Sonntag, 19. April 2015

Die Melancholie der Ruinen

„Eines der winzigen Privilegien, die früher der Mensch genoss, war die Stille, das Recht auf eine gewisse Dosis Stille. Vorbei.“ (José Ortega y Gasset)
Auf der Autobahn kurz vor Berlin, 6:30 Uhr. Zwei junge Frauen sitzen in einem Fernreisebus von TOTAL, einem neuen Anbieter von äußerst günstigen Busreisen.
Jutta: Ich hab seit Stuttgart kein Auge zugemacht.
Anke: Ich auch nicht. Scheiße. Ich dachte, man könnte auf der Fahrt ein bisschen pennen.
Jutta: Wie denn auf den engen Sitzen? Und jetzt könnte ich mal aufs Klo. Aber hier im Bus geh ich nicht.
Anke: Ich auch nicht. Die Jungs da vorne haben die ganze Nacht Bier getrunken und sind so oft auf dem Klo gewesen – ich möchte echt nicht wissen, wie es da drin jetzt aussieht.
Jutta: Wir sind ja gleich da. Dann gehen wir erst mal in ein Café. Trinken einen Kaffee Latte und gehen aufs Klo.
Anke: Hat denn um die Uhrzeit was auf?
Jutta: Notfalls gehen wir zu McDonald’s.
Anke: Auf dem Ticket steht, dass wir am ZOB ankommen. Ist das der Bahnhof Zoo? Zoo Berlin? Weißt du das?
Jutta: Nee, keine Ahnung. Da müssen wir mal fragen.
Anke: Ich guck mal bei wikipedia. Augenblick …
Jutta: Und?
Anke: Also ich hab hier drei Einträge. Zentraler Objektschutz Berlin. Zentraler Omnibusbahnhof. Und dann noch was Polnisches. Eine jüdische Kampforganisation im Warschauer Ghetto.
Jutta: Na, Hauptsache, wir landen nicht im Berliner Ghetto.
Anke: Hahaha! Hör auf, ich muss doch aufs Klo.
Jutta: Kannst ja mal gucken, wo der ZOB Berlin ist.
Anke: Moment … Masurenallee. Am Messegelände. Da ist dieser Funkturm in der Nähe, von dem meine Mutter erzählt hat.
Jutta: Den müssen wir aber nicht besichtigen, oder?
Anke: Nee. Das ist auch gar nicht in der Innenstadt. Aber das Brandenburger Tor und die East Side Gallery sollten wir uns schon anschauen.
Jutta: Ich will vor allem die Friedrichstraße und den Prenzlauer Berg sehen. Da soll es die geilsten Klamottenläden geben.
Anke: Du immer mit deinen Klamottenläden. Mach doch auch Zalando. Lass dir ein paar Sachen schicken und was dir gefällt, trägst du Samstagabend, wenn du weggehst. Und dann schickst du alles wieder zurück.
Jutta: Ach, das ist nicht dasselbe. Ich muss in die Läden rein, den Stoff fühlen. Das geht im Internet nicht so gut. Und wenn wir schon mal in Berlin sind ...
Anke: Die Läden machen ja erst um zehn Uhr auf. Was machen wir bis dahin?
Jutta: Wir fahren erstmal zum Potsdamer Platz. Mit der U-Bahn. Die Berliner U-Bahn soll ja echt schräg sein. Voller krasser Typen.
Anke: Um die Uhrzeit? Da gehen doch die ganzen Normalos zur Arbeit.
Jutta: Bei uns in Stuttgart vielleicht. Hier kommen sie um die Zeit aus den Clubs. Und arbeiten tut hier doch sowieso keiner.
Anke: Und wir gehen am Boxhagener Platz oder in der Kastanienallee zu Mittag essen. Da sollen die ganzen coolen Leute abhängen. Musiker und Schauspieler.
Jutta: Klar, sobald ich das erste Paar Schuhe gekauft habe.
Anke: Hey, die Sonne geht auf. Guck mal da, die ganzen Ruinen.
Jutta: Das war früher mal die Grenze. Also zwischen uns und der DDR.
Anke: Wahnsinn. Warum machen die nix mit dem Gelände?
Jutta: Ganz Berlin ist voller Ruinen. Denk doch nur mal an die Gedächtniskirche.
Anke: Da müssen wir aber nicht hin, oder? KaDeWe ist echt für Spießer.
Jutta: Ganz meine Meinung. Außerdem fährt heute Abend um zehn Uhr ja schon wieder der Bus.
Anke: Das ist echt der Hammer. Nach Berlin und zurück für neun Euro.
Jutta: Jenny und Nadine sind so blöd. Die hätten ruhig mitkommen können.
Anke: Mit denen ist halt nix los. Die bleiben lieber daheim.
Tamikrest - Toumast Anlet. https://www.youtube.com/watch?v=3XrvpNjNs3c

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