Sonntag, 12. Oktober 2014

Die Kaffeezeremonie

Es gibt Traditionen und Rituale, die längst in der Vergangenheit versunken sind und die vermutlich mit der letzten Generation, die sie noch praktiziert haben, begraben werden. Die Älteren wollen sich an die Banalität und Peinlichkeit ihrer Kindheit nicht erinnern und nicht an sie erinnert werden. Die Jüngeren sind mit der Entwicklung neuer Rituale befasst, die vermutlich sehr viel mit elektronischen Geräten zu tun haben. Ich will an dieser Stelle Zeugnis ablegen, bevor auch meine Stimme verstummt sein wird, und über die Kaffeezeremonie sprechen. Ähnlich wie die Japaner mit ihrer Teezeremonie haben auch die Deutschen den Genuss eines heißen Getränks zu einem festgelegten Ablauf von Handlungen verfestigt und im Rahmen ihrer Möglichkeiten verfeinert. Ich beziehe mich bei meinen Ausführungen auf die Erinnerungen an meine Großeltern in Klingelbach, einem Ortsteil von Katzenelnbogen im Taunus.
Die Kaffeezeremonie ist zeitlich und räumlich klar definiert. Sie findet immer sonntags nach der Mittagsruhe, die um 15 Uhr endet, und vor dem Abendbrot, das um 18 Uhr beginnt, statt. Meistens zwischen 15:30 Uhr und 17 Uhr, da sich die Gäste ja an den Ort der Zeremonie begeben müssen und rechtzeitig wieder zu Hause sein wollen. Der Ort ist das Wohnzimmer, das auch nur an Sonntagen benutzt wird. Ansonsten findet das familiäre Leben in der Küche statt. Zur Kaffeezeremonie wird man eingeladen, man darf auf gar keinen Fall unangemeldet erscheinen. Eingeladen werden nur enge Verwandte oder langjährige Freunde, die mindestens eine Woche vorher Bescheid wissen. Es versteht sich von selbst, dass auf eine Einladung die Gegeneinladung zu erfolgen hat, so dass sich die Gastgeber der Zeremonie als Teil eines Zirkels begreifen können, innerhalb dessen eng gestecktem Rahmen die Lasten gleich verteilt werden.
Zur Kaffeezeremonie wird das festtägliche Gedeck aufgelegt. Das gute Porzellan sowie die Kuchengabeln und Teelöffel aus dem feinen Besteckkasten, den man zur Hochzeit geschenkt bekommen hat. Eine saubere blütenweiße Tischdecke ziert den Wohnzimmertisch. Schon eine Stunde, bevor die Gäste kommen, steht alles bereit: Die Kuchenteller, die Kaffeetassen, die Untertassen, auf denen die Teelöffel liegen, die Kuchengabeln, die beiden Kuchen auf den Kuchenplatten, die Dose mit den Zuckerwürfeln und einer Zuckerzange, das Kännchen mit Kaffeesahne von Bärenmarke, die Vase mit den Schnittblumen, das Stövchen für die Kaffeekanne. Aus folgendem Sortiment wird der sonntägliche Kuchen ausgewählt: Streuselkuchen, Käsekuchen, Pflaumenkuchen oder Erdbeerkuchen. Es werden am Samstag beim Bäcker immer zwei verschiedene Kuchen gekauft und am Sonntag angeschnitten. Die Reste dürfen wir Kinder am Sonntagabend mitnehmen, wenn wir von den Großeltern wieder nach Hause fahren. An Sonntagen ohne Gäste gibt es nur den selbstgebackenen rechteckigen Kastenkuchen, den die Großmutter am Sonntagmorgen in den Ofen schiebt. Der Filterkaffee ist um 15:30 Uhr fertig, wenn die Gäste eintreffen.
Alle sind an diesem Tag in ihren Anzügen und Kleidern erschienen, die dem Sonntag oder Hochzeiten und Familienfeiern vorbehalten sind. Die Männer sind glattrasiert und haben Pomade im sorgfältig gescheitelten Haar. Sie tragen dunkle Anzüge und ihren einzigen Schlips, dazu ihre auf Hochglanz polierten schwarzen Sonntagsschuhe, die ein Leben lang halten werden. Die Frauen haben lange Kleider an, die mit Blumenmustern bedruckt sind. Sie tragen ihre Lieblingsbrosche, eine Halskette und Ohrringe. All die schönen Dinge, die während der Arbeitswoche sorgsam in Schubladen und Schmuckkästchen verborgen werden. Auch wir Kinder sind herausgeputzt, die Sauberkeit der Fingernägel, Ohr- und Nasenlöcher wurde mehrfach kontrolliert. Alle setzten sich an den Tisch und die Großmutter geht mit der Kaffeekanne reihum und schenkt Kaffee in die Tassen. Wir Kinder bekommen Orangenlimonade. Während sich die Erwachsenen unterhalten, den Kuchen und den Kaffee loben, sind wir Kinder ganz artig. Wir sitzen still und schweigen brav wie im Gottesdienst, essen den köstlichen Kuchen, während wir den Erwachsenen zuhören oder dem ungeduldigen Summen der Stubenfliegen hinter der Gardine am Wohnzimmerfenster.
Die Männer haben ernste und harte Gesichter. Sie sind im Krieg gewesen, einige haben in Gefangenschaft gelebt und an mancher Hand, die zur Kaffeetasse greift, fehlen Finger. Die Frauen haben ihre eigenen Tragödien erlebt, meine Großmutter hat bei einem Unfall schon als junges Mädchen ein Auge verloren und musste eines ihrer Kinder, es war kaum drei Jahre alt, zu Grabe tragen. Allen gemeinsam ist die Erfahrung von Trennung und Hunger. Aber an diesem Nachmittag genießen sie die Heiterkeit und die Harmonie einer Mahlzeit, die im Gegensatz zu Frühstück, Mittagessen und Abendbrot nur am Sonntag eingenommen wird, die keinen profanen Zweck erfüllt und an deren Ende auch keine Arbeit wartet. Wir Kinder wissen, dass diese Kaffeezeremonie für die ganze Familie sehr wichtig ist. Nächsten Sonntag sind wir bei Tante Monika und Onkel Wolfgang eingeladen und es wird wieder genauso sein. Wir dachten, es ginge ewig so weiter, aber heute ist diese Tradition erloschen. Was uns damals als selbstverständlich erschien und einem bestimmten Augenblick des Wochenablaufs seine Bedeutung verlieh, wirkt aus dem kalten Blickwinkel des unbarmherzigen Sarkasmus unserer Zeit nur noch spießig und verachtenswert.
Nat King Cole - When I Take My Sugar To Tea. http://www.youtube.com/watch?v=IiKahFReNOY

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