Sonntag, 5. Oktober 2025

Zeit ist Geld

 

Im Nachhinein war mir klar, dass die Sache mit Renate ein großer Fehler gewesen ist. Aber die großen Fehler erkennt man immer zu spät, während einem die kleinen Fehler sofort auffallen.

Wir arbeiteten im selben Großraumbüro. Sie ist mir gleich aufgefallen. Die schmale gerade Nase, die eleganten kleinen Ohren, die grünen, leicht schrägen Katzenaugen. Sie sah aus wie die junge Sophia Loren, aber mit kurzen Haaren und Jeans, die ihrem süßen Hintern die verdiente Geltung verschafften.

Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich den Mut hatte, mich in der Kantine an ihren Tisch zu setzen. Ich hatte, zum Erstaunen der adipösen Walküre an der Essensausgabe, die Gemüseplatte gewählt, obwohl Currywurst-Tag war. Über die unverbindlichen Themen Druckerstau, Übergangsjacken und Drohnenkrieg kamen wir schnell ins Gespräch. Vier Wochen später gingen wir zum ersten Mal zusammen essen. Wir bestellten uns Quiche und Rotwein und am Ende dieses wundervollen Abends stand ich in hellen Flammen.

Kurz und (damals noch) gut: Renate und ich wurden ein Paar. Sie erzählte mir eines Tages von ihrem großen Traum, eine Karibik-Kreuzfahrt zu machen. Damals habe ich ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, aber dafür hatte ich kein Geld. Die Bank lehnte meinen Kreditantrag ab, also fragte ich einen Freund, wie man an 10.000 Euro herankäme. Er gab mir die Adresse von Don Alfredo di Mare e Monti.

Der Don war ein steinalter Grandseigneur, der im Hinterzimmer des Hinterzimmers einer Trattoria namens Tempi Passati residierte. Ich schilderte ihm mein Problem und er fragte mich, wie lange ich brauchen würde, um den Kredit abzubezahlen. Ich sagte, ein Jahr würde genügen, vielleicht auch zwei. Er sah mich lange prüfend an und antwortete, für zwei Jahre meiner Zeit würde er mir das Geld schenken. Ich begriff nicht, was er eigentlich meinte, willigte jedoch sofort ein.

Die Kreuzfahrt war wunderbar. Außenkabine mit großem Panoramafenster und Balkon, Fünf-Gänge-Menüs am Tisch des Kapitäns. Danach zog Renate zu mir in meine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Moabit. Jeden Morgen fuhren wir mit der U-Bahn zur Arbeit. Es wäre doch schön, ein Auto zu haben, sagte Renate eines Nachts. Also ging ich wieder zum Don. Für zehn Jahre meiner Lebenszeit bekam ich ein Porsche-Cabrio, mit dem Renate und ich an Côte d’Azur fuhren.

Renate wurde schwanger. Wir heirateten und beschlossen, aus der engen Wohnung in ein Haus am Stadtrand zu ziehen. Also ging ich wieder zum Don. Wie lange ich für ein Haus arbeiten müsste, fragte er mich. Dreißig Jahre, sagte ich leichthin. Ich verdiente immer noch nicht viel und Renate würde mit dem Kind zuhause bleiben. Er nickte und bald darauf zogen wir in ein schönes neues Haus in Steglitz.

Als Renate mich am Tag des Einzugs sah, erschrak sie. Sie sah mich fassungslos an und begann zu weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel. Mein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht und mein Haar war schlohweiß. Ich war erschöpft und setzte mich auf den Rand der Badewanne. Es half nichts, der Don musste mir wieder helfen.

Als ich sein Hinterzimmer betrat, war er völlig verändert. Er hatte volles schwarzes Haar und federte aus seinem Sessel, als er mich begrüßte. Ich schätzte ihn auf vierzig Jahre, nicht mehr. Ich fragte ihn, wie ich meine Jugend zurückbekäme. Er lachte nur. So viele Jahre könnte ich ihm nicht bieten. Ich ging hinaus, verlor meinen Job und Renate, das Haus wurde ihr nach der Scheidung zugesprochen und ich lebe seitdem in einem Obdachlosenheim.

 

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