Sonntag, 16. Februar 2025

Stille und Leere


Ich fotografiere eine überdachte Treppe, über die man den Provinzbahnhof am Stadtrand von Berlin erreicht.

Ein Mann mit Hut, selten geworden in diesen schweren Zeiten, sieht mich fragend an.

„Dieser Ort ist einfach faszinierend hässlich“, erkläre ich ihm.

„Da haben Sie recht“, antwortet er.

„Sie sehen so aus, als würden Sie sich immer noch wundern, was Sie an diesen Ort verschlagen hat.“

Er lächelt. „Ich habe vorher in Schöneberg gewohnt. Aber dort bekommt man keine Wohnung mehr. Zumindest keine, die ich bezahlen könnte.“

Ich lächele furchtlos zurück. „Sie wissen doch sicher, wo man hier einen korrekten Kaffee bekommt. Ich lade Sie ein.“

Nur wenige hundert Meter entfernt ist ein Tschibo-Stehcafé, in dem gerade Kanus und Kristallschalen verkauft werden. Wir haben zwei Tassen guten alten Bohnenkaffee vor uns, echte Tassen, keine Pappbecher mit unseren Vornamen, kein Iced White Choc Pistachio Flavour Oat Shaken Espresso.    

Ich frage ihn, was er beruflich macht.

„Schriftsteller.“

„Was für ein Zufall. Ich auch.“

Wir blicken uns erleichtert an. Keiner von uns würde die dämlichen Fragen stellen, ob man davon leben könne oder wie wir auf unsere Ideen kommen.

Ich gehe, wie unter Kollegen üblich, zwanglos zum Du über. „An was arbeitest du gerade?“

„An einem Sonett über die Stille. Ich sitze schon seit zwei Monaten an diesem Stück. Nur vierzehn Zeilen, aber ich schweige auf das leere Blatt. Trotzdem habe ich das Gefühl, dieser letzte Außenposten der Großstadt ist der richtige Ort für diese Arbeit.“

„Stille Nacht und Stille Post / Stille West und stille Ost“, dichte ich spontan.

Er lächelt in seine Tasse. „Nein, es sollte schon etwas ernsthafter sein. Woran arbeitest du gerade?“

„An einem Essay über die Leere.“

„Leere Flasche, leeres Glas / Leerer Kopf und Leberkas“, antwortet er.

Wir lachen.

„Vielleicht sollten wir die Themen tauschen.“

Wir machen mit zwei Flaschen Sekt auf einer Parkbank weiter. Den Rest habe ich vergessen. Aber wir werden uns wiedersehen.

10 Kommentare:

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    1. Nein, ich war schon lange nicht mehr am Stadtrand. Bei diesem Wetter schaffe ich es nur noch bis zum Supermarkt um die Ecke. Das hässliche Treppenhaus habe ich im Fernsehen gesehen und schrieb den Anfang. Der Dialog mit Stille und Leere kam dann Tage später dazu, vermutlich hatte ich die Begriffe irgendwo gelesen. Solche Texte plane ich nicht, sie entstehen einfach so nebenbei.

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  2. Sekt ist für Mädchen. Hugo und Lambrusco auch. Schriftsteller trinken Calvados, Grappa, Absinth...

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    1. Schriftsteller trinken alles. Hauptsache, es brummt ;o)

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  3. @Kiezschreiber
    Betr.: Mondbasis
    https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/ddr-mondbasis-31-jaehriger-laesst-mithilfe-von-ki-videos-die-ddr-wieder-aufleben-li.2294964

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    1. Wer hätte das gedacht? Ein Wessi aus Hannover steckt dahinter, der beim Mauerfall noch gar nicht existiert hat. Mich hat der Osten auch schon in den 80ern fasziniert, obwohl ich vom Rhein komme. 1981 war ich auf Klassenfahrt zum ersten Mal in Ost-Berlin, damals warnte uns der neue US-Präsident Reagan vor dem Reich des Bösen und erreichte das genaue Gegenteil. Es folgten 3 x Prag, Budapest, Moskau, Leningrad und noch 2 x Ost-Berlin. Ich bin froh, dass ich alles noch sehen und erleben konnte, bevor es für immer verschwand.

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    2. Möchte mal wissen, wer beim Kiezschreiber dahinter steckt. Sicher so ein durchtrainierter Asket.

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    3. Dreifacher Ironman-Sieger, aber ich hänge sowas nicht an die große Glocke. Morgens ein selbstgemixter Smoothie, drei Stunden Gym, Schönheitsschlaf und abends noch ein Smoothie. Mehr brauche ich nicht.

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  4. Eine sehr gute Kurzgeschichte. Thanx.

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