„Es
ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte in einer
Geschichte, die mehr oder weniger die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte
lag.“ (Frank Schirrmacher über „Der Bau“).
Ausgerechnet im Urlaub erwischte
mich die Seuche, erwischte mich die totale Ausgangssperre. Ich war in einer
kleinen Pension in Bergamo. Ich kam abends mit dem Zug an, aß in einem
Restaurant Steinpilze mit Polenta und ging anschließend zu meiner Unterkunft.
Die berühmte Altstadt wollte ich am nächsten Tag besuchen. Aber dann kam die
Ausgangssperre. Im Speisesaal wurde sie beim Frühstück auf Italienisch und
Englisch verkündet.
Ich ging zurück auf mein Zimmer
und las die Nachrichten. Nach einer Stunde legte ich mein Handy weg und starrte
gegen die Wand. Konnte es wahr sein? Niemand auf der Welt sollte in den
nächsten Tagen das Haus verlassen und den Kontakt zu anderen Menschen meiden. Immerhin
war die Pension so kulant, uns ein Mittagessen zu servieren, obwohl man nur
Übernachtung mit Frühstück buchen konnte. Es gab Spaghetti mit Tomatensoße. Den
Nachmittag und den Abend verbrachte ich mit Sightseeing auf meinem Handy.
Schließlich gab es genug Material über Bergamo. So verging der erste Tag.
Am zweiten Tag gab es wieder
Spaghetti mit Tomatensoße. Zum Frühstück und zum Mittagessen. Würden wir
hungern müssen? Ich saß allein an meinem Tisch und sprach den Franzosen am
Nachbartisch an. Er konnte Englisch, alle anderen sprachen Italienisch. Ein
langweiliger Bankangestellter mit einem Gesicht, das im Profil wie ein Vogel
aussah. Gewaltige Nase und praktisch ohne Kinn. Die fatale Kombination von
Haarausfall und Schuppen. Er hatte mit dem Geschäftsführer gesprochen. Unsere
Lage war aussichtslos, wir waren Gefangene. In meinem Zimmer fiel mir auf, dass
ich weder Papier noch Stifte hatte. Was wäre, wenn ich jetzt einen genialen
Einfall hätte? Ich schickte probehalber eine Mail an mich selbst. Das ging.
Aber mir fiel ohnehin nichts ein.
Am dritten Tag gab es im
Internet kein Fernsehen und keine Online-Plattformen mehr. Alle waren zuhause. Eine
komplette Gesellschaft im Homeoffice funktioniert nicht. Ich wunderte mich, wie
wir überhaupt zu zwei Mahlzeiten am Tag kamen. Ich sprach mit dem Franzosen, er
sprach mit dem Rezeptionisten. Offenbar hatte das Hotel eine Notreserve an
Pasta und Tomatenmark angelegt. Fleisch, Fisch, Gemüse oder Obst würde es für
lange Zeit nicht mehr geben. Also nur noch Spaghetti mit Tomatensoße,
irgendwann nur noch Spaghetti und dann gar nichts mehr. Die Ausgangssperre
würde nicht ewig funktionieren, das war uns allen klar. Es würde der Tag
kommen, wo du dich zwischen Seuche und Hungertod entscheiden musst. Dann hätten
auch Polizei und Militär keine Macht mehr über die Menschen. Schließlich wären
die Menschen mit Waffen in derselben Situation wie die Menschen ohne Waffen.
Ich rief einen Freund in Berlin an. Er erzählte, die Straßen seien wie ausgestorben,
es sei, als lebte man auf dem Dorf. Er selbst beobachtete alles nur durch die
geschlossenen Fenster seiner Wohnung in der Schloßstraße in Steglitz.
Ich lese in einer
Online-Bibliothek das Decamerone. Giovanni Boccaccio beschreibt in seiner
Novellensammlung aus dem 14. Jahrhundert die Situation, in der zehn Menschen,
die auf einen Landsitz geflüchtet sind, weil im nahen Florenz die Pest wütet,
in völliger Isolation leben und sich gegenseitig Geschichten erzählen. Immerhin
haben sie eine gutgefüllte Speisekammer und der Weinkeller scheint
unerschöpflich. Wir suchen alle Trost im Alkohol. Ich kaufe drei Flaschen Wein pro
Tag, zum Glück kann man noch mit Karte bezahlen.
Am zehnten Tag laufen wir alle
manisch durch die Flure. Wir müssen uns bewegen. Aber wir reden nicht mehr, wir
sind gereizt. Wir sehen uns auch nicht in die Augen. Wenn jetzt einer von uns
die Nerven verliert, ist alles vorbei. Wir haben keinen Alkohol mehr, das macht
die Lage nicht leichter. Mir tut das Personal leid. Sie telefonieren mit ihren
Familien, die nicht weit entfernt sind, die sie aber trotzdem nicht sehen
können. Ich habe keine Familie. Wer hätte gedacht, dass es einmal eine
Erleichterung sein würde, ein Einzelgänger zu sein. Ich komme mit der Isolation
gut zurecht. In Deutschland lebe ich im Prinzip genauso.
Am dreißigsten Tag ist alles
vorbei. Das Virus tötet nur Millionäre und Milliardäre. Ha ha. Kleiner Scherz. Die
ganze Aktion ist ein Fake, um nach Wiedereröffnung der Börse mit Puts auf die
gefallenen Aktienkurse die Mörderkohle abzusahnen. Auch jetzt gibt es keinen
Aufstand, sondern nur ein resigniertes Achselzucken.
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