Freitag, 24. Oktober 2014

Memory Lane 2

Hier eine Passage aus meinem Roman „Rheinkind“, in dem dieser alte Freund verewigt ist:
Er verließ den Schulhof und ging zu seinem Rad. Mit dem Ranzen auf dem Gepäckträger fuhr er zum nahen Bahnhof. Links vor dem Säulenportal des Gebäudes stand eine Imbissbude in Form eines Fliegenpilzes. Hier belohnte sich der Junge für sein Zeugnis mit Pommes frites, die er mit einem gelben Plastikgäbelchen aus einer spitzen Papiertüte herausfischte. Oben hatte man immer ganz viel Mayo und unten ganz viel Salz. Seine Mutter hatte ihm extra drei Mark zum Essen mitgegeben, die Mark für die Cola sparte er sich. Er würde zu Hause Wasser trinken und sich nächste Woche lieber das neue MAD-Heft im Laden der Benders kaufen.
Als er vor der Bude stand und gerade versuchte, die harten braunen Brösel aus der letzten Ecke der Tüte zu bekommen, stand plötzlich Jan vor ihm. Jan, ein alter Freund aus seiner Grundschulzeit. Er erinnerte sich an frühere Zeiten, in denen er mit seinen alten Freunden durch die Felder gestreift, heimlich Feuer gelegt und Fußball gespielt hatte.
„Der Zirkus ist da“, rief ihm Jan freudestrahlend zu.
„Echt?“ fragte der Junge überflüssigerweise. Er warf die Papiertüte in den Mülleimer und stieg auf sein Rad.
Sie fuhren, so schnell sie konnten, an den Gleisen entlang, durch die Unterführung und durch das Werksgelände der Firma. In Ingelheim-West gab es an der Veit-Stoss-Straße ein großes Mietshaus mit fünf Stockwerken, das jeder nur „das blaue Haus“ nannte. In diesem Haus wohnte Jan mit seiner Familie. Der Vater war schrecklich, er schrie seine Kinder oft an und schlug sie. Nördlich der großen Wohnanlage waren Wiesen und Felder bis zur Autobahn. Und genau hier, an der Matthias-Grünewald-Straße, war jeden Sommer ein Wanderzirkus.
Als sie endlich ankamen, waren schon einige andere Kinder da. Sie standen neugierig um die drei Holzwagen herum, die einen Kreis um ein Stück Wiese bildeten. Der Zirkus war nicht groß. Eigentlich war es nur eine einzige Familie, wie es schien. Die Erwachsenen saßen auf Holzkisten an der Feuerstelle und sprachen in einer unbekannten Sprache miteinander. Ein Mädchen balancierte mit einer Stange auf einem Seil, dass nur eine Handbreit über dem Boden zwischen zwei Pfosten aufgespannt war. Ein anderes Mädchen saß auf einem großen weißen Pferd, das von einem Jungen in zu kurzen Hosen im Kreis geführt wurde. In einem der Wagen waren ein paar Rhesusaffen mit Halsbändern angekettet. Ein barfüßiges Kind fütterte sie gerade mit Obst und Brot.
Der Junge und sein alter Freund traten näher. Hier fühlte er sich immer wohl. Nur schade, dass er morgen schon wieder zu seinen Großeltern fahren musste. Aber seine Mutter konnte nicht für die ganzen Sommerferien Urlaub beantragen, er wusste es und widersprach auch nicht. Früher hatte er sich jeden Nachmittag beim Zirkus herumgetrieben, wenn er in der Stadt war. Und er war immer traurig, wenn der Wanderzirkus eines Tages verschwunden war. Affen, Pferde und ein paar Kunststücke – die Aufführungen waren langweilig, aber die vertrödelte Zeit nach der Schule war herrlich gewesen. Und die Erwachsenen waren auf unerklärliche Weise freundlich zu den Kindern und nahmen sich für alles Zeit, so als ob sie Millionäre wären.
Einmal hatte eine alte Frau dem Jungen sogar aus der Hand gelesen. Sie hatte ihn angelächelt, ein Gesicht voller Falten und Zahnlücken, und dann gesagt, seine Lebenslinie sei sehr lang und stark, er hätte eine starke Gesundheit und einen festen Willen. Die Kopflinie weise auf Klugheit und Phantasie hin. Allerdings sei die Herzlinie unterbrochen und die Schicksalslinie nur kurz, was auf wenig Erfolg in Liebe und Beruf hindeute. Aber am Ende seines Lebens würde sich alles zum Guten gewendet haben. Der Junge hatte es nicht vergessen.
Als er den Zirkuskindern zusah, die sich die Affen auf die Schultern setzten, erinnerte er sich auch an das angeblich zahme Kaninchen, das er auf dieser Wiese vor ein paar Jahren gefangen und mit nach Hause gebracht hatte. Man konnte diese wilden Tiere streicheln und in den Arm nehmen. Es schien wie im Paradies, aber in Wahrheit sind sie blind und hilflos gewesen, todgeweihte Kuscheltiere. Seine Mutter hatte nur entsetzt den Kopf geschüttelt, als er es damals in die Wohnung trug. Das Kaninchen hatte eine Krankheit namens Myxomatose gehabt und war kurz darauf verstorben. Er hatte lange getrauert, war aber auch für einen kurzen Augenblick glücklich gewesen, so tiefe Trauer empfinden zu können.
Van Halen- Runnin' with the devil. http://www.youtube.com/watch?v=Bl4dEAtxo0M

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