Sonntag, 26. April 2015

Flüchtlingstick

„Jeder muss sein Leben für sich leben, mit seinen eigenen Lippen austrinken, wie man einen mit Süße und Bitternis gefüllten Becher ausschlürft.“ (José Ortega y Gasset)
Die Verhaltensweisen, die man sich als Flüchtling in Situationen der Not, des Hungers und der Angst aneignet, scheinen sich für den Rest des Lebens zu verfestigen. Meine Großmutter musste 1945 mit meiner Mutter und meinem Onkel aus Schlesien nach Rheinland-Pfalz zur Familie ihres in der Sowjetunion gefallenen Mannes flüchten. Sie waren zwischenzeitlich auch in einem tschechoslowakischen Flüchtlingslager interniert. Dresden hatten sie drei Tage vor dem Inferno hinter sich gelassen.
Meine Oma hat zum Beispiel mal in einem Café auf dem Nachbartisch ein herrenloses Körbchen mit Brötchen entdeckt und gnadenlos requiriert. Dann hat sie sich für eine Mark Butter und Marmelade bringen lassen und die ganzen Brötchen aufgegessen. Im Supermarkt ging sie gerne an der Schlange vorbei und erzählte dem Kunden ganz vorne, sie müsse dringend zum Zug. Ob man sie deswegen vorlassen würde. Und sie wurde vorgelassen. Und ich stand als kleiner Junge neben ihr. Es war so peinlich. Wir fuhren überhaupt nicht mit dem Zug, sondern gingen um die Ecke zu Fuß nach Hause. Damals gab es auch noch Preisschilder auf den Sachen im Laden, die man ganz leicht abziehen konnte. Manchmal hat meine Oma dann eiskalt die Preisschilder vertauscht und so den Einkauf um etliche Mark verbilligt. Ich wäre als Kind am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Eine Familie von Kleinganoven. Was würde passieren, wenn sie uns erwischen? Das Kapitel Mundraub will ich hier gar nicht erwähnen …
Meine Mutter war genauso. Wir saßen im Gastraum einer Kegelbahn in Ingelheim und hatten Schnitzel mit Brot gegessen. Am Ende waren noch zwei Scheiben Graubrot übrig, die meine Mutter mit dem Kommentar „Flüchtlingstick“ in ihre Handtasche gesteckt hat. Als die Kellnerin beim Bezahlen hinter ihr stand, nahm meine Mutter das Portemonnaie aus der Tasche und die Kellnerin sah das Brot. Ist ja nicht verboten. Aber ihr Blick hat mich an diesem Tag vernichtet. Es hat viele Jahre gedauert, meine Großmutter und meine Mutter waren längst gestorben, bis ich begriffen habe, dass sie nicht anders konnten. Und dass es ein Fehler war, von ihrem Verhalten peinlich berührt gewesen zu sein. Mit jedem Handgriff haben sie mir von ihrer schrecklichen bleischweren Vergangenheit erzählt. Erst als ich reif genug für die Wahrheit war, habe ich sie erkannt.
The Chameleons - Silence, Sea and Sky. https://www.youtube.com/watch?v=6mzlxXgVveU

2 Kommentare:

  1. Sehr schön, sehr spannend.erinnert mich an die lesenswerten Bücher zum Thema "Kriegsenkel", von denen es inzwischen einige gibt.

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    1. Ich habe meinem Vater (Jahrgang 1934) das Buch "Die vergessene Generation" von Sabine Bode zu Weihnachten geschenkt. Es hat ihm sehr gut gefallen. Vielleicht bekomme ich von meinem Neffen eines Tages "Kriegsenkel" geschenkt?

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