Samstag, 30. November 2024

Die Geschichte meiner Wohnung


Mein Name ist Florian Käswemser. Ich lebe jetzt seit drei Jahren in dieser Altbauwohnung in Charlottenburg. Man betritt zuerst ein riesiges Berliner Zimmer, einen fensterlosen Raum ohne klar definierte Funktion. Diese Raumaufteilung kenne ich von amerikanischen Apartments und tschechischen Arbeiterwohnungen, wo man direkt in eine Wohnküche kommt. Ich nutze den Raum als Bibliothek, als Küche sowie als Ess- und Trinkzimmer. Nach links geht es in einen Flur, von dem drei Räume abzweigen: Schlafzimmer, Badezimmer und Gästezimmer/Abstellkammer. Nach rechts kommt man in einen großen hellen Raum, den ich als Wohn- und Arbeitszimmer nutze.

Aufgrund meiner guten Beziehungen zum Einwohnermeldeamt konnte ich recherchieren, wer hier früher gelebt hat.

Nach Fertigstellung des Hauses 1890 lebte hier bis 1918 ein Angestellter der Dresdner Bank mit seiner Familie.

Von 1918 bis 1930 wohnte hier ein Vorarbeiter der AEG mit Frau und Kind. Er verlor in der Weltwirtschaftskrise seinen Job und konnte sich die Wohnung nicht mehr leisten.

Dann zog ein jüdischer Rechtsanwalt mit seiner Familie ein. Sie wurden alle 1943 in ein KZ deportiert.

Anschließend lebte hier die ausgebombte Frau eines Wehrmachtsoffiziers mit ihren beiden Kindern. Sie freute sich über die schön möblierte Wohnung im Biedermeierstil. Nachdem ihre Kinder ausgezogen und nach Westdeutschland gegangen waren, lebte die Kriegerwitwe noch bis zu ihrem Tod 1967 in diesen Räumen.

Von 1967 bis 1975 war die Wohnung eine Studenten-WG.

Von 1975 bis 1988 lebte hier ein lesbisches Paar aus Stuttgart.

Von 1988 bis 2007 wohnten hier ein Grundschullehrer und eine Krankenschwester. Nach der Luxussanierung konnten sich das Paar die Miete nicht mehr leisten und zog in den Wedding.

Von 2007 bis 2021 nutzte ein FDP-Politiker die Wohnung. Seine Frau und seine Kinder, die er nur am Wochenende sah, blieben in ihrem Reihenhaus in Düsseldorf. Nachdem er seine Bundestagsmandat verloren hatte, ging der Politiker zurück in seine Heimat.

Jetzt wohne ich hier. Wer wird mein Nachfolger sein?

 

2 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Das Haus ist mein und doch nicht mein.
      Die nach mir kommen, denen wird es auch nicht sein.
      Gesehen an einem Winzerhaus an der Unstrut
      .

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