Samstag, 18. April 2015

Roth und Grau

„Ich bin ein eingefleischter Individualist. Das ist das ganze Problem.“ (Werner Finck)
Hans-Peter Grau sitzt am Steuer seines VW Passat. Er ist im fortgeschrittenen Alter, untersetzt und trägt einen anthrazitfarbenen Anzug. Neben ihm sitzt ein junger Mann mit platinblond gefärbtem Out-of-Bed-Look auf dem Schädel und Lederjacke. Er heißt Fabian Roth und hat einen Rucksack auf seinem Schoß. Der Wagen befindet sich auf der Autobahn kurz hinter Berlin und fährt in Richtung Westen.
Roth: Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.
Grau: Nichts zu danken. Wusste gar nicht, dass es noch Tramper gibt.
Roth: Wusste gar nicht, dass Tramper noch mitgenommen werden. Aber ich habe kein Geld für die Rückfahrkarte.
Grau: Zu meiner Zeit sind wir ja jedes Wochenende getrampt. Zu Konzerten oder Partys. Sie sind der erste Tramper, den ich seit vielen Jahren mitnehme.
Roth: Finde ich gut. Ich habe gerade Jack Kerouac gelesen. „On the road“. Da wird ständig getrampt.
Grau: Wo soll’s denn hingehen?
Roth: Wolfsburg. Fahren Sie in die Richtung?
Grau: Ich muss nach Hannover. Ist kein Problem, ich kann Sie in Wolfsburg rauslassen.
Roth: Das wäre echt super. Ich bin total fertig.
Grau: Die Nacht durchgemacht, was? Haben wir früher auch.
Roth: Wenn’s nur das wäre. Ich war auf einer Demo gegen Nazis. Überall Bullen und Glatzen. Echt krass.
Grau: Ist Ihnen was passiert?
Roth: Nein. Aber es war stressig. Wir haben bei Freunden auf dem Boden gepennt. Und am nächsten Tag mussten wir die Demo erstmal finden. Die war in Hellersdorf. Das ist am Arsch der Heide.
Grau: Kenn ich nur vom Hörensagen. Ich bin immer nur in der Innenstadt. Hab einen alten Studienfreund in Charlottenburg besucht.
Roth: Sie haben in Berlin studiert?
Grau: Ja, sechszehn Semester Politikwissenschaft. Da haben wir auch eine Menge Demos veranstaltet.
Roth: Sieht man Ihnen gar nicht an.
Grau: Nach der Wende wurden für den Osten unheimlich viele Verwaltungsbeamte gebraucht. Ich habe eine Stelle bei der Stadtplanung in Magdeburg bekommen.
Roth: Und was machen Sie dann in Hannover?
Grau: Inzwischen habe ich mich versetzen lassen. Ich komme ursprünglich aus Neustadt am Rübenberge. Ist da ganz in der Nähe.
Roth: Politikwissenschaft. Ist ja echt witzig. Will ich nämlich auch studieren. Nach dem Abi.
Grau: Wann sind denn die Prüfungen?
Roth: In zwei Monaten. Aber an den Unis ist ja nix mehr los, was man so hört. In den sechziger Jahren waren die noch voll auf dem Revolutionstrip. Und zu Ihrer Zeit war sicher auch noch eine Menge los, oder?
Grau: Kann man so sagen. An unserem Institut waren eigentlich alle Marxisten. Die Studenten sowieso, aber auch die Profs. Wir haben gestreikt. Es gab Hausbesetzungen. Riesendemos. Die Knüppelgarde des Senats ist aufmarschiert, Wasserwerfer und Tränengas. Am 1. Mai herrschte Ausnahmezustand.
Roth: Da wäre ich gerne dabei gewesen. Marx hab ich nicht gelesen. Ist mir zu textlastig. Heute hast du ja gegen das System keine Chance mehr. Die überwachen dich auf Schritt und Tritt. Und die Bullen machen mit den Nazis gemeinsame Sache. NSU und so.
Grau: Mit einer Demo verändert man ja auch nichts. Ich habe es in Berlin schon öfters gesehen. Da gehen die jungen Leute eine Stunde um den Block, das Handy in der einen und die Bierdose in der anderen Hand. Und hinterher hocken sie in der Kneipe und erzählen, sie hätten was gegen das System gemacht. Nö, haben sie nicht.
Roth: Was habt ihr denn damals anders gemacht?
Grau: Wir waren die ganze Zeit aktiv. Da gab es autonome Seminare, in denen diskutiert wurde. Wir haben eine Menge phantasievolle Aktionen gestartet. Wenn uns was nicht gepasst hat, haben wir das ganze Institut besetzt und den kompletten Lehrbetrieb lahmgelegt.
Roth: Und was hat das gebracht?
Grau. Eine ganze Menge. Wir haben gelernt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss. Dass man sich wehren kann. Dass man Strukturen verändern kann.
Roth: Verstehe ich nicht. Welche Strukturen habt ihr denn geändert?
Grau: Gute Frage. Wenn ich so darüber nachdenke, hat sich an der Uni und in der Stadt nicht allzu viel verändert. Wir haben dann alle nach der Uni angefangen zu arbeiten und haben unsere Ideen umgesetzt. Umweltschutz, erneuerbare Energien, veränderte Lehrpläne an den Schulen und manche sind in der Uni geblieben.
Roth: Aber eigentlich ist alles beim Alten geblieben, oder? Ich meine, eine Revolution sieht anders aus.
Grau: Revolution ist ein großes Wort. Meine Erzieherin hat schon 1968 von der Revolution geredet, als ich noch im Kindergarten war. Die haben es auch nicht geschafft. Es geht um Veränderungen, verstehen Sie? Wenn man jung ist, will man alles ganz schnell. Aber Veränderungen brauchen Zeit.
Roth: Aber im Augenblick verändert sich doch alles zum Schlechten. Die Erde wird zerstört, die Menschen werden wie Dreck behandelt, Bonzen und Nazis schießen wie Pilze aus dem Boden.
Grau: Geht mir genauso. Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Aber was sollen wir machen?
Roth: Eine Revolution! Die ganze Scheiße in Schutt und Asche legen. Die verdammten Kapitalistenschweine an die Wand stellen. Pest und Verderben, Deutschland verrecke!
Grau: Das wollten wir ja damals auch. Feuer und Flamme für diesen Staat.
Roth: Und?
Grau: Wir haben es nicht geschafft. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe zwei Kinder. Es hat mich zwölf verdammte Jahre gekostet, das Reihenhaus abzubezahlen.
Roth: Für mich ist es nicht zu spät.
Grau: Aber mit euren Online-Petitionen und Alibi-Demos kommt ihr doch auch nicht weiter.
Roth: Ich weiß. Wir brauchen dringend ein paar neue Ideen.
Grau: Ich bin schon gespannt.
Roth: Mit euch Alten ist jedenfalls nicht zu rechnen, das merke ich schon. Bequem und saturiert. Mit Pensionsberechtigung.
Grau: Ich bin 52 und Diabetiker. Was soll ich sagen?
Roth: Schon gut. Kann ich hier rauchen?
Grau: Wäre nicht so toll. Wir sind eine Nichtraucherfamilie und in dem Wagen fahren auch meine Kinder mit.
Roth: Kein Problem.
Grau: Danke.
The Unknown Cases – Masimbabele. https://www.youtube.com/watch?v=WQGk8qbb258

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