Sonntag, 26. Oktober 2025

Die Schläferzelle II

 

Es hat die ganze Nacht geregnet. Als die Dämmerung bleigrau anbricht, setzt er sich auf die Holzbank auf seiner schmalen Veranda und blickt ins Tal. Undurchdringlicher Nebel zieht auf und verschluckt das Dorf, schließlich auch die Kirchturmspitze. Er hat das Gefühl, aus einem Flugzeug über die Wolken zu blicken.

Um sieben Uhr steht er auf und geht auf einem Feldweg durch den tropfnassen Wald ins Dorf hinunter. Auf dem Bahnsteig sieht er wie an jedem Werktag die vier Menschen, die auch nach Winterthur zur Arbeit fahren. Etwas abseits steht ein Fremder, den er noch nie gesehen hat.

Der Zug kommt pünktlich. Er setzt sich an seinen üblichen Platz am Fenster des mittleren Wagens. Seit zwanzig Jahren das gleiche Ritual. An dieser Station sind die Pendlerzüge noch fast leer, die Fahrt in die Stadt dauert eine halbe Stunde. Der Fremde setzt sich auf die andere Seite, eine Reihe hinter ihm.

Als sie in Winterthur ankommen, geht er zu seiner Bushaltestelle. Es gibt auf dem Bahnhofsplatz zehn Bushaltestellen, mehr als vor dem Berliner Hauptbahnhof. Er steht an der Haltestelle H, wo er auf den Bus 670 wartet. Der Fremde ist nur wenige Schritte von ihm entfernt und betrachtet die Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes, in dem eine Postfiliale untergebracht ist.

Der Bus kommt, er zeigt dem Fahrer seine Monatskarte und setzt sich in die letzte Reihe. Er will niemanden hinter sich haben, weil er misstrauisch geworden ist. Der Fremde steigt als Letzter ein und geht durch den ganzen Bus nach hinten. Er ist um die sechzig, sein eisengraues Haar ist dünn und liegt auf seinem breiten Schädel wie eine Kappe. Der Mann trägt einen dunkelblauen Stoffmantel und einen braunen Schal.

Er betrachtet ihn aufmerksam, als er immer näherkommt. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht erinnern ihn an den späten Lee Marvin. Der Fremde setzt sich ebenfalls in die letzte Reihe, aber auf die andere Seite, und sieht mit ausdruckslosem Gesicht aus dem Fenster. Haltestelle folgt auf Haltestelle. Bald wird er in der Stadtverwaltung sein, das Büro erscheint ihm plötzlich als der sicherste Ort der Welt.

Der Fremde dreht seinen Kopf zu ihm. „Heute ist der Tag.“

„Was?“

„Sie werden aktiviert.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie werden heute nicht ins Büro gehen. Sie fahren nach Zürich und fliegen von dort nach Budapest.“

„Was soll ich denn da?“

„Ihren Auftrag entgegennehmen. Ich kenne den Inhalt nicht. Hier sind die Flugtickets und der Ausweis mit Ihrer neuen Identität.“

„Sie sind doch völlig wahnsinnig.“

„Ich nenne Ihnen jetzt den Aktivierungscode. Bonetti Blau Zikade.“

„Muss Elon Musk töten. Muss Elon Musk töten.“

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