Freitag, 6. März 2009
Vorstudie zu einer Phänomenologie des Umzugs
Der studentische, post-studentische oder pseudo-studentische Umzug bietet einen schönen Überblick zum Thema selbstorganisiertes Arbeiten bzw. Praxis der Arbeitsorganisation im Allgemeinen und zu einer Typologie des Arbeitnehmers, womit er natürlich weit über den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung hinaus weist.
Da gibt es zunächst den Umziehenden, der für den Arbeitsanlaß sorgt, der naturgemäß das größte Interesse an einem erfolgreichen Abschluß der Arbeit hegt und der die Rahmenbedingungen des Umzugs wie Leistungsumfang, Zeitpunkt, Transportmöglichkeiten, Grundversorgung der Beschäftigten usw. setzt. Gerade die letztgenannte Grundversorgung wird im übrigen gleich zu Beginn von den Umzugsgehilfen lautstark eingefordert. Werden nur in unzureichendem Maße kaltes Bier und belegte Brötchen zur Verfügung gestellt, gerät die Arbeit schnell ins Stocken.
Wenn sie denn erst einmal begonnen hat. Ist als Arbeitsbeginn beispielsweise 14 Uhr angegeben, finden sich zu dieser Uhrzeit nur Novizen und tumbe Gesellen tatsächlich am Arbeitsort ein. Erfahrene Helfer verfahren bei der Planung ihres Erscheinungszeitpunktes wie bei einer Party: Man taxiert anhand eigener Erfahrungen und der Einschätzung der aktuellen Situation, wann der Höhepunkt des Ereignisses – also die maximale Anzahl Anwesender und die beste Stimmung – erreicht sein wird und erscheint genau zu dieser Zeit. Dies ist im Regelfall ein oder zwei Stunden vor Ende des Umzugs/der Party. In unserem Beispiel kann man für den Umzug vier Stunden bei voller Besetzung rechnen. Hierbei ist schon berücksichtigt, daß zu Beginn und am Ende des Arbeitsvorgangs niemals die volle Anzahl der erwarteten Helfer anwesend sind. Dazu aber später mehr. Dauert der Umzug also von 14 bis 18 Uhr, so empfiehlt sich ein Erscheinen zwischen 16 und 17 Uhr. Alles andere, also jeder frühere Zeitpunkt, wird mit einem überproportionalen Arbeitsanteil, Langeweile und der Teilhabe an den organisatorischen Problemen bestraft, die jeden Projektbeginn kennzeichnen. Wer dann kommt, wenn die maximale Anzahl von Beschäftigten anwesend ist, wird mit einem vergleichsweise geringen Arbeitsanteil und der Teilnahme an einer funktionierenden, bereits teilroutinisierten Arbeitsorganisation belohnt.
Es ist im übrigen nicht so, daß bei der maximalen Teilnehmerzahl die meiste Arbeit verrichtet wird. Erfahrungsgemäß werden zu diesem Zeitpunkt das meiste Bier getrunken und die letzten Brötchen verzehrt. Die große Anzahl der Helfer führt zu einer Auflösung jeglichen Verantwortungsgefühls und aller Solidarität, mancher vergißt im angeregten Gespräch mit Kollegen sogar den eigentlichen Anlaß seiner Anwesenheit. Dieses Phänomen läßt sich immer bei großen Menschenansammlungen beobachten, ob es sich um Hilfe bei einem Straßenraub, um einen Autounfall oder eben um die Arbeit handelt: Je mehr Personen beteiligt sind, um so weniger fühlt sich die einzelne Person beteiligt – bis zum Zustand völligen Teilnahmslosigkeit. In Wirklichkeit belauern sich alle Anwesenden natürlich ständig. Wer sich zu früh bewegt, hat verloren und büßt Sozialprestige ein. Es gilt den geheimnisvollen Augenblick zu erwischen, an dem die Arbeitsgruppenmitglieder plötzlich, wie ein auffliegender Vogelschwarm, die Flaschen abstellen und für wenige Minuten in scheinbare Aktivität verfallen. Wer dann nicht mitmacht, gilt schnell als Sozialschwein und muß strategische Nachteile bei der anschließenden Bierverteilung befürchten. In diesen Zustand taucht der Umzugsprofi ein, der kurz vor fünf erscheint und gleich zielstrebig den Kühlschrank ansteuert.
All dies muß der erfahrene Umzieher wissen, bei der Planung des Arbeitsbeginns, bei der Vergabe seiner Biervorräte und bei der Rekrutierung von Personal. Ähnlich wie in einem Hochschulseminar gibt es nämlich im Vergleich zu den Anmeldungen bzw. zu den mündlichen oder zumindest fernmündlichen Zusagen einer Teilnahme beträchtliche Abweichungen: Einige kommen später und bleiben bis zum Ende, einige kommen früher und gehen bald wieder, einige kommen einfach gar nicht. Ihnen allen ist gemein, daß sie eine Ausrede haben. Blühende Prosa bekommt man von den vollständig Ferngebliebenen geboten, hier werden dem Hörer – analog zum bekannten Jägerlatein oder Seemannsgarn – phantastische Erzählungen aus vollen Fässern gezapft. Kleine und große Katastrophen werden bemüht, Krankheit oder Tod von nahestehenden Menschen oder doch zumindest Haustieren vorgetäuscht, alte Sport- oder Kriegsverletzungen wortreich umschrieben. Genug. Davon wollen wir schweigen. Interessanter sind ohnehin die kleinen Ausreden der teilweise Beteiligten.
Wer einen Umzug organisiert, kann ihnen jedoch ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen und einige dieser Ausreden in seiner Planung antizipieren: Am Wochenende gilt es die Zeitpunkte von Sportübertragungen, Weinfesten, Parties usw. zu berücksichtigen, insbesondere den Arbeitsbeginn sollte man nicht zu früh ansetzen. Der wahre Profi wird jedoch durch die terminlichen Rücksichtnahmen nicht zu beeindrucken sein, er steht im Stau, verschläft gerne, hat einen alten Freund getroffen oder muß noch dringend das Auto der Freundin reparieren. Nur der Novize oder der Trottel sind während des ganzen Umzugs anwesend. Tröstlich ist zumindest für den aufmerksamen Novizen, daß er mit jedem Umzug lernt und seinen Arbeitsanteil im Laufe der Jahre verringert. Wie überall im Berufsleben arbeiten die Anfänger eben mehr als die älteren, erfahrenen Kollegen. Ein Sonderfall des Umzugs-Profis ist, nebenbei bemerkt, der Standby-Helfer. Dieses Phänomen läßt sich allerdings nur in Kombination mit dem Organisations-Novizen beobachten, erfahrene Umziehende ziehen diese Variante erst gar nicht in Betracht. Der Standby-Helfer verspricht auszuhelfen, wenn die Anzahl der tatsächlich zum Umzug Erschienenen nicht ausreichend sein sollte und geht am betreffenden Tag einfach nicht ans Telefon.
Wie man es aber auch dreht und wendet: Die Arbeitsorganisation ist immer suboptimal. Normalerweise ist der Umziehende von der Organisation der Gruppe schnell überfordert und setzt die vorhandenen Kräfte falsch ein. Dann erweist sich das Personal als grundsätzlich widerständig. Sie erhalten ihren kargen Lohn in Form von Bier und Brötchen, die naturgemäß nur knapp vorhanden und daher unverzüglich verbraucht werden müssen. Wer wartet, bekommt einen zu geringen Lohn. Gerade das Bier ist schnell alle. Wer ißt und trinkt, kann aber nicht gleichzeitig arbeiten. Wer arbeitet, kann nicht essen und trinken. Ein Teufelskreis. Die richtige Menge Bier bereitzustellen, um zwischen Panik erzeugender Knappheit und Arbeitsmoral zersetzender Trunkenheit odysseusgleich hindurch zu steuern, ist eine fast unmögliche Kalkulation. Auf diese Weise organisiert sich die Arbeit gleichsam naturwüchsig, also chaotisch. Niemand – vielleicht bis auf ein paar Anfänger und Idioten – ruft sein Leistungsvermögen auch nur annähernd ab, weswegen der ganze Umzug immer länger dauert als geplant. Jedenfalls ist vor seinem Ende das Bier alle.
Zusammenfassend ist also die Beauftragung einer Umzugsfirma oder ganz grundsätzlich die Anmietung möblierter Zimmer zu empfehlen. Denn die Möbelpacker bringen wenigstens ihr eigenes Bier mit – und viel billiger ist letztlich der selbständig organisierte Umzug auch nicht, stellt man den angemieteten Lkw, Bier/Brötchen und die Verluste an Geschirr, Schallplatten usw. in Rechnung, die von unwilligen Helfern absichtlich zerstört werden und die überhaupt nur da sind, weil sie wissen, daß sie eines fernen Tages auch mal wieder umziehen müssen.
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