Dienstag, 10. Dezember 2024

Der Bau

 

„Es ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, die mehr oder weniger die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte lag.“ (Frank Schirrmacher über „Der Bau“).

Ausgerechnet im Urlaub erwischte mich die Seuche, erwischte mich die totale Ausgangssperre. Ich war in einer kleinen Pension in Bergamo. Ich kam abends mit dem Zug an, aß in einem Restaurant Steinpilze mit Polenta und ging anschließend zu meiner Unterkunft. Die berühmte Altstadt wollte ich am nächsten Tag besuchen. Aber dann kam die Ausgangssperre. Im Speisesaal wurde sie beim Frühstück auf Italienisch und Englisch verkündet.

Ich ging zurück auf mein Zimmer und las die Nachrichten. Nach einer Stunde legte ich mein Handy weg und starrte gegen die Wand. Konnte es wahr sein? Niemand auf der Welt sollte in den nächsten Tagen das Haus verlassen und den Kontakt zu anderen Menschen meiden. Immerhin war die Pension so kulant, uns ein Mittagessen zu servieren, obwohl man nur Übernachtung mit Frühstück buchen konnte. Es gab Spaghetti mit Tomatensoße. Den Nachmittag und den Abend verbrachte ich mit Sightseeing auf meinem Handy. Schließlich gab es genug Material über Bergamo. So verging der erste Tag.

Am zweiten Tag gab es wieder Spaghetti mit Tomatensoße. Zum Frühstück und zum Mittagessen. Würden wir hungern müssen? Ich saß allein an meinem Tisch und sprach den Franzosen am Nachbartisch an. Er konnte Englisch, alle anderen sprachen Italienisch. Ein langweiliger Bankangestellter mit einem Gesicht, das im Profil wie ein Vogel aussah. Gewaltige Nase und praktisch ohne Kinn. Die fatale Kombination von Haarausfall und Schuppen. Er hatte mit dem Geschäftsführer gesprochen. Unsere Lage war aussichtslos, wir waren Gefangene. In meinem Zimmer fiel mir auf, dass ich weder Papier noch Stifte hatte. Was wäre, wenn ich jetzt einen genialen Einfall hätte? Ich schickte probehalber eine Mail an mich selbst. Das ging. Aber mir fiel ohnehin nichts ein.

Am dritten Tag gab es im Internet kein Fernsehen und keine Online-Plattformen mehr. Alle waren zuhause. Eine komplette Gesellschaft im Homeoffice funktioniert nicht. Ich wunderte mich, wie wir überhaupt zu zwei Mahlzeiten am Tag kamen. Ich sprach mit dem Franzosen, er sprach mit dem Rezeptionisten. Offenbar hatte das Hotel eine Notreserve an Pasta und Tomatenmark angelegt. Fleisch, Fisch, Gemüse oder Obst würde es für lange Zeit nicht mehr geben. Also nur noch Spaghetti mit Tomatensoße, irgendwann nur noch Spaghetti und dann gar nichts mehr. Die Ausgangssperre würde nicht ewig funktionieren, das war uns allen klar. Es würde der Tag kommen, wo du dich zwischen Seuche und Hungertod entscheiden musst. Dann hätten auch Polizei und Militär keine Macht mehr über die Menschen. Schließlich wären die Menschen mit Waffen in derselben Situation wie die Menschen ohne Waffen. Ich rief einen Freund in Berlin an. Er erzählte, die Straßen seien wie ausgestorben, es sei, als lebte man auf dem Dorf. Er selbst beobachtete alles nur durch die geschlossenen Fenster seiner Wohnung in der Schloßstraße in Steglitz.

Ich lese in einer Online-Bibliothek das Decamerone. Giovanni Boccaccio beschreibt in seiner Novellensammlung aus dem 14. Jahrhundert die Situation, in der zehn Menschen, die auf einen Landsitz geflüchtet sind, weil im nahen Florenz die Pest wütet, in völliger Isolation leben und sich gegenseitig Geschichten erzählen. Immerhin haben sie eine gutgefüllte Speisekammer und der Weinkeller scheint unerschöpflich. Wir suchen alle Trost im Alkohol. Ich kaufe drei Flaschen Wein pro Tag, zum Glück kann man noch mit Karte bezahlen.

Am zehnten Tag laufen wir alle manisch durch die Flure. Wir müssen uns bewegen. Aber wir reden nicht mehr, wir sind gereizt. Wir sehen uns auch nicht in die Augen. Wenn jetzt einer von uns die Nerven verliert, ist alles vorbei. Wir haben keinen Alkohol mehr, das macht die Lage nicht leichter. Mir tut das Personal leid. Sie telefonieren mit ihren Familien, die nicht weit entfernt sind, die sie aber trotzdem nicht sehen können. Ich habe keine Familie. Wer hätte gedacht, dass es einmal eine Erleichterung sein würde, ein Einzelgänger zu sein. Ich komme mit der Isolation gut zurecht. In Deutschland lebe ich im Prinzip genauso.

Am dreißigsten Tag ist alles vorbei. Das Virus tötet nur Millionäre und Milliardäre. Ha ha. Kleiner Scherz. Die ganze Aktion ist ein Fake, um nach Wiedereröffnung der Börse mit Puts auf die gefallenen Aktienkurse die Mörderkohle abzusahnen. Auch jetzt gibt es keinen Aufstand, sondern nur ein resigniertes Achselzucken.

 

 

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