Donnerstag, 9. Oktober 2014

Siegfried Lenz

Gestern ist der Schriftsteller Siegfried Lenz gestorben. Ich habe nie etwas von ihm gelesen und so habe ich mich heute Morgen auf den Weg durch die Zimmer dieses Hauses gemacht, in der mehrere Generationen meiner Familie ihre Bücher hinterlassen haben. Es sind Tausende, fast in jedem Zimmer ein paar Hundert, und tatsächlich habe ich einen Roman von Lenz gefunden: Der Verlust. Es geht um die Urangst des Schriftstellers, die er exemplarisch an seinem Protagonisten abarbeitet, die Angst vor dem Verlust der Sprache, der Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen. Der Roman wurde 1981 veröffentlicht und es fallen mir beim Lesen zwei Dinge auf: Die Sorgfalt der Sprache und der Ernst des Erzählers. Was ich gegenwärtig im Internet lese, ist meistens schlampig und offenbar in großer Eile geschrieben, weder überarbeitet noch durchdacht. Und es ist von einem höhnischen und eiskalten Sarkasmus geprägt, der jede tiefere Bedeutung und jedes menschliche Gefühl gleich in den Dreck ziehen muss. Ich muss lachen, wenn ich den Klappentext lese: „In einer Zeit, die uns ständig mit einem Überangebot an Informationen versorgt, in der aber gleichzeitig die Sprache verarmt, stellt dieser Roman einen Versuch dar, zu ermitteln, auf welch vielfache Weise uns der Verlust der Sprache betrifft.“ 1981! Was sollen wir denn im Jahre 2014, im Internetzeitalter, in der Informationsgesellschaft sagen? Großartig ist schon der erste Satz des Romans: „Es traf ihn unvorbereitet“. Und dann trifft ihn der Schlag, der Protagonist kommt ins Krankenhaus. Mit seiner Familie hat er gebrochen, eine eigene Familie hat er nie gegründet und Freundschaften erweisen sich als brüchig.
Nur wenige Autoren oder Blogger, deren Texte ich lese, besitzen die Kraft und die Tiefe der alten Meister. Wenn sie über den nötigen Ernst verfügen, wagen sie nicht den Schritt aus der Anonymität. Es ist wie in einem Zugabteil auf einer Fernreise: Je weniger wir die anderen Menschen kennen, umso offener können wir über uns selbst sprechen. Und wenn sie über sprachliche Präzision und Beobachtungsgabe verfügen, verharren sie im Episodenhaften, in der autobiographischen Anekdote. Sie nennen zwar ihren Namen, verbergen ihre tiefsten Gedanken aber unter einem Schutzmantel aus Selbstironie und Pointenseligkeit. Ja, es ist wahr: Die Deutschen haben inzwischen Humor. Aber dieser Humor schafft Abstände zwischen uns. Wir haben Angst vor dem Gelächter, wenn wir unser Herz öffnen. Denn es wird über alles nur noch gelacht, mit deutscher Gründlichkeit ziehen wir mittlerweile jedes Thema und jeden Menschen durch den Kakao.
Zum Abschluss noch ein Textbeispiel aus dem Roman von Siegfried Lenz: „In der Gardine wütete eine gefangene Biene. Nora nahm vom Nachtschränkchen ein Papiertaschentuch, lockerte es und brachte es zugleich entschlossen und behutsam über das Insekt, das nicht aufhörte, wütend und in hoher Tonlage zu sirren, während sie es ans Oberlicht hob und in die Freiheit hinausschüttelte.“ Damit erntet man bei einem Poetry-Slam keine Lacher.

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