Samstag, 6. Mai 2023

Ost-Berlin

 

Niemand weiß, wie die Dominosteine fallen. Aber ich kannte Katharina und sie kannte Heike. Heike gehörte zu den Frauen, die aus der DDR „ausgeheiratet“ worden sind. Sie kannten sich aus Köln. Nach dem Mauerfall sind beide nach Berlin gezogen. Katharina nach West-Berlin, SO 36, Heike nach Mitte, in die Schlegelstraße, nicht weit von der Invalidenstraße entfernt. Sie arbeitete als Kellnerin und gab gelegentlich Partys, zu denen neben ihren alten Freundinnen und Freunden aus DDR-Zeiten als einzige Wessis Katharina und ich eingeladen waren.

Ich kann mich noch daran erinnern, wie normal die Leute aussahen. Niemand hatte sich für diese Abende in Schale geworfen, keiner hatte eine auffällige Frisur. Keine gespielte Coolness, keine Arroganz, keine Fassade wie bei den zugereisten Wessis. Es gab auch nicht den obligatorischen Nudelsalat, den ich aus meiner alten Heimat kannte, sondern Fischeier, eine ganze Ochsenzunge (die unglaublich lang ist) und vor allem jede Menge Schnaps. Hier lernte ich auch A. und O. kennen (ich will mir jetzt keinen Maik oder Ronny ausdenken), die mich in den folgenden Monaten und Jahren als Eingeborene, als Zonen-Yanomami, in ihre Welt einführten.

Der Spitzname von A. war eigentlich Charly und bezog sich auf seinen Nachnamen. Er hatte in der Sowjetunion in Physik promoviert und war nach der Wende an eine kanadische Universität gegangen. In Deutschland bekam er keine feste Stelle und beschloss, für eine US-Consulting-Firma zu arbeiten. Fortan war er in westdeutschen Konzernen unterwegs, über die er sich in Berlin gerne lustig machte, weil ihre Bürokratie genauso schlimm wie in den verschwundenen VEB war. O. war Steuerberater, mit einer Russin verheiratet und hatte zwei kleine Kinder.

Charly lebte in Lichtenberg, im tiefsten Osten. Seine Wohnung erinnerte mich an die Wohnungen meiner Großeltern. Alte Schränke aus dunklem Holz, abgewetzte Sitzgarnituren aus grauer Vorzeit. Kein IKEA, keine Poster, keine Kunst an den Wänden. Eine angenehm unmoderne Atmosphäre. O. wohnte in der schon zu Ostzeiten sanierten Husemannstraße am Kollwitzplatz. Wir trafen uns immer in irgendwelchen Kneipen oder bei Charly. O. hatte keine sturmfreie Bude und zu mir in den Westen der Stadt wollten die beiden nie. Wir waren kein einziges Mal in Kreuzberg oder am Ku’damm. Aber das war okay, schließlich kannte ich West-Berlin, wo ich meine westdeutschen Freunde hatte, die alle, wie ich, am Rhein gelebt hatten.

Im Prenzlauer Berg gab es damals eine russische Kneipe, in der man auf einem ovalen, verchromten Tablett Sto Gram Wodka (0,1 l) im Wasserglas, Speck, Schwarzbrot und Gewürzgurke bekam. Wir haben dort nie etwas anderes getrunken. Bier wurde im Osten ohnehin nur als Durstlöscher oder zum Essen getrunken, am Abend musste es Schnaps sein, vorzugsweise russischer und polnischer Wodka. In Hinterhöfen gab es Lokale, die keinen Namen und keine Schanklizenz hatten. Man musste nur wissen, an welche Tür man klopfen musste. Die Jungs wussten es. Oft waren die Bars schon nach ein paar Monaten wieder verschwunden.

Obwohl es damals im Prenzlauer Berg hunderte von besetzten Häusern gab, wollten sie nie dorthin. Das waren reine Wessi-Veranstaltungen. Ost-Berliner hatten eine Wohnung, sie mussten keine besetzen. Auch die Kneipen in der Oranienburger Straße wie das „Obst & Gemüse“ oder das „Silberstein“ mieden sie, weil es Touristenläden waren. Bei Charlie gab es ausschließlich Wodka und Whisky. Wenn ich mit O. nach Hause ging, versuchte er immer wieder, mich zu einem gemeinsamen Puffbesuch zu überreden. Er würde auch zahlen, sagte er, die Russinnen und Ukrainerinnen würden nur vierzig Mark kosten. Ich habe jedes Mal höflich abgelehnt.

Meine Neugier auf Ost-Berlin war geweckt. Ich machte an manchen Tagen lange Spaziergänge durch den alten Osten, der noch in großen Teilen so runtergerockt war wie zu DDR-Zeiten. Ich erinnere mich noch, wie ich an einer völlig heruntergekommenen Plattenbauschule vorbeikam und aus einem offenen Fenster hörte ich die hellen Kinderstimmen, die ein Lied sangen. Es konnte einem das Herz brechen. Die Allee der Kosmonauten, endlose Reihen identischer Hochhäuser. Nirgendwo Sushi oder Döner, aber dafür Bratwurst und Billigbier an jeder Ecke, der „Schnitzelkönig“ in der Nähe des Thälmann-Denkmals. Es hätte auch Bukarest oder Warschau sein können. 

Als ich 1996 ins Berufsleben einstieg, Charly oft wochenlang bei westdeutschen Kunden war und O. immer seltener Zeit hatte, habe ich die beiden irgendwann aus den Augen verloren. Heike hatte inzwischen einen westdeutschen Bauingenieur geheiratet, der in Indien, Saudi-Arabien und anderen Ländern langfristige Großprojekte durchführte. Gelegentlich schrieb sie an Katharina Briefe, bis sich auch diese Spur schließlich im Sand verlor.     

P.S.: Auch eine andere Freundin von mir, mit der ich 1993 fünf Wochen durch Amerika getourt bin, war von ihrem schwulen West-Berliner Cousin „ausgeheiratet“ worden. Ihr damaliger Freund hatte einen Ausreiseantrag gestellt und wurde dafür in den Knast gesteckt. Nur ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft im Westen fiel die Mauer. Die Scheidungskosten von knapp zweitausend Mark hat sie bei ihrem Cousin trotzdem wie versprochen abgestottert.

P.P.S.: Als ich mir den Text nochmal durchgelesen habe, ist mir aufgefallen, wie sehr mich die Ost-Berliner an die Leute im Hunsrück erinnern. Damals hatte kein junger Mann in Schweppenhausen lange oder gefärbte Haare, niemand trug einen Ohrring oder einen Parka. Die Leute waren weder sarkastisch noch hochnäsig, sie hörten auch nicht irgendwelche obskuren Indie-Bands, die nur dreieinhalb Leute kannten, sondern Hard Rock und die ganzen Gassenhauer aus den aktuellen Charts. Sie sprachen Dialekt und machten sich nicht die Mühe, sich Fremden gegenüber zu verstellen. Hier hat man keine Gitarre, sondern ein Motorrad. Unkomplizierte Menschen, unkompliziertes Leben. 

 

4 Kommentare:

  1. Ja, schön war es damals schon - wenn man einen großen Bogen um die Leute herum gemacht hat, die einen, wie die anderen.

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  2. Den schnitzelkönig gibts glaub ich noch.

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    1. Ja. Thälmann auch stabil ;o)

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    2. "In den nachfolgenden Jahren (nach 1925) bekämpften Thälmann und die KPD die Demokratie, wo immer sie eine Möglichkeit hierfür sahen. Dabei scheute Thälmann auch nicht die Zusammenarbeit mit den erstarkenden Nationalsozialisten. Im August 1931 versuchten NSDAP und KPD gemeinsam, durch einen Volksentscheid die sozialdemokratische Landesregierung Preußens zu stürzen. Ein Jahr später organisierten die beiden antidemokratischen Parteien gemeinsam einen BVG-Streik. Thälmann sah kein Problem in der Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten in Streikkomitees. Sein vorrangiges Ziel war die Zerschlagung des bürgerlichen Staates." (Tagesspiegel)
      Man nennt es Querfront. Ist in gewissen Kreisen jetzt wieder in Mode...

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