Samstag, 11. Oktober 2014

Noch mehr Achtziger-Jahre-Zeug

Einst stapfte der Bauer Hu Hu aus Wu-Wei über seine Reisfelder und kaute lustlos an einer Frühlingsrolle. ‚Widel velflucht slechte Elnte dieses Jahl‘, dachte er, als der Philosoph und Schwerenöter Peng Fei des Weges kam. Dieser fragte ihn: „Was blummmelst du denn da in deinen Balt, du altel Leisflessel?“ Dann lachte er freundlich und sah dem schlitzäugigen Bauern tief in die Augen: „Na, Älgel gehabt?“ „Ja“, antwortete Hu Hu, „mil blummt del ganze Kopf vol lautel Älgel.“ Der Philosoph begann: „Siehst du die Lilien auf dem Felde? Tu es ihnen gleich und tlinke solglos den göttlichen Nektal del Sonne!“ „Da sind doch übelhaupt keine Lilien“, sagte da der Bauer und ging nach Hause, um sich ein Chop Suey zu machen.
Und ist der Kühlschrank noch so leer,/ Wir haben keine Ängste./ Der Nachbar hält zum Frühstück her,/ Sein Schinken ist der Längste.
Rudi spielt auf Betriebsfesten Ziehharmonika, Rudi ist eine abgetakelte weinerliche Tunte, die auf dem Sofa „Hach“ seufzt. Rudi will mindestens fünf Kilo abnehmen. Seine lächerliche Perücke wiegt mindestens zwei Kilo, ich habe mir die Bemerkung aber verkniffen. Rudi ist 58 Jahre alt und lebt allein in einem Haus. Dort ist auch sein kleiner Laden, er schneidet alten Frauen die Haare und die Fußnägel. Rudi hat Angst und darum auch ein Klingelanlage, auf der drei verschiedene Namen verzeichnet sind. Das soll Einbrechern ständige Präsenz vorgaukeln. Auf den Fenstern kleben Plastikvierecke und Kabel, die seiner Meinung nach perfekte Imitation einer Alarmanlage. Wir sehen in seinem Wohnzimmer ein Konzert von Pat Metheny. Während wir stumm der Musik lauschen, sagt Rudi – ohne zu wissen, welche Stimmung er damit zerstört: „Hach, Klasse ... ganz Klasse, wie der Mann Gitarre spielen kann“. Ja, Klasse! Super, Rudi, du verkommene Schwuchtel! Sein in das unvermeidlich folgende, peinliche Schweigen eingestreuter Satz „Die Schweiz hat noch gute Bahnverbindungen“ lässt mich erschauern. Ich werde bei deiner Beerdigung sein, Rudi. Irgendeine Bestie rheinhessischer Alltäglichkeit wird dich vernichten, und in der letzten Sekunde deines Lebens wirst du kläglich wie ein Schwein quieken, aber keiner wird dich hören. Mach’s gut, Rudi, du alter Waschbär. Du bist ein Held.
Wir lebten in einer alten Mühle am Fluss und jenseits eines Auwäldchens begann mein Reich: eine endlose Wiese, die zum Fluss hin sanft abfiel. Glückliche Tage einer unbeschwerten Zeit, wie es mir im Nachhinein erscheint. Auf dieser Wiese stand eine riesige verrostete Maschine. Wohl an die hundert Meter lang und ungefähr zwanzig Meter hoch lag die gestrandete Station einer fernen Welt dort in der Sonne. Weiße Asche wehte über den Strom herüber, wunderbare Zeit der Fragen. Eines Tages wagte ich es, die Maschine zu erklettern. Überall rätselhafte Räder und Motoren, in großen Abständen führten Sprossenleitern hinauf. Zwischen zerbrochenen Fenstern und zerschlagenen Computern stand ich auf dem Rücken der Maschine und war erstaunt über ihre Größe. Auf einem Tank las ich die Inschrift: „Life is timeless“. War das eine Botschaft? Und war sie für mich bestimmt? Ich habe das alles nie vergessen. Schöne Tage, an denen es begann. Die schwere und wertvolle Last eines fernen Zieles lag auf meinen schmächtigen Schultern und dort ruht sie auch heute noch. Es waren die Maschinen, die mich ans Licht gelockt haben, und so frage ich mich natürlich gelegentlich, wohin es mich ohne ihren Anblick geführt hätte.
Jeder neue Tag ist wie ein Bad, in das man sauber hinein steigt und aus dem man schmutzig wieder heraus kommt.
So lange die Menschen denken konnten, war die große Burg über dem Fluss von den gefürchteten weißen Rittern bewohnt gewesen, doch seit nun schon bald einem Jahr schien sie verlassen. Mutige Burschen aus den umliegenden Dörfern wagten sich in ihre Sichtweite, und es dauerte nicht lange, da zogen Siedler mit ihren Fuhrwerken ans Ufer unterhalb der Burg, um dort ihr Lager aufzuschlagen. „Hier wollen wir bleiben“, rief ihr Führer, ein kräftiger vollbärtiger Mann, der eine schwere Axt über dem Kopf schwang, die in der Sonne aufblitzte. „Von dort oben droht uns nichts. Wir werden eine Stadt errichten, die Häuser bauen wir aus den Steinen der Burg, und über den Fluss bauen wir eine Brücke.“ Ängstlich blickte die versammelte Menge den Hang hinauf, doch alles blieb ruhig. Man schlug die Zelte auf, die Frauen saßen am Ufer und wuschen die von der langen Reise schmutzigen Kleider. Tief in der Nacht konnte man beobachten, wie in einigen Fenstern der Burg Lichter angezündet wurden.
Es ist gut, dass es sie gibt. Sie sind an meine Knöchel gekettet, ich schleife sie hinter mir her und sie halten mich dafür am Boden. Es sind wahrhaft stählern zu nennende Ungetüme, sie wiegen sehr viel und auf diese Weise verhindern sie, dass ich weg fliege. Kaum vorzustellen bei der geringen Schwerkraft dieses Planeten! Sie sind überlebensnotwendig, stellen Sie sich nur vor, sie sprängen in den Himmel und brauchten Wochen, bis Sie wieder auf dem Boden wären! Nein, nein, da ist es schon besser, diese Gewichte mit sich zu tragen. Natürlich ist das Fortkommen mit ihnen beschwerlich und in diesen Wintertagen sind sie eine besondere Last, soviel ist gewiss. Es ist vor allem eine wohltuende Müdigkeit, die sie mir verschaffen. Alles wird zur Anstrengung, immer bin ich gleich zu Tode erschöpft. Aber diese ankerförmigen Gebilde geben mir Halt, sonst würde ich durch die Stadt taumeln und ständig gegen Häuser und Passanten fliegen. Das wäre nicht schön, geradezu albern und würdelos wäre das. Dagegen aber die Würde dieser schweren Arbeit! An manchen Tagen lupfen die Menschen anerkennend die Hüte, wenn ich vorüber komme, immerfort angestrengt an den Ketten zerrend. Meine verbissene Beharrlichkeit, allerdings nur das Produkt meist wochenlanger Untätigkeit, lässt mich wenigstens die notwendigsten Aufgaben bewältigen. Ohne diese überraschende, stundenweise Entschlossenheit wäre ich schon längst verhungert. Ich würde in irgendeinem Wald liegen, von klarem Eis bedeckt, und im Frühjahr würde ich beginnen, zu vermodern und zu verrosten.
P.S.: Heute wird übrigens der Wirt beerdigt, bei dem ich in den achtziger Jahren in Schweppenhausen meinen ersten Schoppen bestellt habe. Ich weiß nicht, wie oft ich im Gasthaus "Zur Pfalz" gewesen bin. Tausend Mal? Reicht das? Dort habe ich zum ersten Mal Flipper gespielt und Computerspiele, lange bevor einer von uns eine Playstation hatte. Gestern habe ich auch erfahren, dass mein erster Dealer, von dem wir unser Dope gekauft haben, vor einigen Jahren an Krebs gestorben ist. Sein Bruder, der immer auf dem Sofa daneben saß, hat Selbstmord begangen. So geht die Zeit dahin.
P.P.S.: Noch eine Geschichte aus den achtziger Jahren, die mir ein Freund gestern Abend am Tresen der „Bierpumpe“ in Schweppenhausen erzählt hat. Er hatte Silvester bei einem Kumpel in Windesheim, dem Nachbardorf, gefeiert und in dessen VW Käfer auf dem Beifahrersitz übernachtet. Am nächsten Morgen steigt ein anderer Partygast mit zwei Mädels ein, die auf den Rücksitz klettern, um mit ihnen zu einem anderen Haus zu fahren, wo sie frühstücken wollten. Nach ein paar Kurven baut er einen Unfall und M. auf dem Beifahrersitz wacht erst auf, als er durch die Frontscheibe auf die Kühlerhaube fliegt. Die Narbe auf der Stirn, wo ihm im Krankenhaus ohne Narkose eine Platzwunde genäht wurde, sieht man noch heute. Jeder kann solche Geschichten erzählen, es ist ein Wunder, dass wir noch leben.
The Doors and John Lee Hooker - Roadhouse Blues. http://www.youtube.com/watch?v=2xzFWm9uXJo

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