Mittwoch, 22. Oktober 2014

2000

Auszüge aus dem Notizbuch:
3. Januar, Schweppenhausen. Scheiß Millennium! Mindestens ein Jahr hat man uns die Außergewöhnlichkeit dieses Umspringens des Geschichts-Tachos von 1999 auf 2000 einzureden versucht. Und diese aufgeregte Medienkinderkacke wird weitergehen. Aber das 21. Jahrhundert liegt nicht wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns, Akteure und Handlungsschemata sind schließlich bekannt. Zum Glück war es ein ganz normales Silvester, die vorhergesagten Computerprobleme blieben aus. Je näher das Ereignis rückte, desto nüchterner wurde es von den Menschen betrachtet. Wer kann schließlich ernsthaft etwas mit dem Begriff „Jahrtausend“ anfangen? So wenig wie mit „Milliarde“ oder „Lichtjahr“. Ich habe ganz gemütlich mit meinen Freunden gefeiert und mir das Dorffeuerwerk angeschaut.
4. Januar. Diese Botschaft fand ich in einer „Zeitkapsel“, einer versiegelten Pappröhre mit der Aufschrift „Diese Urne darf erst im Jahr 2000 geöffnet werden!!!“, die ich als zwölfjähriger Junge am 1. Juni 1979 versiegelt habe: „Wer dieses später einmal liest, der wird in einer Welt wohnen, die anders ist als meine. Wir in meiner Zeit glauben, dass man im Jahr 2000 Dienstroboter haben wird, die einem alles machen, und dass man zu fernen Planeten fliegen kann. Wir glauben auch, dass man Kontakt zu außerirdischen Wesen aufnehmen wird. Manche Menschen sahen schon am Himmel unbekannte Flugobjekte mit menschenähnlichen intelligenten Wesen an Bord. Ich hoffe, dass der Mensch sich nicht zu sehr von der Technik abhängig macht. Vielleicht sind Roboter, Computer und Atomwaffen unser Ende. Viel Glück in deiner Welt.“
9. Januar, Berlin. Er steht morgens überhaupt nur auf, weil man im Sitzen besser trinken kann als im Liegen. Es ist der Bierdurst, der ihn am Nachmittag aus dem Bett treibt.
23. Januar. Idee für ein Denkmal: Ein übergewichtiger Mann mittleren Alters in Unterwäsche und Hausschuhen, der ein Dosenbier in der Rechten hält und sich mit der Linken am Hintern kratzt. Widmung: „Dem unbekannten Konsumenten.“
6. Februar. Wie kommt es eigentlich, dass ich über hundert Kilogramm wiege? Rekapitulieren wir mal, was ich gestern gegessen habe: Es begann mit einem Stück Käsekuchen am späten Vormittag. Gegen Mittag eine Portion Fleischsalat mit Brötchen. Dann Krupuk, diese Vorspeise blieb gestern Abend bei meinem mehrgängigen Menü vom chinesischen Lieferservice übrig. Gegen Abend dann eine Pizza, gefolgt von einer Tafel Schokolade. Nachts dann noch zwei Cheeseburger von einem anderen Lieferdienst, das ganze herunter gespült mit einem halben Kasten Bier. Also: wie kommt es eigentlich ...
16. März. Ich sitze in einem Tagungshotel, um mich herum viele Menschen, und betrachte mein Wasserglas. Die Oberfläche wirkt wie Quecksilber. Endlos scheinende Schnüre von Gasbläschen perlen nach oben. Nur sehr wenige zerplatzen und erzeugen winzigste Schwingungen auf dem glatten glänzenden Plateau. Aus dem Mund des Referenten perlen Worte, die mich nicht erreichen, während ich müde und traumblöde auf dieses Glas starre.
11. April. Die vierte Brasilienreise. Lencois in der Chapada Diamantina, ein liebenswertes Aussteigernest. Tagsüber Wanderungen, eine Höhle hinter einem Wasserfall, abends die Stille des Ortes, die Menschen sitzen auf Stühlen vor ihren kleinen Häusern. Die Weiterfahrt mit dem Linienbus verzögert sich um 16 Stunden. N. und ich tauchen endgültig in die Gemächlichkeit der Einwohnerschaft ein, stehen auf der Brücke, die den Ort und die Landstraße miteinander verbinden, und beobachten eine Weile einen blauen Luftballon, der auf dem Flüsschen vorübertreibt. Wir sitzen in Cafés und auf Bordsteinen, Zeit spielt keine Rolle mehr und wir finden den Brasilien-Drive. Salvador de Bahia, Belo Horizonte, Ouro Preto, Rio und schließlich Sao Paulo, wo wir in eine Teenager-Stampede geraten. Nichtsahnend gehen wir die Avenida Paulista entlang, als wir eine lange Menschenschlange sehen. Aus Muße – an den Tagen, an denen man nichts zu tun hat, kann man ja oft das meiste erleben – folgen wir der Schlange, die um zwei weitere Ecken bog. Am Anfang dieser Schlange wollen wir nach ihrem Grund fragen (da am Ende nicht immer alles zu erfahren ist), aber da kommt er schon: Ein Fahrzeugkonvoi mit pickligen Teenie-Stars aus den USA („Hanson“), abgeschirmt von muskulösen Security-Typen. Alle Mädchen (kein Junge, niemand über fünfzehn) rannten kreischend los. Wir konnten uns zum Glück hinter eine Straßensperre retten, einem schmalen Bock aus Holz mit Warnschild, so dass die Herde links und rechts von uns vorbei lief.
8. Mai. Ich glaube, ab Dreißig wird man gar nicht mehr klüger, nur noch gelassener und gerissener.
31. Mai. Zurück aus Wien. Ein Vortrag, ein Interview, einige Besprechungen und viel Zeit für Erkundungen. Lange Straßenbahnfahrten. Die Stadt ist Berlin ähnlich, aber stilistisch geschlossener, eigentlich schöner, auf schöne Art alt. Prag und vielleicht Budapest kommen mir in den Sinn. Spaziergang auf dem Zentralfriedhof, Mozart und Beethoven. Ottakring mit meinem Lieblingsetablissement „Wurscht & Durscht“, Favoriten, wo in einem Heurigen beim „Preisschnapsen“ ein halbes Schwein als Siegprämie ausgelobt wird. Selige Stunden im sonnigen Prater, Schweizerhaus, bei frisch gezapftem Budweiser. Kellner wuchten gigantische Tabletts mit Bierkrügen an die Tische, halten sie mit einer Hand und schreiben mit der anderen Rechnungen. Simmering: eine Zeitreise ins Industriezeitalter, offen zur Schau gestellte Unterschichtzugehörigkeit (Goldketten, Dosenbier) und verbissene Kleinbürgerlichkeit mit Hund. Trostlose Läden, karg möblierte Kneipen, alles frühe Siebziger. Ich stelle mir vor, ich sei nach langjährigem Gefängnisaufenthalt in meine alte Heimat zurückgekehrt und würde mich nun erneut hier umschauen.
15. Juli. Lohn des Wandels: Wir gingen nicht mehr, wir schlenderten, wir machten lange und angenehme Pausen beim Sprechen, wir setzten uns, obwohl wir nicht müde waren, wir betrachteten die Dinge mehrfach, wir hielten an. Dann, erst dann, sahen wir einen blauen Luftballon, der langsam den kleinen Fluss hinab trieb. Jeder Lektor hätte ihn gestrichen, aber er war da. Sicher eine Belohnung.
20. August. Kurische Nehrung in Litauen. Ich wohne mit D. in einem kleinen Holzhäuschen direkt am Haff in Nida. Teilweise fühlt man sich nach Skandinavien versetzt, dunkelrot gestrichene Häuser, Kiefern- und Birkenwäldchen. Dazwischen immer wieder architektonische Ungeschicklichkeiten aus sozialistischer Zeit. Früher machte hier das deutsche Bürgertum Urlaub (Thomas Mann zum Beispiel), dann die russische Nomenklatura, heute wieder Deutsche meist älteren Datums und russische Familien. Letztere baden bei derzeit 17 Grad Wassertemperatur, wenn die Sonne scheint. Auch ältere Frauen machen FKK, ich sehe feiste Weiber mit Bäuchen, die wie Miniröcke oder Fettschürzen den Unterleib verdecken. Wanderungen auf den hohen Dünen und in den Wäldern, ein Lokal lockt den teutonischen Gast mit einer „Kartoffelwurst Helmut Kohl“.
Die verfallene alte Pracht von Klaipeda, vormals Memel. Von dort aus wagen wir uns mit einem Taxi in ein winziges Dorf, wo D. Verwandtschaft hat. Der Besuch auf dem Bauernhof ist wie eine Reise ins 19. Jahrhundert: ein niedriger Bau mit einigen Zimmern nebst außerhäusigem Plumpsklo, ein schnatterndes und gackerndes Sammelsurium von Hühnern, Enten, Gänsen und Truthähnen auf dem Hof, Hund, Katze, Pferd und ein Schweinestall, aus dem unvorstellbare Gerüche dringen, den ich aber aus Höflichkeit gegenüber dem Landwirt besichtige. Wir werden mit Kaffee und Likör, Backwerk, geräuchertem Fisch und Wurst bewirtet. Der alte Bauer spricht noch deutsch, wir übergeben das Geldgeschenk der Familie und unterhalten uns über die Familie und den allgemeinen Gang der Geschichte. Er fragt tatsächlich – und da verschlägt es mir für einen Augenblick die Sprache -, wie der Prozess gegen Marschall Pétain ausgegangen ist (der 1945 auf eine Insel verbannt wurde). Später kutschiert uns seine Adoptivtochter, die nur Russisch kann, in ihrem Opel Kadett-Kombi durch die Gegend. Kugelrund, mit grimmiger Preisboxervisage, Kinder schon in der Pubertät, aber zwei Jahre jünger als ich. Hinter einem Bauernhof, vor dessen Haupthaus ein greises Bauernpärchen wie gemalt mit Kappe und Kopftuch sitzt, ist der kleine Dorffriedhof, von Bäumen umstanden. Wir finden allerdings die Gräber von D.s Großeltern nicht. Was für ein archaisches Leben – und das in Europa. Natürlich kennt man es von Bildern aus Rumänien oder Russland. Wenn man aber für einige Stunden tatsächlich in dieses Leben abtaucht, begreift man erst, wie gewaltig der Sprung in die moderne Gesellschaft, ins Informationszeitalter eigentlich ist. Doch schon die Enkel haben einen Computer …
2. September. Die Verhandlungen mit der Spiegel-Online-Redaktion habe ich erfolglos abgebrochen. Sie suchen einen Wirtschaftsredakteur, aber eher einen Journalisten, der Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen aufbereitet.
Tone Loc – Funky Called Medina. http://www.youtube.com/watch?v=63ZIf2H9S0E

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen