Niemand
weiß, wie die Dominosteine fallen. Aber ich kannte Katharina und sie kannte
Heike. Heike gehörte zu den Frauen, die aus der DDR „ausgeheiratet“ worden
sind. Sie kannten sich aus Köln. Nach dem Mauerfall sind beide nach Berlin
gezogen. Katharina nach West-Berlin, SO 36, Heike nach Mitte, in die
Schlegelstraße, nicht weit von der Invalidenstraße entfernt. Sie arbeitete als
Kellnerin und gab gelegentlich Partys, zu denen neben ihren alten Freundinnen
und Freunden aus DDR-Zeiten als einzige Wessis Katharina und ich eingeladen
waren.
Ich
kann mich noch daran erinnern, wie normal die Leute aussahen. Niemand hatte sich
für diese Abende in Schale geworfen, keiner hatte eine auffällige Frisur. Keine
gespielte Coolness, keine Arroganz, keine Fassade wie bei den zugereisten
Wessis. Es gab auch nicht den obligatorischen Nudelsalat, den ich aus meiner
alten Heimat kannte, sondern Fischeier, eine ganze Ochsenzunge (die unglaublich
lang ist) und vor allem jede Menge Schnaps. Hier lernte ich auch A. und O.
kennen (ich will mir jetzt keinen Maik oder Ronny ausdenken), die mich in den folgenden
Monaten und Jahren als Eingeborene, als Zonen-Yanomami, in ihre Welt
einführten.
Der
Spitzname von A. war eigentlich Charly und bezog sich auf seinen Nachnamen. Er
hatte in der Sowjetunion in Physik promoviert und war nach der Wende an eine
kanadische Universität gegangen. In Deutschland bekam er keine feste Stelle und
beschloss, für eine US-Consulting-Firma zu arbeiten. Fortan war er in
westdeutschen Konzernen unterwegs, über die er sich in Berlin gerne lustig
machte, weil ihre Bürokratie genauso schlimm wie in den verschwundenen VEB war.
O. war Steuerberater, mit einer Russin verheiratet und hatte zwei kleine
Kinder.
Charly
lebte in Lichtenberg, im tiefsten Osten. Seine Wohnung erinnerte mich an die
Wohnungen meiner Großeltern. Alte Schränke aus dunklem Holz, abgewetzte
Sitzgarnituren aus grauer Vorzeit. Kein IKEA, keine Poster, keine Kunst an den
Wänden. Eine angenehm unmoderne Atmosphäre. O. wohnte in der schon zu Ostzeiten
sanierten Husemannstraße am Kollwitzplatz. Wir trafen uns immer in
irgendwelchen Kneipen oder bei Charly. O. hatte keine sturmfreie Bude und zu
mir in den Westen der Stadt wollten die beiden nie. Wir waren kein einziges Mal
in Kreuzberg oder am Ku’damm. Aber das war okay, schließlich kannte ich
West-Berlin, wo ich meine westdeutschen Freunde hatte, die alle, wie ich, am
Rhein gelebt hatten.
Im
Prenzlauer Berg gab es damals eine russische Kneipe, in der man auf einem
ovalen, verchromten Tablett Sto Gram Wodka (0,1 l) im Wasserglas, Speck,
Schwarzbrot und Gewürzgurke bekam. Wir haben dort nie etwas anderes getrunken.
Bier wurde im Osten ohnehin nur als Durstlöscher oder zum Essen getrunken, am
Abend musste es Schnaps sein, vorzugsweise russischer und polnischer Wodka. In
Hinterhöfen gab es Lokale, die keinen Namen und keine Schanklizenz hatten. Man
musste nur wissen, an welche Tür man klopfen musste. Die Jungs wussten es. Oft
waren die Bars schon nach ein paar Monaten wieder verschwunden.
Obwohl
es damals im Prenzlauer Berg hunderte von besetzten Häusern gab, wollten sie
nie dorthin. Das waren reine Wessi-Veranstaltungen. Ost-Berliner hatten eine
Wohnung, sie mussten keine besetzen. Auch die Kneipen in der Oranienburger
Straße wie das „Obst & Gemüse“ oder das „Silberstein“ mieden sie, weil es
Touristenläden waren. Bei Charlie gab es ausschließlich Wodka und Whisky. Wenn
ich mit O. nach Hause ging, versuchte er immer wieder, mich zu einem
gemeinsamen Puffbesuch zu überreden. Er würde auch zahlen, sagte er, die
Russinnen und Ukrainerinnen würden nur vierzig Mark kosten. Ich habe jedes Mal
höflich abgelehnt.
Meine
Neugier auf Ost-Berlin war geweckt. Ich machte an manchen Tagen lange
Spaziergänge durch den alten Osten, der noch in großen Teilen so runtergerockt
war wie zu DDR-Zeiten. Ich erinnere mich noch, wie ich an einer völlig
heruntergekommenen Plattenbauschule vorbeikam und aus einem offenen Fenster
hörte ich die hellen Kinderstimmen, die ein Lied sangen. Es konnte einem das Herz
brechen. Die Allee der Kosmonauten, endlose Reihen identischer Hochhäuser.
Nirgendwo Sushi oder Döner, aber dafür Bratwurst und Billigbier an jeder Ecke,
der „Schnitzelkönig“ in der Nähe des Thälmann-Denkmals. Es hätte auch Bukarest
oder Warschau sein können.
Als
ich 1996 ins Berufsleben einstieg, Charly oft wochenlang bei westdeutschen
Kunden war und O. immer seltener Zeit hatte, habe ich die beiden irgendwann aus
den Augen verloren. Heike hatte inzwischen einen westdeutschen Bauingenieur
geheiratet, der in Indien, Saudi-Arabien und anderen Ländern langfristige
Großprojekte durchführte. Gelegentlich schrieb sie an Katharina Briefe, bis
sich auch diese Spur schließlich im Sand verlor.
P.S.:
Auch eine andere Freundin von mir, mit der ich 1993 fünf Wochen durch Amerika
getourt bin, war von ihrem schwulen West-Berliner Cousin „ausgeheiratet“
worden. Ihr damaliger Freund hatte einen Ausreiseantrag gestellt und wurde
dafür in den Knast gesteckt. Nur ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft im Westen
fiel die Mauer. Die Scheidungskosten von knapp zweitausend Mark hat sie bei ihrem
Cousin trotzdem wie versprochen abgestottert.
P.P.S.:
Als ich mir den Text nochmal durchgelesen habe, ist mir aufgefallen, wie sehr
mich die Ost-Berliner an die Leute im Hunsrück erinnern. Damals hatte kein
junger Mann in Schweppenhausen lange oder gefärbte Haare, niemand trug einen
Ohrring oder einen Parka. Die Leute waren weder sarkastisch noch hochnäsig, sie
hörten auch nicht irgendwelche obskuren Indie-Bands, die nur dreieinhalb Leute
kannten, sondern Hard Rock und die ganzen Gassenhauer aus den aktuellen Charts.
Sie sprachen Dialekt und machten sich nicht die Mühe, sich Fremden gegenüber zu
verstellen. Hier hat man keine Gitarre, sondern ein Motorrad. Unkomplizierte
Menschen, unkompliziertes Leben.
Ja, schön war es damals schon - wenn man einen großen Bogen um die Leute herum gemacht hat, die einen, wie die anderen.
AntwortenLöschenDen schnitzelkönig gibts glaub ich noch.
AntwortenLöschenJa. Thälmann auch stabil ;o)
Löschen"In den nachfolgenden Jahren (nach 1925) bekämpften Thälmann und die KPD die Demokratie, wo immer sie eine Möglichkeit hierfür sahen. Dabei scheute Thälmann auch nicht die Zusammenarbeit mit den erstarkenden Nationalsozialisten. Im August 1931 versuchten NSDAP und KPD gemeinsam, durch einen Volksentscheid die sozialdemokratische Landesregierung Preußens zu stürzen. Ein Jahr später organisierten die beiden antidemokratischen Parteien gemeinsam einen BVG-Streik. Thälmann sah kein Problem in der Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten in Streikkomitees. Sein vorrangiges Ziel war die Zerschlagung des bürgerlichen Staates." (Tagesspiegel)
LöschenMan nennt es Querfront. Ist in gewissen Kreisen jetzt wieder in Mode...