Freitag, 24. Oktober 2025

Welches Bild haben wir von der Stadt?

 

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Wenn ich an Einsamkeit denke, habe ich ein Bild im Kopf. Es war 1995 und wir waren sechs Wochen in Brasilien unterwegs. Bei einer Busfahrt im Hinterland, in der Chapada Diamantina, sehe ich ein kleines Haus, nicht mehr als ein Raum, kein Keller, kein erster Stock, kleiner als die Häuser, die Kinder in Deutschland malen. Rundherum, im Umkreis von vielen Kilometern, kein anderes Haus. Davor sitzen ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Die Kinder winken dem Bus zu. Ich winke zurück. Kein Strom, also auch kein Kühlschrank, kein Fernseher, keine Waschmaschine, keine Klimaanlage. Woher bekommen sie in dieser staubtrockenen Einöde ihr Wasser? Sie sitzen einfach da. Auf der Straße vor uns ist kein einziges Fahrzeug zu sehen. Das ist Einsamkeit.

Mein Flehen wurde erhöht. Es gibt Bananeneis. Ben & Jerry’s „Oh My! Banoffee Pie!”

In den Achtzigern war ich regelmäßig auf der Frankfurter Buchmesse. Einmal nahm ich einen Freund und dessen Vater mit, beide hatten keinen Führerschein. Der Vater war Kulturredakteur beim ZDF und Erfinder des längst vergessenen „Kleinen Fernsehspiels“. Es war merkwürdig, diesen distinguierten älteren Herrn in meiner schäbigen Studentenrostlaube sitzen zu haben, der freundlich, aber bestimmt zu mir sagte, ich solle auf der Fahrt die Musik ausstellen. Er hat sich wahrscheinlich auf der Messe mit Autoren getroffen, während ich nur Prospekte und Freiexemplare (es war der letzte Tag, nur für Fachpublikum, zu dem der Redakteur und seine Entourage gehörten) in meine Plastiktüte stopfte. Heute würde ich das Geld für Sprit und Eintrittskarte direkt in Bücher investieren. Gerade habe ich den neuen Roman von Bodo Kirchhoff gelesen, ein Geburtstagsgeschenk, aktuell lese ich Mick Herrons „Slow Horses“, ein Tipp vom Kollegen Kurbjuhn.   

Es gibt italienische Städte, von denen wir erwarten, dass sie schön sind. Venedig, Florenz, Rom. Aber es gibt Städte, deren Namen in Deutschland unbekannt sind und uns mit ihrer Schönheit überraschen. Die Altstadt von Bergamo auf einem Felsvorsprung. Mit einer uralten Zahnradbahn fährt man hinunter in die belanglose Neustadt. Einer meiner Lieblingsautoren, Eckard Henscheid, lässt in dieser Altstadt einen ganzen Roman spielen: „Dolce Madonna Bionda“. Der Erzähler verliebt sich in eine fremde Frau und versucht, sie wiederzusehen. Abends sitzt er im Restaurant „Zum goldenen Lamm“ und hält Ausschau nach ihr. Oder Mantua. Die Altstadt ist von kleinen Seen umgeben. Über einen Damm fährt man auf die Stadt zu und hat den Eindruck, die letzten fünfhundert Jahre hätten gar nicht stattgefunden. Trifft man hier noch die Medici oder Michelangelo auf der Straße? Ein winziges Nuvolari-Museum. Der vielleicht beste Rennfahrer der Vorkriegszeit trat mit unterlegenem Material in den 1930ern gegen Mercedes an. Damals hatte man immer einen Mechaniker auf dem Beifahrersitz. Es heißt, bei einem Rennen hätte Nuvolaris Beifahrer während des gesamten Rennens vor Angst geschrien. Nuvolari hat bei seinen halsbrecherischen Fahrten den Tod einfach ignoriert. Massa Maritima. Keine große Diva, aber eine kleine Perle. Wie eine Frau, deren Schönheit man erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt.  

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