Montag, 24. März 2014

Was vom Tage übrig blieb - Besuch in Heidesheim 2008

Es war einer dieser Tage, an denen man, noch betrunken vom Vortag, in bester Sauflaune aufwacht. Ich war zu Gast beim Komplizen R., einem Elite-Kampftrinker, der das Häuschen seiner verstorbenen Großeltern bewohnte, so dass mir ein ganzes – bis auf das Bett und einen Stuhl allerdings leerstehendes – Stockwerk zur Verfügung stand. Listig zog ich, da mir nichts besseres einfiel, um den Tag zu beginnen, mein Mobiltelefon aus der am Boden liegenden Jacke und wählte seine Nummer. Im Zimmer über mir hörte ich es rumoren, ein raues gekrächztes „Ja?“ war zu vernehmen. Ich schilderte ihm die Lage und alsbald kam er die Treppe hinab, noch in einen blauen Bademantel gehüllt, und hatte zwei Kilkenny-Fläschchen in seinen Händen. Und so trank ich das erste Bier des Tages, noch bevor ich überhaupt das Bett verlassen hatte. Dann begaben wir uns in den von ihm bewohnten ersten Stock, wo wir uns über ein kräftiges Frühstück mit Wurst, Käse und Eiern hermachten, nicht ohne dabei je zwei tschechische Biere zu unserer Stärkung heranzuziehen. Mit dem Verweis auf die Küchenuhr, die bereits elf Uhr anzeigte, beschied mir R., es sei nun aber wirklich Zeit für den ersten Schnaps. Alsbald wurde auch die Stereoanlage in Betrieb genommen und so zechten wir fröhlich in den Mittag hinein.
„Warum trinkst du schon am frühen Morgen?“ werdet ihr mich jetzt fragen. Meine Antwort ist ganz einfach: Der weiße Mann und seine Zivilisation haben mir meine Seele geraubt. Diese überaus kluge Entgegnung habe ich einer Fernsehreportage über die kanadischen Indianer entnommen. Ist es nicht eine großartige Ausrede? Wahrscheinlich hat zuletzt der Großvater dieses Indianers ein Zebra mit der Hand gefangen, aber er hat einen Schuldigen gefunden, einen guten Grund, schon am frühen Morgen mit einer Flasche Feuerwasser im Rinnstein seines Dorfes zu liegen.
So einigermaßen in aufgeräumte Stimmung gebracht, beschlossen wir, einen Ausflug an den nicht weit entfernten Rhein zu unternehmen. Es war gegen zwei Uhr nachmittags, ich weiß es deshalb so genau, weil ich mir vorgenommen hatte, mir an diesem Tag – im Gegensatz zum geheimnisvoll vertrunkenen Vortag - den zeitlichen Verlauf der Ereignisse einzuprägen, um später davon berichten zu können. An den eigentlichen Weg erinnere ich mich nur noch sehr ungenau, wohl weiß ich aber, dass ich einmal der Länge nach in einem Acker hinschlug und eine Weile liegen blieb, weil ich vor Lachen nicht mehr konnte. Mühsam kroch ich auf allen Vieren auf den asphaltierten Weg zurück, um endlich doch taumelnd ein kleines Bänkchen am Rheinufer zu erreichen. Hier zauberte mein Trinkgenosse vier weitere Biere aus einem Einkaufsbeutel hervor, den er die ganze Zeit mit sich geführt hatte. Ich wunderte mich, dass der Fluss hier in die falsche Richtung floss, wurde aber dahingehend beruhigt, es sei strömungsbedingt an diesem Flecken eine ganz normale Erscheinung, der Rhein fließe also keinesfalls nach Basel zurück.
„Musst du denn immer weiter trinken?“ werdet ihr jetzt fragen. Ihr werdet das Wesen des Trinkens nie verstehen. Nüchtern bist du taub, blind und leer. Mühsam, Schluck für Schluck, kämpfst du dich in das Lachen und Staunen, in das Leben selbst zurück. Der Rückweg war eigentlich eine Trainingseinheit. Wenn die "800 Meter freihändig Torkeln der Männer" endlich olympisch werden, bin ich ganz vorne mit dabei. Notfalls mache ich auch beim Synchron-Abhängen in meiner Paradedisziplin "Extrem-Couching" mit. Zurück im Knusperhäuschen stellten wir fest, daß wir von der Wanderung, besser: vom vielen Herumtorkeln, Hunger bekommen hatten. Mein Komplize rief gegen halb fünf den örtlichen Pizzaservice an, der aber erst ab fünf offiziell geöffnet hatte, woraufhin er den Italiener als „schwule Sau“ usw. beschimpfte. Die von einem sichtlich verängstigten Boten ausgelieferten Pizzas wurde ordnungsgemäß bezahlt, R. rollte seine Quattro Stagioni wie eine Zigarre oder einen Teppich zusammen und verschlang sie binnen kürzester Frist.
Gegen sieben Uhr abends lag ich wieder in meinem Bett, als der Komplize R. – inzwischen wieder in seinen unvermeidlichen Bademantel gehüllt – noch einmal hinunter kam, um mir ein letztes Bier zu reichen. Ich sah wie in einer Vision durch ihn hindurch und dort saß nun tatsächlich Wenedikt Jerofejew, der große russische Poet des Saufens, auf einer Bank und ermunterte mich: „Trink nur, trink die Flasche aus! Ich bin bei dir alle Tage.“ So trank ich und ich lächelte, während ich trank, und niemand wusste, dass ich in diesem Augenblick dem großen Dichterfürsten zulächelte. Er zwinkerte zurück und trank selbst einen Schluck. Und so war auch dieser Tag glücklich vollendet. Was wollte ich jetzt eigentlich erzählen? Na, egal. Hauptsache, wir haben darüber gesprochen.

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