Sonntag, 13. April 2025

Götterdämmerung


Ich sitze am Ufer des Rheins auf einer Bank und genieße die Wärme des beginnenden Frühlings. In meinem Glas funkelt der Wein, und ich nehme einen tiefen Schluck. Ich bin allein, die Menschen sind beschäftigt. Arbeit, Schule, Haushalt, Einkäufe. Was für ein Leben. Ich brauche das alles nicht. In meinem Alter ist man bescheiden geworden. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie alt ich schon bin. Es müssen Jahrtausende sein.

Ein Mann mit schlohweißem Haar und einer durchscheinenden Pergamenthaut nähert sich langsam der Bank und setzt sich neben mich.

„Wohin des Wegs?“ frage ich ihn gutgelaunt.

Mühsam hebt er den Kopf und wirft mir einen gequälten Blick zu. Er hat nur ein Auge, die andere Augenhöhle ist vernarbt.

„Ich war immer ein Wanderer, aber ich habe keine Kraft mehr. Asgard ist mein Ziel. Am Flughafen sagte man mir, es gäbe keine Flüge an diesen Ort. Als ich fragte, welche Stadt in der Nähe lag, bot man mir Reykjavík an. Aber ich hatte weder Geld noch einen Pass, also konnte ich kein Ticket kaufen.“

„Das ist traurig. Auch meine Heimat ist fern. Ich bin der Sohn des Zeus, er lebt auf dem Olymp, viele Tagesreisen von hier entfernt. Trink einen Schluck Wein, das kräftigt deinen Geist und deinen Körper.“

„Ich trinke nur Skaldenmet, das ist ein Honigwein, den es in meiner Heimat gibt.“

Ich zauberte ein Glas Riesling, der mit Honig gesüßt war, in seine Hand. Er trank vorsichtig einen kleinen Schluck, verzog angewidert das Gesicht und trank das Glas in einem Zug leer.

„Mein Name ist Odin.“

„Angenehm, Dionysos.“

Und so tranken wir den ganzen Nachmittag und erzählten uns Geschichten.

Seit die Menschen nicht mehr an mich glauben, bin ich schwach und alt geworden. Aber sterben kann ich nicht. Kein Gott kann das. Meine göttlichen Kräfte sind fast völlig vergangen. Fruchtbarkeit? Dünger und Viagra. Wahnsinn? Politik und Wirtschaft. Ekstase? Drogen. Nur der Wein ist mir geblieben. Auch wenn ich keine ausschweifenden Feste mehr veranstalten darf, denn der Genuss des Rebensafts gilt als ungesund und ist der Arbeitsleistung abträglich.

Walhalla wurde geschlossen, lange bevor das Clubsterben in Berlin begann, wie Odin mir erzählte. Ich schilderte ihm meine Dionysien, fünftägige Feste mit Prozessionen, Chören, zahlreichen Aufführungen von Komödien und Tragödien, geschmückten Tafeln voll edler Köstlichkeiten, in leuchtenden Farben. Heute liegen die Proleten beim Oktoberfest in ihrem eigenen Erbrochenen.

Wehe euch, die ihr den Göttern der Ausschweifung entsagt habt, um euch mit nutzlosen Dingen zu umgeben und eure Zeit mit unsinnigen Tätigkeiten zu vergeuden.

12 Kommentare:

  1. "Walhalla wurde geschlossen, lange bevor das Clubsterben in Berlin begann"
    Ein schöner Satz, den ich mir merken werde.
    Falls sich gerade jemand beschwert oder nörgelt — Walhalla wurde geschlossen, lange bevor das Clubsterben in Berlin begann.
    Gruß, ein Freund

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  2. "Viel Tun führt oft zum Scheitern. Darum tue nichts – und alles wird getan"*. Und "wo der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens"**. Wer diese beiden Maximen beherzigt, der wird ein glückliches Leben führen: "keine Termine und leicht einen sitzen"***.

    *Tao-Te-King
    **Euripides
    *** Harald Juhnke

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  3. In Alt-Moabit gibts immerhin noch ein Restaurant namens Walhalla. Skaldenmet hat man dort nicht im Angebot, dafür allen Ernstes Jägermeister mit Erdbeermilch. Sollte das Odin zu Ohren kommen wird er sich vermutlich nochmal am Weltenbaum aufhängen, fürchte ich.

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    1. Hier muss der Gesetzgeber einschreiten. Geht ja wohl gar nicht. Friedrich Merz, übernehmen Sie!

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    2. War gerade im Walhalla. Jägermeister gibt es, aber nicht mit Erdbeermilch. Trotzdem bin ich jetzt neugierig geworden. Leider haben die Supermärkte heute geschlossen.

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    3. "Hier muss der Gesetzgeber einschreiten. Geht ja wohl gar nicht. Friedrich Merz, übernehmen Sie!"
      Alle Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt :)

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    4. Im Koalitionsvertrag habe ich zu Jägermeister mit Erdbeermilch nix gefunden. Typisch KleiKo.

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  4. "Jägermeister mit Erdbeermilch"
    Wer sowas trinkt, frisst auch kleine Kinder. Was stört euch an Eierlikör?
    Gruß, ein Freund

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    1. Du bist also ein Mädchen :o)

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    2. Kann man nicht so sagen.
      Habe schon öfters einen Eierlikör in der Kneipe bestellt. Erst kucken alle blöd, dann wollen alle einen.

      Klaus Zapf hat mal im Walhalla gearbeitet.
      Eines meiner Lieblingszitate von ihm:
      "Lösen? Die Kunst ist, nichts zu lösen. Unter dem Glacé der Lösung verbirgt sich der Abgrund.

      https://www.waahr.de/texte/klaus-zapf-–-der-geist-bewegt-die-masse

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    3. Zapf war klasse. Gibt es solche Unternehmer noch in Berlin?

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    4. glaub nicht. Alles junge Freddies

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