Montag, 5. September 2022

Die große Freiheit

 

1985. Markus und Torsten hatten gerade erst ihr Abitur gemacht und beschlossen eines Abends, nach West-Berlin zu ziehen. Raus aus dem Kinderzimmer, rein in die Großstadt. Natürlich Kreuzberg. SO 36. Von dieser Gegend hatten sie schon viel Gutes gehört.

Als sie ihr Dorf im Westerwald schließlich verließen, hatten sie ihren Familien versprechen müssen, nicht in ein besetztes Haus zu ziehen. Ihre Eltern hatten ihnen eine kleine, günstige Altbauwohnung im Wrangelkiez gemietet. Sie hatten allen erzählt, sie würden in Berlin studieren. In Wirklichkeit wollten sie endlich ihren großen Traum ausleben und vor allem nicht zur Bundeswehr. Die Wohnung bezahlten die Eltern und beide hatten fünfhundert Mark von ihren Sparbüchern abgehoben. Später wollten sie sich Jobs suchen.

Sie packten ihre Klamotten in zwei Sporttaschen und fuhren mit dem Zug ohne Rückfahrkarte zum Bahnhof Zoo. Ihre Eltern schickten ihnen per Spedition zwei Matratzen, einen Karton mit Bettzeug, einen Küchentisch und vier Holzstühle hinterher. Den Rest wollten sie sich in Berlin besorgen.

Endlich konnte Markus Punk werden. Das hatte er sich in seinem Dorf nicht getraut. Er ging zu einem Friseur und ließ sich einen Irokesen schneiden. Der Friseur erklärte ihm auch, wie man ihn senkrecht hält. Dann kaufte er sich in einem Szeneladen die entsprechenden Klamotten und Doc Martens. Im Herbst würde er sich tätowieren lassen, vielleicht einen fixenden Calimero, den hatte er bei einem Typen am Kotti gesehen, und sich im Secondhandladen eine Lederjacke kaufen. Nach einer Woche hatte er sein Aussehen so verändert, dass ihn seine eigene Mutter nicht wiedererkannt hätte.

Bei Torsten war es schwieriger. Er wollte Freak werden. Aber es dauerte eine Zeit, bis man lange Haare hatte, und für seinen Bundeswehrparka war es zu heiß. Also lief er wenigstens barfuß durch die Straßen. Nachdem er das erste Mal in einen riesigen Haufen Bernhardinerscheiße getreten war, änderte er seine Strategie und kaufte sich Batik-Shirts.

Es war nicht einfach, einen Job zu finden. Sie konnten beide nichts und hatten keinerlei Berufserfahrung. Taxischein klappte nicht. Sie konnten sich die vielen Straßen nicht merken. Manche Straßennamen gab es mehrfach. Warum gab es in Berlin so viele Berliner Straßen? Für die Arbeit auf einer Baustelle waren sie zu schwach und im Supermarkt konnte man niemanden mit Iro brauchen.

Die Lage entspannte sich, als sie Benno kennenlernten. Er verkaufte Dope an der Uni, wo er Philosophie studierte. Benno suchte eine neue WG, war erfreut, keine Miete zahlen zu müssen und versorgte den Haushalt großzügig mit Haschisch und ging regelmäßig einkaufen. Markus und Torsten hatten den alten Herd in der Küche nie benutzt und sich von Döner, Pommes, Chips und Dosenbier ernährt. Jetzt gab es Nudeln mit Tomatensoße und Tiefkühlpizza. Außerdem brachte er als Mitgift eine Stereoanlage und seine Plattensammlung mit, so dass in der WG endlich Partys gefeiert werden konnten. On top gab es zwei Kisten mit Taschenbüchern, hauptsächlich Science-Fiction, aber auch ein bisschen Horror.

Benno kam aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald. Er war schon seit einem Jahr in Berlin. Er hatte lange blonde Haare und trug eine John-Lennon-Brille. Seine Secondhandklamotten saßen so schlecht, dass man dachte, er hätte sie gerade von einer Wäscheleine geklaut. Sie hatten alle keine Ahnung vom Großstadtleben, aber sie waren keine Dorftrottel, sondern ein Punk, ein Freak und ein Kiffer.

Oliver aus Cuxhaven zog einen Monat später ein. Er war ein Punk und lebte auf der Straße. Markus und Torsten hatten ihn im Intertank in der Manteuffelstraße kennengelernt. Oliver war Spezialist im Fünf-Finger-Discount. Er klaute wie ein Rabe und so hatten sie immer genug Zigaretten, edlen Whisky und Klamotten. Offiziell studierte er seit vier Semestern Politikwissenschaft, aber eigentlich wartete er auf die Revolution. Er kannte die richtigen Leute und die richtigen Kneipen, Markus und Torsten wurden in Windeseile Teil der Szene und begeisterte Anarchisten.

Alles in allem ein guter Start. So ließ es sich leben, so konnte es weitergehen und so ging es auch weiter.

Keine Ahnung, was aus Benno und Oliver geworden ist, aber Markus ist heute Bauunternehmer. Er lebt mit seiner Frau und den Kindern in Montabaur. Torsten arbeitet als Studienrat in einem Gymnasium in Koblenz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen