Freitag, 8. Juli 2022

Es ist zu spät

 

Pünktlichkeit gehört zum Zwangscharakter des Deutschen. Mit Unpünktlichkeit kann er nicht umgehen. Sie macht ihn nervös. Wenig später aggressiv. Unpünktlichkeit ist ein Zivilisationsbruch. Der Zug hat Verspätung. Das darf nicht sein. Das ist Anarchie. Was kommt als nächstes? Der Maoismus?

Ordnung gibt dem Deutschen Halt. Ordnung sorgt für Sicherheit. Wenn etwas zum geplanten Zeitpunkt passiert, ist es in Ordnung. Egal was. Hauptsache pünktlich. Punktgenau. Es darf nichts verändert werden. Sonst ändert sich alles. Sonst ist alles verloren. Auch bei fünfzig Grad im Abteil trägt man einen grauen Anzug und Schlips. Der Deutsche weiß, in welcher Schreibtischschublade sein Bausparvertrag liegt. Die Kinder haben Seitenscheitel.

In Afrika habe ich viel über Pünktlichkeit gelernt. Am Busbahnhof in Nairobi, einer Wiese ohne Beschilderung, habe ich mal einen Busfahrer gefragt, wann er losfahren würde. Er tat so, als würde er auf die Uhr schauen. Aber er trug keine Armbanduhr. Er lachte und zeigte mir vier Finger. Also um vier Uhr, dachte ich. Es war zehn Uhr morgens. Später erfuhr ich, dass die Busse in Afrika losfahren, wenn sie voll sind. Sonst lohnt es sich ja nicht. Ein Fahrplan wäre also völlig ineffektiv.

Als ich im Frühling nach Berlin gefahren bin, hatte der Zug fast eine Stunde Verspätung. Es war mir völlig egal. Ich saß an einem Vierertisch, neben mir ein Rentnerpaar aus Brandenburg. Wir plauderten stundenlang, teilten Kekse und Erinnerungen. Sie hatten gerade ihre Tochter in Boston besucht. Am Ende kannte ich ihre ganze Familie und hatte die Bilder ihrer Reise auf dem Handy gesehen. Es war uns völlig egal, ob der Zug Verspätung hatte.

Verspätungen und Umwege bieten die besten Gelegenheiten. An sie erinnert man sich noch lange. Länger als an pünktliche Ankünfte. Man kommt ins Gespräch, wenn man mit anderen Menschen irgendwo gestrandet ist. Der Triebkopfschaden wird zum Erlebnis. Ich bin mal wenige hundert Meter vor einem Bahnhof liegengeblieben. Ich hatte einen wichtigen Termin. Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung. Wegen der Verspätung sprach ich als letzter. Es hatte den Vorteil, dass ich die anderen Vorträge nicht anhören musste. Ich bin direkt nach meinem Auftritt zurück nach Berlin gefahren. Es ist doch besser, mit einer guten Ausrede gemütlich im Zug zu sitzen, als sich das Gelaber anderer Leute anhören zu müssen.

Lethargie, völlige Gleichgültigkeit. Das ist die beste Strategie für ein entspanntes Leben. Gesund für Geist und Körper. Warum regen wir uns auf? Warum ist uns nicht einfach alles scheißegal? Muss ich jedes Mal wie das HB-Männchen in die Luft gehen, wenn der Zug Verspätung hat? Wenn ich eine Minute länger an der Supermarktkasse stehe? Wenn der Wagen vor mir nicht in einer Nanosekunde von null auf hundert beschleunigt, wenn die Ampel grün ist? Wenn vor dem Spielfilm noch ein ARD-Brennpunkt kommt? Was bringen mir Empörung und Wut? Es ist nicht leicht, ein Deutscher zu sein.

 

6 Kommentare:

  1. ... schreibt einer im vorzeitigen Ruhestand ...

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. :o)))

      Sie schwitzen wahrscheinlich gerade in Ihrem Büro, oder?

      Löschen
    2. P.S.: Ich bin nicht im Ruhestand, ich bekomme keine Rente. Ich bin Privatier. Das ist ein großer Unterschied. In die Rentenkasse habe ich praktisch nichts eingezahlt.

      Löschen
  2. Vor Jahren stieg ich in Berlin in den falschen Zugteil und als ich meinen Platz später einnehmen wollte, war der natürlich schon weg. Also (im total überfüllten ICE) ins Bordbistro. Dort rückte ein junger Mann für mich zur Seite und wir hatten mit den anderen Mitfahrenden eine schöne Zeit: Der junge Mann machte eine Ausbildung zum Waldorf-Lehrer und ein älterer Mann hatte in seinem Ort die Waldorf-Schule mitbegründet (eigentlich halte ich überhaupt nichts von Steinerei, aber da hielt ich mal meinen Mund). Ein junger Bursche fuhr nach seiner ersten Woche Studium nach Hause. In Hannover ging es nicht mehr weiter. Viele Mitreisende stürmten raus, weil angeblich ein anderer ICE bald losfahren sollte. Wir blieben einfach im Bordbistro: Wir hatten Gesellschaft, Bier und das Klo funktionierte auch noch.

    Eine schöne Erinnerung.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Im letzten Herbst habe ich mich von Frankfurt bis Erfurt mit einer Lehrerin aus dem Ahrtal unterhalten. Das war aufschlussreicher als jeder ARD-Brennpunkt.

      Löschen
  3. In São Paulo fahren Busse und Züge in gewissen Zeitabständen. Fahrplan Fehlanzeige. "Der müsste gleich kommen". Ist dann auch so. Weshalb in Deutschland irgendein Tingelbus auf ausgehängtem Papier bis auf die Minute genau ausgewiesen wird, bleibt mir ein Rätsel. Abfahrt 7:31, im Ernst? Einen eleganten Kompromiss gibt's in Frankreich. Ab 7 Uhr alle 20 Minuten. Geht auch.

    AntwortenLöschen