Montag, 25. Juli 2022

Hartz IV

 

Im Nachhinein blicke ich gerne auf meine Zeit als Hartz IV-Empfänger zurück. Endlich vom Joch der Erwerbsarbeit befreit. Keine Termine, keine Verpflichtungen, kein Stress. Ich hatte den ganzen Tag Zeit. Ich nutzte diese Zeit, um einen alten Traum zu verwirklichen. Endlich hatte ich die Muße und die notwendige Energie, um Romane und Kurzgeschichten zu schreiben. Zu schreiben, was ich wirklich wollte.

Das Job-Center ließ mich in Ruhe. Ich hatte mich verpflichtet, fünf Bewerbungen pro Monat zu schreiben. Man musste auf einem Formular die Namen der fünf Firmen angeben, bei denen man sich beworben hatte. Ich suchte also aus dem Online-Stellenmarkt fünf Firmen aus und schrieb ihre Adressen ab. Bewerbungen habe ich nie verschickt, aber es gab fünf Euro pro Bewerbung vom Amt, also 25 Euro im Monat extra. Die Faulpelze haben das doch sowieso nicht kontrolliert. Einmal im Jahr schickten sie mich zu einem Bewerbungsgespräch. Ich ging in Jeans und T-Shirt hin, sagte kurz nach der Begrüßung, dass mich das Job-Center schicken würde und konnte wieder gehen. Es hat seine Vorteile, wenn man ein Aussätziger ist.

Natürlich bedeutet Hartz IV Verzicht. Keine Besuche in Kneipen und Restaurants, kein Kino, kein Theater, kein Konzert. Aber das hat auch seine Vorteile. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört, ich führte ein ökologisch vorbildliches Leben, da ich mir keine Reisen leisten konnte. Ich lernte, Dinge zu schätzen, die umsonst sind. Ich ging viel spazieren und lernte so allmählich Berlin kennen. Manchmal über zwanzig Kilometer am Tag. Ein Halbmarathon, aber als Flaneur und nicht als bemitleidenswerter Ehrgeizling, verstrahlter Askese-Mongo und lächerlicher Selbstoptimierer in teuren Sportklamotten. Die Rundfunkgebühren zahlte das Amt, als Arbeitsloser musste man in der Stadtteilbibliothek nichts bezahlen. Ich las viel, konnte kostenlos TV und Radio nutzen, ich hatte meine Plattensammlung und meine Stereoanlage.

Die Lebensmittel vom Discounter waren unglaublich billig. Ein Toastbrot kostete fünfzig Cent. Ein Toastbrot besteht aus zwanzig Scheiben. 2,5 Cent pro Scheibe Brot, dazu Margarine, Marmelade und Wurst. Konserven waren spottbillig. Ravioli o muerte. Ich lernte, dass Leitungswasser so gut wie Perrier schmeckt. Eine Flasche Wein kostete damals bei Aldi weniger als zwei Euro. Eine Jeans bei Kik neun Euro, ein T-Shirt zwei Euro.

Noch ein Vorteil: Wenn du arm bist, lassen dich die Frauen in Ruhe. Vertreter können dir nichts aufschwatzen, du kaufst kein überflüssiges Zeug. Endlich erkennst du deine wahren Bedürfnisse, in meinem Fall Lesen, Schreiben, Musik, Freunde (auch kostenlos), Essen und Trinken. Das Leben kann sehr einfach sein, wenn man sich auf die Basics konzentriert. So lebe ich heute auch noch.

P.S.: Nach meiner Zeit mit Hartz IV kam der Teilzeitjob als Kiezschreiber. 1500 € brutto = 1070 € netto im Monat. Wäre ich damals Mieter, Autofahrer, Raucher und Hundebesitzer gewesen, hätte ich wieder auf Sozialhilfeniveau gelebt. Aber ich habe mich mit 900 €, die tatsächlich in meiner Brieftasche gelandet sind, nicht arm gefühlt.

Wenn Arbeitslose einfach glücklich sind - taz.de

1 Kommentar:

  1. "Frohes Schaffen"

    https://www.youtube.com/watch?v=hpdzXUqpW5A

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