Samstag, 13. Mai 2023

No future in the past


Es ist der 17. Oktober 1993. Das Wintersemester hat begonnen und ich war gerade beim Professor, um ihm mein Promotionsprojekt vorzustellen. Jetzt geht es los. Und dann trifft mich diese SPIEGEL-Titelstory wie ein Faustschlag. Das Heft 42/1993 ist gerade erschienen und ich trage es vom Kiosk wie in Trance nach Hause. „Dr. Arbeitslos“ lese auf der Titelseite. Der Text beginnt mit dem Schicksal frisch gebackener Akademiker, die keine Stelle finden.

Strukturwandel und Rezession. Die Unternehmen entlassen Leute, es gibt einen Einstellungsstopp. Selbst Naturwissenschaftler und Ingenieure haben keine Chance. Und ich bin Politikwissenschaftler! Nach Philosoph, Volkswirt und Soziologe der aussichtsloseste Job der Welt, wenn es um Bewerbungen geht. Selbst BWLer und Lehrer melden sich reihenweise arbeitslos. Heute fehlen überall Leute, damals standen sie auf der Straße. 

Die Arbeitslosenquote für Uni-Absolventen liegt bei 7,4 Prozent im Westen und bei 15,2 Prozent im Osten. Ich lebe natürlich im Osten. Insgesamt sind etwa zehn Prozent der Beschäftigten arbeitslos. Entlassene Fachleute konkurrieren mit dem akademischen Nachwuchs auf einem schrumpfenden Arbeitsmarkt. Es ist die Zeit der Verlagerung von Produktion und Entwicklung ins Ausland, wo die Leute einfach billiger sind. „Vor drei Jahren war die Welt noch in Ordnung, nun geht es im Sturzflug abwärts.“ (Jörg Müller, Professor für Elektrotechnik an der Technischen Universität Hamburg-Harburg)

Plötzlich fahren auch promovierte Zahnärzte Taxi. Nach ein paar Jahren Arbeitslosigkeit ist die lange Ausbildung wertlos geworden. Irgendwann nimmt man jeden Job an. Die Leute sind frustriert und geben sich auf. Ist es da nicht besser, man lässt gleich alle Hoffnung fahren? Ein Leben in fröhlicher Gleichmut, ohne komplizierte Pläne für die Zukunft, ohne den Ehrgeiz, eine Karriere machen zu wollen?

Ich denke da an Herbert (Name von der Redaktion geändert). Nach dem Zivildienst machte er auf dem zweiten Bildungsweg das Fachabitur nach und ging zum Studium in den Ruhrpott, wo er 18 Semester lang keinen einzigen Schein machte. Bafög, Studentenwohnheim, Playstation, Bong. Dann ging er in sein Dorf zurück, eröffnete eine Kneipe, ging pleite, und ist heute ein zufriedener Arbeiter – mit Staplerschein! 

Ende 1995 gehe ich zum Gründungstreffen der Berliner Sektion des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“, einer obskuren Organisation voller gesellschaftskritischer Intellektueller und verträumter Weltverbesserer. Also genau meine Welt. Dort treffe ich einen Wissenschaftler, der mir nach der Sitzung eine Stelle in einem Forschungsprojekt zum Thema Zeit – mein Promotionsthema – anbietet. Ein anderer Wissenschaftler, Professor in Potsdam, möchte meine Dissertation in seiner Buchreihe veröffentlichen. Anfang 1996, nach meiner Disputation, trete ich die Stelle an - ohne Bewerbungsverfahren oder irgendwelche Unterlagen. Ich unterschreibe am ersten Arbeitstag den Vertrag und beziehe mein Büro. Auch die Doktorarbeit erscheint kurze Zeit darauf. Bis heute ist es für mich ein Wunder.

Man nennt es Ironie der Geschichte: Zehn Jahre nach Erscheinen des SPIEGEL-Artikels arbeite ich am Wissenschaftszentrum Berlin, Abteilung „Arbeitsmarkt und Sozialstaat“. Mein Chef ist Prof. Dr. Günther Schmid, seinerzeit der berühmteste Arbeitsmarktforscher Deutschlands. Er berät Kanzler Schröder bei seinen Arbeitsmarktreformen, etliche Ideen für „Hartz“ werden in unserer Abteilung entwickelt. Das Institut liegt am Südostrand des Tiergartens, das Kanzleramt am Nordostrand. Schmid radelt regelmäßig zu Besprechungen zu unserem damaligen Regierungschef. Bald darauf verlieren Gerhard Schröder und ich unsere Jobs, Schmid geht in Rente.

 

2 Kommentare:

  1. In Berlin hieß es, wer nix wird, wird Wirt oder Bulle. Endlich im Hunsrück, die Kiezschreiberpinte. Das Loch zur Literatur. Barfly.

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    1. Klingt nach einer schönen Story, aber zwei Jahre, nachdem ich 2013 zurück in mein Dorf gezogen bin, machte die letzte Kneipe dicht. Ich gehörte zu den Stammgästen, die bei der Beerdigung des Wirts dabei waren. Wir haben jetzt seit acht Jahren keinen Ort mehr für irgendeine Form von Barfly-Romantik. Fußball- und DVD-Abende mit den Freunden aus der Kindheit, Wein vom Winzer und Pizza aus dem Nachbardorf ...

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