Samstag, 29. Oktober 2022

Das Zeitalter der Defensive


Ich bin vor einem halben Jahrhundert eingeschult worden. 1972 glaubten die Menschen noch an den Fortschritt. Und wenn man unser Leben über diese Distanz betrachtet, hat es auch Fortschritte gegeben. Sei es in der Medizin oder der Akzeptanz von Homosexualität. Aber auch in vielen kleinen Dingen. Damals hatte man noch ein Radio und einen Plattenspieler, Schallplatten waren teuer. Heute habe ich über das Internet alle Musik der Welt, ich kann kostenlos jede Platte hören, auf die ich gerade Lust habe. Oder nehmen wir mal die Kulinarik. Ich habe als Kind in meinem Tagebuch akribisch jedes Mittagessen notiert. Mann, war das öde! Heute kann ich Gerichte im Restaurant oder über einen Lieferdienst bestellen, die ich damals gar nicht kannte. Nudeln mit Tomatensoße? Nicht, wenn ich Tandoori-Chicken bekommen kann.

Wählt man einen kürzeren Zeitraum zur Betrachtung, sagen wir fünf oder zehn Jahre, findet längst kein Fortschritt mehr statt. Es sind marginale Verbesserungen, aber nichts, was uns begeistern würde. Ganz im Gegenteil: Wir sind in die Defensive geraten. Und die meisten von uns wollen es nicht wahrhaben. Wir sollten längst eine Abwehrschlacht gegen die Klimakatastrophe führen, aber wir tun es nicht. Unser Wohlstand wächst nicht mehr, Abstiegsängste und Armut sind ein tägliches Gesprächsthema geworden. Unser Frieden ist in Gefahr. Neue Krankheiten wie Corona bedrohen unsere Gesundheit. Die Gesellschaft zerfällt, die Demokratieverachtung steigt. Die Infrastruktur geht den berühmten Bachrunter, die Wirtschaft stagniert. Überall bröckelt und bröselt es, sozial, ökonomisch und politisch. Wir reparieren einige Stellen, bauen aber nichts neu auf. Kein Aufbruch, nirgends - nur Passivität und Melancholie.




2 Kommentare:

  1. Stimmt. Aber es gibt durchaus noch Fortschritt, aber in einer Form, die den meisten Nutzern keinen Mehrwert mehr bringt. Nehmen wir Fahrradtechnik, da kenn ich mich aus.
    Carbonrahmen, supergeil, in 10 Jahren Sondermüll. Plastik ! Und höllenteuer.
    Scheibenbremsen, tolle Bremswirkung aber wartungsintensiv, jedes Jahr neue Beläge und teuer.
    Schaltung mit 12 Gängen hinten, Eddy Merx fuhr noch mit 5, Pantani schon mit 7.
    Tolle Sache, hält aber nur noch 1/3 der Zeit weil alles dünner und leichter wurde. Und die Ersatzeile, Kettenräder und Kette, sind, Sie ahnen es, um ein vielfaches teurer.
    Schaltung jetzt elektrisch, man muß eben vor jeder Fahrt die Akkus checken oder daheim bleiben.
    Fortschritt ja, für den Profi und Nerd, der das nötige Kleingeld hat weil alles, ääh, ja, genau.
    Mir macht mein alter Stahlrenner immer noch Spaß, ich fahre keine Rennen.
    Gut, so ein modernes Carbonteil mit allem neuen Schnickschnack ist schon der Hammer, auch schon gefahren, trotzdem, brauch ich das ???
    Wie ist also Fortschritt jetzt zu definieren ????
    Nehmen wir Cannabis, heutzutage mega stark, Stichwort Gen-Gras.
    So stark, daß es den jungen Konsumenten, oft noch Kinder, die Synapsen verbiegt und Sie verblöden und psychische Wracks werden. Fortschritt ??? Per Definition ja.
    Also ich rauch das Zeug schon lange nicht mehr, sonst Nervenklinik.
    So gesehen für mich ein Fortschritt. Verzicht, der neue Fortschritt ?

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    1. Fahrräder und Gras ... - du machst mir wieder Hoffnung ;o)

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