AntwortenLöschenWas tun manche Leute nicht alles, um von fremden Menschen im Fernsehen angeglotzt zu werden? Für die Aufmerksamkeit der anonymen Masse? Eitelkeit und Selbstdarstellung sind zum Selbstzweck geworden. Du musst einfach gut sein, wenn du viele Follower hast.
LöschenSchlechtes Gewissen kann tödlich sein.
AntwortenLöschenNichts tut mehr weh als Scham, die Einsicht, einen Fehler gemacht zu haben den jeder kennt.
Früher war es ja schon maximal peinlich, wenn man auf dem Schulfest besoffen rumgetorkelt ist und dies sich am nächsten Tag in der Raucherecke anhören musste. Und dann so etwas, im Netz, Millionen wissen es !
Das so etwas im Selbstmord endet ist im höchsten Maße tragisch.
Furchtbar, ich kannte diese Geschichte nicht.
Als ich davon las, wie "authentisch" Hingsts Erzählungen doch seien, musste ich direkt an einen Blogger aus Berlin denken, dessen Blog mittlerweile im Nirwana das Webs verschwunden ist. Dessen Geschichten waren nämlich ebenso "authentisch". Mir unverständlich, dass so viele Menschen, die sich selber für kritisch halten, nicht erkannten, dass der Kiezneurotiker lediglich die Miniaturversion eines Felix K. war. Zu seinem Glück (und das meine ich ernst) hat er seine Identität nicht öffentlich gemacht.
AntwortenLöschenGerade ein anonymes Blog verleitet zum Realitätsverlust. Solange niemand mitliest, den man kennt - was soll's? Bei Frau Hingst war die Popularität irgendwann so groß, dass sie aus dieser Falle nicht mehr rauskam.
Löschenwirklich schlimm ist, dass marie sophie hingst graduierte historikerin war und oft bei veranstaltungen des holocaust-denkmal-förderkreises einflussreich mitwirkte.
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