Dienstag, 12. Mai 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 5

"Hast du ma‘ Feuer?"
"Nee, hast du ma’n Euro?"
Der arabische Pubertäter stutzte einen Augenblick, dann ging er weiter. Mardo hörte noch, wie er "Wichser" murmelte. Das war keine Beleidigung im Kiez, das war der Alltag. Deswegen würde er sich nicht mit einem Araber anlegen. Wer sich mit einem Araber anlegt, legt sich mit einer arabischen Familie an. Und wer sich mit einer arabischen Familie anlegt, legt sich mit der ganzen arabischen Gemeinde an.
Mardo war auf dem Weg zum Gesundbrunnencenter, um Mary abzuholen. Auf dem Vorplatz wurde er von Zeitungsaboverkäufern angekobert und von Zeugen Jehovas angefrömmelt. Die linksalternative Tante von Greenpeace vertrat sicher sympathische Ziele, die Mardo theoretisch auch jederzeit unterstützte. Aber er ging dem protestantischen Ernst und der bleiernen Moral dieser Menschen instinktiv aus dem Weg. Es erinnerte ihn immer an Abendbrot in der Jugendherberge, an die Trostlosigkeit von lauwarmem Früchtetee an langen schmucklosen Tischen. Gerade die Umweltbewegung hatte ein ungutes Denkmuster entwickelt, das allen Beteiligten unaufhörlich eingebimst wurde: Du bist ein Umweltsünder, du musst gegen das eigene und fremde sündhafte Verhalten ankämpfen, du kannst nicht gewinnen, weil du in einer bösen Welt lebst, Erlösung gibt es – wenn überhaupt – erst dann, wenn du längst tot bist. Kommt einem irgendwie bekannt vor. Es soll Unternehmen in der Glaubensindustrie geben, die mit diesem Geschäftsmodell seit zweitausend Jahren sehr erfolgreich sind.
Mardo betrat die Shopping Mall mit einem unguten Gefühl. Freiwillig hätte er die glitzernde Höhle voller Tinnef und Talmi nie betreten, für seine Bedürfnisse genügte ein Supermarkt und ein Gemüsehändler. Aber inzwischen hatten diese geklonten Malls die Marktplätze ersetzt, hier waren tagsüber viele Jugendliche aus dem Brunnenviertel. Die riesigen Einkaufszentren, die es überall in der Stadt gab, waren zugleich Treffpunkt und Arena, Orte der Freundschaft und der Rivalität. Aber wie im Feudalismus bestimmte die Obrigkeit (neudeutsch: Management), zu welcher Zeit dieser Ort nutzbar war, und nicht die Bewohner des Viertels.
Als er den Spielzeugladen in der ersten Etage betrat, war Mary bereits in den geheimnisvollen Katakomben des Gebäudes verschwunden, die hinter den Geschäften eine Parallelwelt aus Sozial- und Lagerräumen bildeten. Nach einigen Minuten, in denen Mardo einem wie besessen lachenden Ernie bei seinen mechanischen Kunststücken zusah, kam Mary auf ihn zu. Ein Lächeln und ein Kuss entschädigten ihn für den kurzen Ausflug ins Fegefeuer des Konsumterrors.

Sebastian Freudenstrahl stand am Eingang des Humboldthains und betrachtete das Juweliergeschäft auf der Brunnenstraße. Wie gewöhnlich liefen die Menschen in Richtung Bahnhof und Gesundbrunnencenter. Gleich würde ein älterer Mann den Laden mit einer Sporttasche verlassen. Jeden Abend von Montag bis Freitag war es so. Der Mann würde die Straße überqueren, die Brunnenstraße hinuntergehen gehen und dann in die Gustav-Meyer-Allee einbiegen. In der Wiesenstraße würde sein Auto stehen, denn er parkte jeden Tag auf der anderen Seite des Parks, um auf dem Weg ins Geschäft noch ein wenig die Stille und die frische Luft genießen zu können. In der Sporttasche würden sich wie immer die Tageseinnahmen des Juweliers befinden, die er auf dem Weg nach Hause bei einer Bank abgeben würde. Freudenstrahl, im rumänischen Sibiu geboren und in Moabit aufgewachsen, war ein erfahrener Dieb. Er hatte die Sache seit Wochen genau ausbaldowert, nochmal würde er nicht ins Gefängnis müssen. Heute hatte er besonders viele Kunden im Juweliergeschäft verschwinden sehen, heute musste er zuschlagen. Als er dem Mann mit der Sportasche folgte, gingen im tausend Gedanken durch den Kopf. Es muss alles ganz schnell gehen, dachte er. Schau dich unauffällig um. Ist jemand auf der Straße? Gewöhnlich war es in dieser Seitenstraße ruhig, nur der Eingang zum Parkplatz der Deutschen Welle war eine potentielle Gefahrenquelle. Vielleicht soll ich warten, bis er in die Wiesenstraße einbiegt? Nein, zu gefährlich. Es könnte ihm jemand entgegenkommen oder von der Hussitenstraße aus zusehen. Er würde die letzten Schritte näherkommen und den Mann niederschlagen. Seine Hand umklammerte ein Stück Kupferrohr in der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke. Er würde zuschlagen und mit der Tasche blitzschnell im Gebüsch verschwinden. Dann würde er durch den Park zum Bahnhof gehen und verschwinden. Alles war ganz genau geplant.

Der Regionalexpress nach Stralsund verließ den Bahnhof Gesundbrunnen pünktlich um 18:39 Uhr. Dieser Bahnhof war der zentrale Verkehrsknoten im Norden Berlins, den täglich hunderttausende Menschen passierten. Von hier kamen immer wieder Verbrecher ins Viertel. Und mit ihnen kommt auch meine Arbeit, dachte Mardo. An diesem Tag ging es jedoch nach Binz auf der Insel Rügen. Ein paar Tage am Strand würden ihnen gut tun, den klapprigen Toyota hatten sie zu Hause gelassen. Mary und Mardo hatten es sich gerade auf ihren Sitzen bequem gemacht, als sich ein junger Mann mit einer schwarzen Lederjacke und einer Sporttasche zu ihnen setzte. Wie immer war es Mardo unangenehm, wenn sich ein Fremder in seine Nähe setzte. In Zügen ging ihm das immer so. Eigentlich komisch, aber es gibt viele solche Merkwürdigkeiten im menschlichen Verhalten. Warum mögen wir es nicht, wenn uns jemand beim Essen zuschaut, der selbst gerade nicht isst? Warum fühlt man sich krank, nachdem man eine Sendung zum Thema Gesundheit gesehen hat? Warum tasten wir mit unserer Zunge die Zähne ab, wenn jemand von einem Zahnarztbesuch erzählt? Warum gilt jemand als fleißig, nur weil er früh aufsteht? Mit solchen Fragen konnte man sich gut befassen, während die Häuser des Wedding vorbeiglitten. Zweimal umsteigen und gegen elf Uhr wären sie im Hotel.

Der Plan hatte funktioniert. Sebastian Freudenstrahl saß im Zug und hatte die Sporttasche in seiner Hand. Er hätte sie gerne geöffnet, aber das war leider unmöglich. Neben ihm saß ein harmloses Pärchen, das offenbar an die Ostsee fahren wollte. Als er im Bahnhof seine Fahrkarte am Schalter gekauft hatte, konnte er die Bahnangestellte geschickt in ein kleines Gespräch verwickeln. Sie würde sich an ihn erinnern, wenn die Polizei nach dem Täter suchte. Und bei schwerem Raubüberfall gäbe es ganz sicher eine Fahndung. Er hatte ihr erzählt, er hätte in der Nähe von Stralsund ein Haus geerbt. Natürlich würde er den Zug irgendwo vorher verlassen, vielleicht in Angermünde oder Pasewalk. Im Park hatte ein Rentnerpärchen gesehen, wie er mit der Tasche durch das Gebüsch auf den Weg gestolpert war. Das musste nichts bedeuten, aber es war besser, seine Spur zu verwischen und eine Weile aus der Gegend zu verschwinden. Und dazu gehörte, eine falsche Spur zu legen. Auch den Brötchenverläufer auf dem Bahnsteig hatte er seine Geschichte vorgespielt, um Zeugen für seine Fahrt an die Ostsee zu haben. Zunächst gab er vor, nur mit einem Fünfzig-Euro-Schein bezahlen zu können, dann fand er – scheinbar zufällig – doch noch das nötige Kleingeld. Er sei wegen der Erbschaft ja so aufgeregt, berichtete er dem gelangweilten Pakistani.
Der Zug hatte die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen, Freudenstrahl hatte mühsam das Käsebrötchen hinuntergewürgt, obwohl er keinen Hunger verspürt hatte. Da blickte er zur Gepäckablage hinauf und sah eine weitere Sporttasche. Sie war ebenfalls dunkelblau und hatte drei weiße Streifen. Da kam ihm eine Idee. Er könnte seinen Auftritt perfekt machen, in dem er eine weitere Szene im Zug spielte. Das Pärchen würde sich daran erinnern, wie er an einem bestimmten Bahnhof den Zug verließ. In Wirklichkeit würde er durch eine andere Tür wieder einsteigen und noch einige Stationen mitfahren. Er unterdrückte ein Grinsen, als er seine Tasche, die bisher zwischen seinen Füßen gestanden hatte, aufhob und auf die Gepäckablage stellte. Die beiden Mitreisenden hatten nichts bemerkt, einträchtig blickten sie schweigend zum Fenster hinaus.

Als der Zug nach Bernau einrollte, stand Freudenstrahl auf, räusperte sich geräuschvoll und machte sich umständlich am Gepäck über ihm zu schaffen. Der fremde Mann blickte ihn mißtrauisch an. Freudenstrahl nahm die falsche Sporttasche und wollte gehen, als der Mann, wie von ihm erwartet, hinter ihm herrief: "Das ist meine Tasche."
"Aber nein, sie müssen sich irren. Das ist meine."
"Nein", erwiderte Mardo, "ich erkenne sie an der abgewetzten Ecke."
Zufällig kam nun auch der Schaffner des Wegs. Freudenstrahl war zufrieden, das wäre das I-Tüpfelchen auf seiner Show. "Das ist völlig unmöglich", fuhr er fort, "ich bin mir ganz sicher."
Erwartungsgemäß mischte sich der Schaffner in das Gespräch ein: "Kann ich helfen?"
"Ja", sagte Mardo, "dieser Mann hat meine Reisetasche mit seiner verwechselt." Mardo hatte Freudenstrahls Tasche von der Ablage heruntergenommen und zeigte sie dem Schaffner.
"Das können wir doch sofort klären", sagte der Schaffner zu Mardo. "Öffnen Sie doch bitte mal ihre Tasche, falls es Ihnen nichts ausmacht."
"Ganz im Gegenteil", sagte Mardo und öffnete den Reissverschluss der Sporttasche, bevor ihm der blass gewordene Mann in der Lederjacke zuvorkommen konnte. Was sie sahen, machte sie für einen Augenblick sprachlos. Neben einem Bündel Geld waren ein großer Haufen Schmuck und Edelsteine zu sehen, dazu ein Hammer, an dem noch Blut und Haare klebten. Freudenstrahl konnte es immer noch nicht fassen, selbst als die Polizei ihn schon abgeführt hatte. Er hatte einen Verbrecher überfallen.

1 Kommentar:

  1. Hallo Matthias,

    schön, dass mal jemand was übers Brunnenviertel schreibt. Irgendwie fehlt es ihm ja ein wenig an Identität. Die DEGEWO möchte jetzt ihre Läden für ein anspruchsvolles Publikum verwandeln. Hoffentlich füllt sie auch die Börsen der Anwohner.

    Weiter so, Andreas

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