Samstag, 30. September 2017
Deutscher Herbst 1977 – aus der Perspektive eines Elfjährigen
Wie weit weg man als Kind doch von politischen Ereignissen war. Ist das heute noch so? Herbst 1977. Ich bin elf Jahre alt.
Der sogenannte „Deutsche Herbst“, in dem die Rote Armee Fraktion und ihre palästinensischen Verbündeten die Nachrichten bestimmten, begann am 5. September mit der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer.
Meinem Tagebuch entnehme ich, dass ich an diesem Tag verschlafen hatte und zu spät zur Schule kam. „Zum Mittagessen gab es Nudeln mit Gulasch. Dann spielte ich mit den Spielzeugautos und mit meinem Lego. Ich baute eine Rennbahn, einen Tunnel, eine Box und spielte Rennen. Von 17 Uhr bis 18 Uhr Fernsehen gesehen. Dann mit Papi ins Schwimmbad. Es war schön. Um 20:20 Uhr zu Hause. Bis um 21:30 Uhr Fernsehen gesehen und dann ins Bett.“ Nichts zu den dramatischen Ereignissen. Es ist wie bei Kafka 1914 zum Kriegsbeginn: „Nachmittag Schwimmschule.“
Der Oktober ist von anderen Ereignissen geprägt: Herbstferien bei meiner Oma in Diez und am 14. Oktober der verwegene Plan: „Auch will ich ein Buch schreiben. Über die Träume, die ich hatte.“ Tatsächlich habe ich heute noch die Aufzeichnungen von einem halben Dutzend Träumen aus diesem Jahr in handschriftlicher Form. Ein Buch wurde es zwar nicht – aber die Ambition, endlich mal ein gutes Buch zu machen, hat mich seit vierzig Jahren nicht verlassen.
Dann treten die historischen Momente am 18. Oktober doch noch in mein Leben. Morgens hatte ich mit meiner Großmutter einen Nusskuchen gebacken und ein Puzzle gemacht. Es gibt Buletten und Kartoffelbrei zum Mittagessen, zum Nachtisch Vanillepudding. Am Nachmittag gehe ich mit meiner Oma in die Stadt, abends sehen wir fern. Ganz unten auf der Seite noch der Eintrag: „P.S.: Die von Terroristen entführte Boeing 737 von deutschen Soldaten erstürmt. Geiseln frei (nur nicht H.-M. Schleyer), 3 Terroristen begangen Selbstmord. Schleyer seit 6 Wochen entführt.“
Am nächsten Tag, es gab Schnitzel mit Kartoffeln zum Mittagessen und meine Oma kaufte mir ein 500-Teile-Puzzle mit dem Motiv „Schloss Neuschwanstein“, heißt es ganz am Ende nur lapidar: „P.S.: Schleyer doch von Terroristen ermordet.“ Mehr finde ich zum Thema Politik nicht in diesem Tagebuch, das ich akribisch geführt habe und mit dem unsterblichen Fazit endet: „In diesem Jahr gab es 46 mal Spaghetti mit Fleischsoße.“ Mein Lieblingsessen. Eine schöne Kindheit.
P.S.: Ich habe gerade die „Berlinreise“ von Hanns-Josef Ortheil gelesen. 280 Seiten über eine Woche in Berlin 1964 – damals war Ortheil dreizehn Jahre alt. Und für die Veröffentlichung des Manuskripts eines Kindes wurde nur die Rechtschreibung überarbeitet. Da sieht man schon in jungen Jahren den Unterschied zwischen einem gefeierten Schriftsteller und einem späteren Blogger.
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Das ist interessant wie man das wahrnimmt. Ich habe dunkle Erinnerungen daran, als meine Mutter nach der Geburt meines Bruders die Nachricht mit von Braunmühl im Fernsehen gesehen zu haben, aber natürlich habe ich das als knapp 6-jährige nicht verstanden und auch nicht einordnen können.
AntwortenLöschenIm Juni habe ich im Rahmen einer Ausstellung von Arwed Messner Original-Polaraids von Schleyer, die das BKA als Asservate aus einem Erddepot gezogen hat gesehen. Es war vor meiner Zeit und ich habe es als Kind, wenn das im Fernsehen erwähnt wurde natürlich nicht verstanden, aber diese Originalbilder waren noch mal eine ganz andere Qualität als die im Fernsehen oder in Büchern.
1977 war ich zwölf Jahre alt, und ausserhalb meiner positiv verklärten Kindheitswelt gab es da diese bösen Menschen, die schon eine zeitlang nebelig meine Daktari-Fernsehwelt berührten, deren Schwarzweiß-Portraits von einem Fahndungsplakat zu mir herübersahen, und die ihr Geheimnis nicht preisgaben, so sehr ich in Ihren Gesichtern auch etwas zu erkennen suchte. Draussen warteten die ersten Mädchen, und ich ging Fußballspielen.
AntwortenLöschenIch habe im Keller Tagebücher von mir liegen, die 20 Jahre mittlerweile alt sind. Ich sollte mal wieder nachlesen.
AntwortenLöschenIch war vier damals. Habe das aber, da politische Familie trotzdem mitbekommen. Wie hieß das damals noch? Punto, Buback, Schleyer, kommen nicht zur Weihnachtsfeier, die liegen brav in ihren Kisten, schönen Gruß, die Terroristen!
AntwortenLöschenIch kann aus dem Stegreif ein Dutzend Blogger aufzählen, die stilistisch erregender und inhaltlich interessanter daherkommen als gefeierte Steller von gedrucktem Geschriebenem.
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