Mittwoch, 8. April 2015

Heliodoros

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber bereits in der Spätantike, im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wurden Romane geschrieben, die den heutigen Werken in nichts nachstehen. Gerade habe ich „Die Abenteuer der schönen Chariklea“ von Heliodoros gelesen, eine Abenteuerroman mit geschickt ineinander verwobenen Handlungssträngen, der uns den gesamten hellenischen Weltkreis von Libyen bis Persien, von Griechenland über Ägypten bis zum Finale der Geschichte am Königshof von Äthiopien präsentiert. Piraten und Priester, Liebende und Verdammte, Krieger, Händler und Fürsten – das ganze Personaltableau der antiken Welt in einer einzigen actiongeladenen Geschichte von knapp dreihundert Seiten feinster Prosa mit geschliffenen Dialogen, Landschafts- und Personenbeschreibungen, kurzen Erklärungen der Sitten und Gebräuche ganzer Kulturen oder einzelner Räuberbanden am Rande der Gesellschaft, Szenen in Palästen und Dörfern, Duellen und Entführungen, Schlachten und Sportwettkämpfen, Liebe und Verrat zu Lande und zu Wasser und und und. Bis ins 19. Jahrhundert fehlte dieser Roman in keiner guten Bibliothek.
„Nach dem Untergang der klassischen Welt war es ein Jahrtausend lang Lieblingslektüre der Byzantiner. Als der neu erwachende Westen das Altertum wieder entdeckte, gelangte die erste Handschrift des Werkes nach Deutschland. Bei der Plünderung von Ofen im Jahre 1526 nahm sie ein beutelustiger Soldat aus der Bibliothek des Ungarnkönigs Matthias Corvinus mit sich“, wie es im Nachwort der Ausgabe von Gustav Kiepenheuer (Berlin 1943) heißt, die ich in einem Antiquariat aufgetrieben habe. Diese Handschrift wurde gesetzt und gedruckt, Übersetzungen in viele Sprachen folgten. Cervantes und Racine, Shakespeare und Goethe haben es gelesen. „Das Erstaunlichste ist: Nichts fehlt zum wirklichen Roman, nichts, was etwa später – einundeinhalb Jahrtausend später – als der Roman die große Mode wurde, dazugekommen wäre. Kein späterer Romanschriftsteller konnte zu dem Bau dieses heute noch populärsten Typs des Schrifttums irgendetwas grundlegend Neues finden oder erfinden.“

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