Sonntag, 12. Oktober 2025

Die Puppe


Ich hatte für ein paar Tage eine Wohnung in der Prager Josefstadt gebucht. Zwei helle große Zimmer, Küche, Bad. Tagsüber flanierte ich durch die Innenstadt, die ich von früheren Reisen gut kannte. Vierzig Jahre zuvor war ich zum ersten Mal hier gewesen, damals auf den Spuren Kafkas.

Eines Abends, ich kam nach Gulasch, Knödeln und fünf Gläsern des hervorragenden Biers in die Wohnung zurück, beschloss ich, einen Blick in die Abstellkammer am Ende des Flurs zu werfen. Vielleicht gab es hier noch Wein oder Schnaps? Ich öffnete die Tür und war überrascht. Der Raum war schmal, schien aber sehr lang zu sein, denn sein Ende verlor sich in der Dunkelheit.

Es gab keinen Lichtschalter, als ging ich ein paar Schritte hinein und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. An der rechten Wand befanden sich schlichte hölzerne Regale mit verstaubten Kisten, einer alten Schreibmaschine, Werkzeug und Einmachgläsern.

Ich ging etwas weiter und sah eine große Puppe, die im Regal saß. Offenbar eine Bauchrednerpuppe, denn sie hatte grotesk übertriebene Gesichtszüge, einen knallroten Mund und Augen ohne aufgemalte Pupillen. Ich hörte ein leises Wispern und konzentrierte mich auf den Klang. Waren es Worte?

„Komm näher“, flüsterte sie.

Ich ging tiefer in die Kammer hinein.

„Komm näher“, flüsterte sie.

Ich stellte mich vor sie. Nun konnte ich den gestickten Namen auf ihrem Kleid lesen. Loreley. Ein merkwürdiger Name für eine Puppe.

„Komm näher“, flüsterte sie.

Ich beugte den Kopf nach vorne und blickte direkt in ihre toten Augen.   

Plötzlich hatte ich das Gefühl, hinter mir sei etwas Unheimliches, doch ich hatte Angst, mich umzudrehen.

„Komm näher“, flüsterte sie.

Aber ich zögerte.

Da fiel die Tür zu und ich war in der Finsternis gefangen.

Einen Augenblick später erwachte ich schreiend in meinem Bett.

Das war das letzte Mal, dass ich eine Airbnb-Wohnung gebucht habe.

 

2 Kommentare:

  1. Prag ist immer eine Reise wert und dieses nicht nur wegen des exzellenten Bieres. Ein motorisierter Besucher kann dort mal sehr schnell sein Konto um einige Hundert Euro erleichtern. Bei uns piepte der Blitzerwarner an nahezu jeder Straßenkreuzung. Wer da noch die Puppen nicht nur sprechen, sondern tanzen lassen möchte, sollte die Öffentlichen nutzen. Schönen Sonntag!

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    1. Danke, dir auch. Ich war 8 x da, 3 x vor dem Mauerfall. Damals waren Reisen hinter den eisernen Vorhang noch aufregend - und extrem günstig.

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