Montag, 13. Oktober 2014

1997

5. Januar, Berlin. So etwas kann auch nur hier passieren, sonst nirgends in der Republik: An der Gedächtniskirche steht einsam, bei minus zehn Grad, eine ältere Dame mit einem unleserlichen Pappschild. Als ich an ihr vorbeigehe, raunt sie mir zu: „Das Leben ist peinlich, lass es sein“. Wie recht du doch hast, du kafkaeskes Großmütterchen ...
13. Januar. Haiku zum Thema Ladenöffnungszeiten: Die Sterne funkeln/ Wieder ist das Bier alle/ Und Aldi hat zu.
14. Januar. Irgendwann erobert die Techno-Generation auch Amerika und dann singt man dort „The land oft the E and the home oft he rave“.
19. Januar. Wir dürfen uns nicht beschweren, die Zellen werden immer geräumiger.
19. Februar. Vom Fußballsport kann man einiges lernen: Wer im Spiel führt, hat viel Zeit. Wer zurückliegt, muss sich beeilen.
23. Februar. H. ist unheilbar an Leberzirrhose erkrankt, trinkt aber dennoch weiter. Seit Jahren zerstört sie sich vor unseren Augen und so, wie ich trinkend lebe, stirbt sie trinkend. So wie ich trinkend schreibe und schreibend trinke, trinkt sie schweigend und schweigt trinkend. Sie hat sich in ihrer Wohnung verschanzt, in dieser letzten Festung eines traurigen Rausches ohne Erlösung.
19. März. Dialog:
A: „Warum machst du eigentlich keine Kunst?“
B: „Ach, das wäre doch gar nicht zu bezahlen.“
21. März. „Was wir nur brauchen auf der Welt/ Ist jener Schwachsinn, der gefällt.“ Jan von Wegen.
15. Mai. Dieser seltsame Heimwerkerstolz auf den eigenen Dilettantismus. Wer wird kommen und uns die große Kunst der Untätigkeit lehren?
1. Juni. Lob der Durchschnittlichkeit
Verweile nicht, du bist zu schön,/ Du wirst doch sicher untergeh’n./ Das Mittelmaß ist jene Kraft,/ Die alles erst erschaffen hat.
Drum kommt, ihr Leute, setzt euch her,/ Das Schöne sieget nimmermehr./ Lobt mir das Öde und Gemeine,/ Und auch noch diese Schüttelreime.
10. Juli. Wer als junger Mensch etwas begriffen hat, gilt als zynisch. Wer als alter Mensch etwas begriffen hat, gilt als weise.
17. Juli. Meine Mutter ist gestorben. Die Ingelheimer Wohnung, in der ich von meiner Geburt bis 1989 gelebt habe, ist ein sorgsam ineinander gefügtes Mosaik von Erinnerungsstücken, das sich nicht so leicht aufbrechen lässt. Da die Wohnung aber weitervermietet werden muss, müssen unbarmherzig schnell Entscheidungen getroffen werden. Nur einige Bilder und Briefe habe ich mitgenommen. Auch mein altes Spielzeug werfe ich auf den Müll. Erst als die großen Möbel verschenkt oder verkauft sind, als ich die düsteren und schweren Vorhänge an einem einzigen Morgen herunterreiße und Licht in die sich langsam leerenden Räume dringt, verliert die Wohnung ihre Traurigkeit. Hier ist sie gestorben, im Flur vor dem Wohnzimmer hat sie gelegen. Niemand war in diesem Augenblick bei ihr, um ihre Angst oder ihren Schmerz zu vertreiben.
3. August. Warum verwechselt das Spiegelbild links und rechts, aber nicht oben und unten?
16. August. Durch einen Tunnel unter dem Meer fahre ich mit D. nach Cornwall und Devon. Die Klippen bei Land’s End und Lizard Point, winzige Orte wie Porlock Weir oder Mousehole, wo wir in einer Seitengasse eine junge Frau von geradezu mittelalterlicher Hässlichkeit sehen: Das Gesicht schief mit scheinbar willkürlich eingestreuten Augenhöhlen und Nasenlöchern, der Blick viehisch sanft und blöde. Auf der Landstraße ein Beispiel für britischen Humor: Neben einem verbeulten Autowrack krümmt sich ein Mann, dem in Strömen das Blut vom Kopf fließt. Nach der Schrecksekunde und bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Ganze als Pennälerstreich, hinter dem Wagen lachende Gesichter und auch das „Opfer“ lacht über uns.
Ein typischer Urlaubsmorgen in Cornwall. Du schaust aus dem Fenster hinaus und erwartest das Meer, die Sonne, den Himmel. Und du siehst: Nebel. Nebel: das Testbild der Natur.
4. Oktober. Jede Großstadt braucht neue Bürger, möglichst fremdartige Zugereiste. Sie braucht diese kantigen Brocken, die sie zu Sand zerreibt oder doch wenigstens zu einem Kieselstein schleift, bevor sie sie wieder freigibt, denn aus ihnen saugt sie ihre Energie.
5. Oktober. Eine glückliche Angst oder eine gnädige Einsicht, an diesem Wochenende nicht leichtsinnig das Haus zu verlassen. Stunden des einsamen Lächelns, nur durch den Umstand getrübt, mit zwölf Flaschen zu wenig Bier gekauft zu haben, um alle Erinnerungen und Eingebungen bewältigen zu können. Wieder zeichne ich Häuser. Eigentlich steht die ewig gleiche Idee dahinter: Es soll ein Haus für mich allein werden, ein Haus, in dem ich lesen, denken und schreiben kann, in dem ich – je nach Laune – Ruhe oder Einsamkeit finden kann. Abhängig vom gerade vorherrschenden Selbstbild befinden sich Bibliothek und Schreibzimmer entweder selbstbewusst im Mittelpunkt der Konstruktion oder versteckt am Rande, nur über lange Flure, unwegsame Treppen und geheime Türen zu erreichen. Auf eigentümliche Weise haben mich dabei die aneinandergepressten Häuser Gargonzas angeregt, die festungsartig über der toskanischen Ebene thronen und die ich vergangenen Monat besucht habe. Also nehme ich ein Blatt Papier …
8. Oktober. Wieder die Rubrik „Dit is Berlin“: Beim Bezahlen einer Currywurst fällt mir ein Fünf-Pfennig-Stück auf den Boden und rollt halb unter den Schuh eines betrunkenen Blinden, der – in der einen Hand einen weißen Stock und in der anderen eine Whiskyflasche – am Budentresen lehnt und seinen Hass auf diese Welt hinaus murmelt. Wer würde es wagen, seine Hand nach dieser Münze auszustrecken?
19. Oktober. Meine Existenz ist ein hinreichender Daseinsgrund für das Universum, alle weitergehenden Fragen stellen sich daher nicht und führen in die Irre. Das lebendige Fleisch ist mit jeder Faser unaufhörlich bestrebt, seine Existenz zu erhalten. Und der Geist folgt ihm willig und produziert die notwendigen Illusionen der Eitelkeit.
23. Oktober. Sagengestalten des Berufsgreisentums schleichen lautlos und unendlich langsam, gebückt und wie bewusstlos durch die leeren Flure des Instituts. Im Dritten Reich ist das Gebäude ein Ministerium gewesen – sind es die Untoten von damals?
8. Dezember. Eine dicke Speckschicht von auf wundersame Weise nutzlos vertaner Zeit umgab sein Leben. Zufrieden klopfte er auf seinen Wanst und zündete die Pfeife an.
Joe Jackson – Steppin’ Out. https://www.youtube.com/watch?v=RBJUHvQPFTI

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