Dienstag, 15. Mai 2012
Der Wedding ist die Zukunft II
Identität und Identitätsbildung, ob individuell oder sozial, haben längst ihre unhinterfragte Selbstverständlichkeit verloren. „Selbstverständnis“ stellt sich nicht mehr intuitiv bzw. über Traditionen her, es muss bewusst und aktiv vom Individuum bzw. einer Gruppe geschaffen werden. Früher war Identität auf natürliche räumliche Grenzen bezogen, die über Generationen stabil blieben (der Hof, das Dorf, das Tal usw.), heute stellen sich viele Menschen die Frage: Wo sind meine Wurzeln, wie entstehen sie und wie bewahrt man sie?
Offensichtlich fühlen sich Menschen dort wohl, wo sie ihre Heimat haben. Der räumliche Bezug ist ein Teil ihrer persönlichen Identität. Menschen sind an Territorien gebunden, die Privatsphäre im Kleinen (inklusive der „Raumblase“ als mobiles Minimalterritorium des Großstadtmenschen), die Heimat im Großen (bis hin zu kollektiven Konstrukten wie dem „Vaterland“). Auch im modernen Leben finden sich überall Zeichen von identitätsbildendem Lokalpatriotismus: von Sidos Berliner Ghetto-Hymne „Mein Kiez, mein Block“ bis zur bajuwarischen Trachtentanzgruppe.
Eine entscheidende Frage für die Bürgerstiftung Wedding ist darum: Wie entsteht und wie bewahrt man diese lokale Identität, diesen Bezugsrahmen des alltäglichen Lebens in Zeiten hoher Mobilität, kultureller Differenzierung und globaler Vernetzung? Welche Chancen haben die Menschen im Wedding, um eine Identität bilden zu können, die ihnen Selbstbewusstsein und Stolz auf ihren Kiez vermittelt? Identität in diesem Sinne verstanden wird zur Basis für Respekt, für den Umgang miteinander und die Anerkennung von außen.
Im Augenblick ist dieses Selbstbewusstsein erst in Ansätzen vorhanden. Womöglich hängt es mit der sozialen Situation im Wedding zusammen. Aber warum machen wir aus unterschiedlichen materiellen Ausstattungsmerkmalen von Personen und Haushalten eigentlich soziale Unterschiede bis hin zur Ausgrenzung („Ghetto“)? Armut bedeutet letztlich, nur über knappe Ressourcen verfügen zu können. Das bedeutet wiederum, permanent Entscheidungen über Prioritäten treffen zu müssen. Erst die Knappheit der Mittel führt dazu, die Konsequenzen seiner Entscheidung rational abzuwägen. Wer alle Möglichkeiten besitzt, z.B. Geld im Überfluss, muss nicht die Konsequenzen seines Handelns fürchten. In diesem Sinne macht Armut klug. Armut, zu Ende gedacht, bedeutet auch, sich von überflüssigen Bedürfnissen zu verabschieden. Wer nur die Mittel für das Nötigste hat, der verabschiedet sich aus dem mitternächtlichen Wettkampf um das neueste Smartphone. Vielleicht verlieren auf diese Weise auch die Verlockungen der Konsumwelt sukzessive an Strahlkraft? Und vielleicht führt die Identitätsbildung im Wedding dazu, die eigene kulturelle Vielfalt als neuen Reichtum zu entdecken?
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